Politische Berichte Nr. 1/2021 (PDF)03
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Schwere Zeiten: EU-Nachbarstaat Großbritannien

Eva Detscher, Karlsruhe

01 Info zum Vertrag

Die meisten – bis auf die völlig fanatisierten Brexiteers – waren erleichtert, dass mit dem EU-UK-Handels- und Kooperationsabkommen ein No-Deal-Szenario verhindert worden war. Der Weg von 2015 bis heute, als der damalige Premierminister von UK (des Vereinigten Königreiches und Nordirlands) den falschen Weg des Referendums über den Verbleib von UK in der EU eingeschlagen hat, bis zur Vereinbarung am 24.12.2020 war steinig. Mit 31.1.2020 war die Scheidung vollzogen, zum 1.1.2021 trat das Abkommen als eine Art Scheidungsfolgevertrag zwischen EU und UK vorläufig in Kraft. Es fehlt noch die Zustimmung des EU-Parlaments (EP). Nach gründlicher Prüfung im EU-Handelsausschuss und im EU-Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten soll Ende Februar, Anfang März die Abstimmung im EP erfolgen.

Auch wenn die wirtschaftliche Bedeutung des Fischereisektors marginal ist, war sie doch sowohl für die britische wie auch für einige Länder auf der EU-Seite (Frankreich, Dänemark, Spanien z.B.) symbolisch sehr wichtig, und hat alle Seiten erst mal beruhigt. Die ersten sechs Wochen unter den Vertragsbedingungen waren allerdings für die Fischer in UK sehr ernüchternd: der Verkauf ihres Fangs in die EU – zuvor 80 % – funktioniert nicht mehr. Die Zeitungen berichten laufend darüber, dass etliche der Fischer inzwischen ihre Brexitstimme gerne wieder zurücknehmen würden.

Mit den Festlegungen des Vertrags verpflichten sich beide Seiten zur – engen – Zusammenarbeit. Also wird die EU gezwungen sein, sich mit den Angelegenheiten des – jetzt –Drittlandes UK zu befassen, genauso wie UK gezwungen sein wird, sich mit den Angelegenheiten der EU zu befassen. Dass in London im Januar gleich mal dem EU-Botschafter in London, Joao Vale de Almeida, der volle Diplomatenstatus verweigert wurde, war ein unfreundlicher Akt, wenn auch in der Logik der britischen Regierung: es muss den Anschein haben, als wäre man weit weg von allem, was mit der EU zusammenhängt.

Dass es nicht so ist, sich UK ganz im Gegenteil darauf verpflichtet hat, nicht hinter die jetzt geltenden Standards zurückzufallen und sie damit faktisch EU-Recht anerkennen, hängt die Johnson-Regierung natürlich nicht an die große Glocke. Spannungen sind hier vorprogrammiert – die Einigung auf Schiedsgerichte mit Sanktionierungsrecht ist als Regelung für den Streitfall von beiden Seiten unterschrieben.

Die EU hat mit UK etwas verloren, für das es keinen Ersatz gibt. Die hervorragende Vernetzung von UK hat der EU in der ganzen Welt Anerkennung verschafft. Manch einer innerhalb der EU vergisst, dass UK mit den vier englisch-sprachigen Nationen UK, USA, Australien und Neuseeland enge Beziehungen hat, die es jetzt vertiefen will, und dass es den Commenwealth of Nations mit 54 Mitgliedsstaaten (u.a. auch Indien) als losen Staatenbund gibt und das Sekretariat davon in London sitzt.

Allerdings hilft das alles nicht viel bei dem Problem, das der Brexit für die Zustimmung zur Vereinigung der vier Landesteile von Großbritannien und Nordirland hervorgerufen hat. Auf die Frage: fühlen Sie sich zuerst britisch oder zuerst englisch (walisisch, irisch oder schottisch) antworten heute deutlich weniger so, dass sie sich in erster Linie als Briten fühlten. Wenn dann auch noch von den Wahlversprechen (zu den Wahlen im Dezember 2019) für Investitionen in die nordenglischen Industriegebiete und die walisischen Regionen zu wenig übrigbleibt, könnte es eng werden. Von dem schottischen Landesteil, der 2015 im Referendum bei UK bleiben wollte, weil er Teil der EU bleiben wollte, wird immer lauter von „Unabhängigkeit“ und „eigener Mitgliedsschaft in der EU“ geträumt. Und ganz besonders brisant ist die Lage mit der irischen Insel: Theresa May wurde in den drei Jahren ihrer Zeit als Premier vom Parlament (Tory-Mehrheit) verpflichtet, niemals einer Zollgrenze, die zwischen der britischen und der irischen Insel, also in der Irischen See, verläuft, zuzustimmen. Johnson hat mit der Unterzeichnung des Nord-Irland-Protokolls die irische Insel praktisch vereint und in gewissem Sinne abgespalten vom Rest Großbritannien. Dieses Pokern mit dem Karfreitagsabkommen und der Loyalität der britischen Bürger Nordirlands birgt gewaltiges politisches Potenzial für allerlei Unschönes. Leider hat es schon begonnen mit Bedrohung von Zollbeamten, was zum Rückzug sowohl der britischen als auch der EU-Beamten geführt hat. Und ein voreiliges, wenn auch später bereutes, Vorpreschen der EU, doch eine harte Grenze auf der Insel wegen der Impfstoffe zu etablieren, zeigt, unter welcher Spannung die Situation an dieser Nahtstelle EU-UK ist.

Trotz all dieser komplizierten Voraussetzungen, ist ein Funktionieren des Vertrags erkennbar, und solange beide Seiten Interesse am Beseitigen von Hindernissen haben, kann sich ein Verhältnis entwickeln, wie es die EU auch mit anderen Nachbarstaaten hat. Dass am Ende die Zeit so knapp war, so dass nur dieser Vertrag geschlossen werden konnte (mit der Schweiz z.B. sind es acht Verträge), sollte nicht verhindern, auch die anderen offenen Fragen in Vertragsform zu bringen.

Wie in allen anderen Ländern war das letzte Jahr in UK geprägt von dem Kampf gegen den Sars-Cov-2-Virus. Jochen Buchsteiner von der FAZ nennt es das Zusammentreffen von zwei Jahrhundertereignissen: Brexit und Pandemie, was sich gegenseitig hochschaukelt. Der kilometerlange Stau von LKWs vor Dover im Dezember – pandemiebedingt – war ein Fanal, das rückgewirkt hat auf die Bereitschaft, einen Vertrag über die Folgen des Brexits zu unterzeichnen. Die Wirkungen des Brexits auf das Wirtschaftsgeschehen in UK zeichnen sich als tiefe Einschnitte in die gewachsenen Strukturen: Klagen kommen aus allen Branchen, ganz besonders aber von denjenigen, die auf dem freien Personenverkehr beruhen wie die Musikbranche oder von denjenigen, die auf dem freien Verkehr bei den Finanzdienstleistungen beruhen. Transport, Zulieferindustrie, Medizinprodukteherstellung und -handel, Lebensmittelim- und -exporte – die Liste erstreckt sich über alle wirtschaftlichen Tätigkeiten. Von der britischen Regierung, die ihr Heil in bilateralen Verträgen und Beitritten zu Handelskooperationen (wie z.B. im pazifischen Raum) sucht, wird auf freundliche Angebote von Seiten der EU angewiesen sein.

Die Reflexion innerhalb der EU-Strukturen als Konsequenz aus dem Brexit sollte neben der Betonung des gemeinsamen Weges der Umgang der 27 Staaten untereinander, d.h. ein größeres Interesse für die Eigenarten und die sehr verschiedenen historischen Kontexte dieser Entitäten sein.

Dass der Austritt eines Mitgliedsstaates aus der EU ein einmaliges Ereignis bleibt, ist nur zu hoffen. Der Schulterschluss, den Nigel Farage – die Gallionsfigur der Anti-EU-Kampagne – mit den einschlägig bekannten Chefs anderer Parteien in Staaten der EU demonstrativ zelebriert hat, ist nicht vergessen und nicht politisch erledigt. Rechtsextreme identitäre Theorien brodeln und suchen den politischen Moment, wie er sich in UK mit dem Brexit-Referendum ergeben hat. Dass zwar der Brexit vollzogen und große soziale Verwerfungen im Vereinigten Königreich zu befürchten sind, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die rechten Treiber erst einmal nicht die Oberhand gewonnen haben. Dies nicht zuletzt, weil es EU und UK gelungen ist, vertragliche und damit verbindliche Regelungen für die Beziehungen des Staatenbundes und des Staates UK zu vereinbaren.

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Infozum Vertrag

Der eigentliche Vertragstext umfasst 479 Seiten, weitere 800 Seiten sind Anhänge mit Protokollen. Der Vertrag gliedert sich in sieben Teile: (1) grundsätzlichen Bestimmungen für alle Teile und institutionellen Regelungen, (2) Handel und wirtschaftliche Aspekte und Handel bei Fischerei, Luftfahrt, Straßentransport, soziale Sicherheit (Rentenansprüche etc.), (3) Strafverfolgung und Justiz, (4) Gesundheit und Cybersicherheit, (5) EU-Programme, an denen Großbritannien (vorläufig) weiter teilnimmt, (6) Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten, (7) abschließende Regelungen. Hinzu kommen zwei weitere Abkommen, nämlich über Zusammenarbeit und Austausch in Sicherheitsfragen (Terrorbekämpfung) sowie Schutz geheimer Informationen und „UK und Euratom über die Zusammenarbeit in der sicheren und friedlichen Nutzung der Kernenergie“.

Einige Stichpunkte zur Orientierung:

Ein Netz von Ausschüssen wurde verabredet. Im Teil (2) wurden auch Verkehr, Spezialregelungen für Medikamente, biologische Produkte, Wein, Seuchenschutz usw. geregelt. Was Dienstleistungen anbetrifft, muss man wissen, dass das BIP in UK zum Großteil aus Finanzdienstleistungen herrührt. Für Mobilität gibt es Spezialregelungen. Was mit Arbeitnehmern passiert, also Aufenthaltszeiten, wann ein Visum erforderlich ist, was die gegenseitige Anerkennung von Diplomen und so weiter betrifft, ist unter dem Gesichtspunkt der Mobilität mit geregelt worden. Rentenansprüche z.B. können wechselseitig erworben werden, die Europäische Sozialrechtsordnung wurde abgeschrieben, sofern man vor 31.12.20 in UK war oder eine Arbeitserlaubnis erhalten hat. Auch die europäische Sozialversicherungskarte wird anerkannt, die Fortschreibung gibt es nur nicht mehr automatisch. Allerdings ist die Hürde für die Arbeitserlaubnis ein Job mit einem Jahreseinkommen von 20480 englischen Pfund (ca. 22000 Euro) zu hoch für viele, die z.B. aus Osteuropa kommend in UK arbeiten (Gastronomie, Nannies, und die diese Einkünfte nur mit 55-Stunden-Wochen erzielen könnten – wo aber dann wieder die zugesicherten Standards dagegen stehen wie auch die Gewerkschaften, die das nicht zulassen werden).

Bei den Geheimdiensten gibt es keine institutionelle Zusammenarbeit, aber bereits im Juli 2016 haben die britischen Geheimdienste versichert, dass man weiter zusammenarbeitet, sich gegenseitig unterstützt und in vollem Umfang miteinander kooperiert, weil man aufeinander angewiesen sei. Dies ist nicht vertraglich geregelt, scheint aber zu funktionieren.

Dass UK im Wissenschaftsprogramm Horizon verbleibt, ist für Wissenschaft, Forschung, Entwicklung und Innovation in der EU und in UK extrem wichtig, da die britischen Universitäten (nicht nur, aber insbesondere Cambridge und Oxford) am Austausch und im System verbleiben.

Dass die Briten aus Erasmus ausgestiegen sind, ist nachvollziehbar: Es sind um Potenzen mehr Kontinent-Europäer nach UK gekommen als umgekehrt.

Nach fünf Jahren soll der Vertrag einer Revision unterzogen werden.