Politische Berichte Nr. 1/2021 (PDF)25
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Hamburg: Abbruch eines G20-Prozesses wegen Corona

01 „Die Angeklagten leben wie unter einem Damoklesschwert“ – Interview mit Kim König von der Roten Hilfe Hamburg.

Wegen der Corona-Pandemie ist der Prozess gegen fünf mittlerweile Volljährige wegen Teilnahme an einer Demonstration im Zuge der G20-Proteste 2017 im Hamburger Industriegebiet Rondenbarg nach zwei Monaten abgebrochen worden.

Von Gaston Kirsche

„Klar ist es erst einmal sinnvoll, das Verfahren wegen der Pandemie nicht weiterzuführen. Aber, warum wurde dann im Dezember überhaupt erst angefangen?“ fragt Yannik U. sich im Gespräch mit dem Autor: „Warum war dem Gericht das damals trotz aller Anträge der Verteidigung offensichtlich egal?“ Yannik U. wohnt und arbeitet in Stuttgart, dort ist er auch politisch aktiv. Jetzt wurde er zusammen mit vier anderen mittlerweile 19- bis 21-jährigen angeklagt am Landgericht Hamburg vor der Großen Jugendstrafkammer 27 unter dem Vorsitzenden Jugendrichter Georg Halbach. Am 7. Juli 2017 frühmorgens nahm Yannik U. an einer von zahlreichen kleinen Demonstrationen teil, die auf den Tagungsort des G20-Gipfels im Hamburger Schanzenviertel zuströmten. In einem Industriegebiet zwischen einem Recyclinghof und Firmengelände wurde die Demonstration in der Straße Rondenbarg von vorne und von hinten gleichzeitig von Hundertschaften der Polizei überrannt. 14 Demonstrierende wurden mit zum Teil offenen Brüchen im Krankenwagen abtransportiert. „Vor Ort wurden etwas über 70 Personen festgesetzt von denen dann 14 im Krankenhaus gelandet sind, die Restlichen bis zu den 83 Angeklagten kamen aus der Öffentlichkeitsfahndung“, so Yannik U. zum Autor. Mit Fotos wurde über Medien und im Internet ebenso wie polizeiintern gefahndet, als ob es sich um Schwerkriminelle handeln würde. Viele waren noch minderjährig und in Jugendorganisationen aktiv – so wurden Mitglieder des Jugendvorstands der Gewerkschaft ver.di des Unterbezirks Bonn festgenommen.

Am 3. Dezember begann der erste von mehreren geplanten Gruppenprozessen gegen die 2017 am Rondenbarg Verhafteten und die über die Fahndung nachträglich Identifizierten.

Laut einer auf dem Hamburger Justizportal veröffentlichten Mitteilung betrachtet die Staatsanwaltschaft die Angeklagten als „Mittäter der Gewalttäter innerhalb des Aufzugs“, obwohl ihnen keine eigenhändigen Gewalthandlungen zuzuordnen sind. „Die Staatsanwaltschaft hält sich gar nicht mehr damit auf, den Angeklagten individuelle Taten nachzuweisen“, erklärt Kim König von der Roten Hilfe Hamburg im Gespräch mit dem Autor: „Ihr Konstrukt ist ganz einfach: Da ist etwas passiert und alle, die da irgendwie dabei oder in der Nähe waren, werden für alles bestraft.“ Keine einzige Polizistin, kein einziger Polizist aus der Demonstration am Rondenbarg heraus verletzt – als sich die Hundertschaft Blumberg der Bundespolizei vor den Demonstrierenden aufbaute und so den Weg versperrte, flogen 14 Steine und ein paar wenige Böller auf die Straße zwischen Polizeisperre und Demonstration. Als sich die Einheit Blumberg unter Gebrüll auf die Demonstrierenden stürzte und diejenigen, die nicht rechtzeitig flohen innerhalb von zwei Minuten zu Boden brachte, stießen sie auf keine Gegenwehr.

Die Staatsanwaltschaft wirft den jetzt Angeklagten schweren Landfriedensbruch, Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte gefährliche Körperverletzung und Bildung bewaffneter Gruppen vor. Bei den Verhandlungen wurde die Anklage von den zwei Staatsanwältinnen Frau Trautmann und Frau Geis vertreten. Wie seine vier Mitangeklagten aus Mannheim, Bonn und Halle musste Yannik U. für die Gerichtsverhandlung weit anreisen: „Ich bin am Abend vor den Prozesstagen, waren ja auch nur zwei bisher, mit dem Zug hoch und dann danach wieder runter. Im Betrieb war das abgesprochen und das war es dann auch“.

Am zweiten Verhandlungstag stellte die Verteidigung den Antrag, das Verfahren auszusetzen wegen der Corona-Pandemie und dem erhöhten Infektionsrisiko der Verfahrensbeteiligten, insbesondere aber der Angeklagten auf ihren weiten Anfahrten. „Die Staatsanwaltschaft sprach sich gegen den Antrag aus und nach einstündiger Beratung lehnte auch das Gericht den Antrag mit der Begründung ab, dass die getroffenen Maßnahmen ausreichen würden (was auch mit dem Arbeitsmedizinischen Dienst rückbesprochen wurde) und auch die Dringlichkeit des Verfahrens eine Fortführung gebiete“, wie es im Prozessbericht der Roten Hilfe heißt.

Die Jugendstrafkammer unter Vorsitz von Richter Halbach entschied aber, die für Januar geplanten Verhandlungstermine ausfallen zu lassen und frühestens am 10. Februar fortzufahren. Nun hat sie entschieden, den Prozess abzubrechen. Somit wird das Verfahren gegen die fünf jungen Angeklagten auf unbestimmte Zeit verschoben und soll zu einem späteren Zeitpunkt neu eröffnet werden.

Die Verhandlung im Rondenbarg-Prozess „ist mit Beschluss vom 27. Januar (außerhalb der Hauptverhandlung, also kein Termin) ausgesetzt worden, das heißt die im Dezember begonnene Hauptverhandlung wird einstweilen abgebrochen und muss zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal von vorn beginnen“, erklärte Kai Wantzen auf Anfrage des Autors: „Grund für die jetzige Entscheidung ist, dass die Kammer angesichts der abermals verlängerten und verschärften Corona-Maßnahmen und der zusätzlichen Ungewissheit durch die neuen Virusvarianten keine realistische Möglichkeit sieht, die Hauptverhandlung innerhalb der zulässigen Unterbrechungsfristen noch fortzusetzen, nachdem sie seit dem neunten Dezember schon zweimal von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Hauptverhandlung mit Rücksicht auf die Pandemie länger zu unterbrechen und die Termine ausfallen zu lassen.“ Der Pressesprecher der Hamburger Gerichte betont, diese Entscheidung liege an der Notwendigkeit der Verschärfung der Bekämpfung der Pandemie: „Die Aussetzungsentscheidung ist offenkundig das Ergebnis eines pandemietypischen Zielkonflikts“, die Fortführung des Prozesses derzeit nicht mehr möglich: „Insofern unterscheidet sich die aktuelle Situation von derjenigen im Dezember, als zumindest die begründete Hoffnung bestand, die Situation werde sich Anfang des Jahres so weit stabilisieren, dass man innerhalb der Maximalfristen für Unterbrechungen würde fortsetzen können.“

Die wegen der Covid-19-Pandemie neugefasste Sondervorschrift EGStPO im Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung (StPO) erlaubt, eine bisher auf drei beziehungsweise vier Wochen begrenzte Unterbrechung einer Hauptverhandlung auf maximal zwei Monate zu verlängern. „Angesichts des Lockdowns kam die Kammer nicht mehr um die, vorher auch immer abgelehnte, Unterbrechung herum“, so der Verteidiger Matthias Wisbar zum Autor: „Aktuell ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Frist des § 10 EGStPO durch eine weitere Verlängerung des Lockdowns überschritten wird. Es waren ohnehin erst zwei Tage verhandelt worden, in denen inhaltlich noch nichts Wesentliches passiert war.“

Bei einer Wiederaufnahme würde die gleiche Anklageschrift vor der gleichen Kammer erneut verhandelt. Die Verschiebung lässt sich mit dem Beschleunigungsgrundsatz für Jugendverfahren „schlecht bis gar nicht vereinbaren“, erklärt Verteidiger Wisbar: „So richtig die Entscheidung des Gerichts ist, das Verfahren unter den Bedingungen der Pandemie nicht weiter durchzuführen, führt sie zu einer weiteren, mit den Wertungen des Jugendgerichtsgesetzes nicht zu vereinbarenden Verfahrensverzögerung. Den Mandantinnen wird es erneut auf unabsehbare Zeit unmöglich gemacht, nach dem Ende der Schule ihr weiteres Leben, insbesondere weitere Ausbildungen verbindlich zu planen. Allein deshalb gehört dieses Verfahren endlich eingestellt.“

Gerichtssprecher Wantzen sieht dies anders: „Die weitere Verzögerung des Verfahrens ist mit Rücksicht auf den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht nicht wünschenswert, aber in der aktuellen Situation eben auch nicht vermeidbar.“

Yannik U. als Angeklagter sieht in der Verschiebung des Prozesses die „Gefahr einer Zermürbung sowohl von uns Angeklagten als auch der Solidaritätsbewegung“. Die Hartnäckigkeit, mit der die Hamburger Staatsanwaltschaft zum wiederholten Male eine Verurteilung von Demonstrierenden ohne Nachweis individueller Tatbeteiligung als Kollektivschuld anstrebt, wird sich dagegen durch den Abbruch des Prozesses sicher nicht ändern. „Es kann für uns nur um eine Einstellung aller Verfahren gehen – ohne miese Tricks oder Deals“, so Yannik U.

Mit einer Wiederaufnahme rechnet er „so bald sicher nicht. Nach aktuellem Pandemieverlauf scheint das sehr unrealistisch.

Allerdings sind die Hamburger Behörden, das hat ja die Vergangenheit gezeigt, zu vielem Verrücktem bereit, weshalb eine genauere Antwort hier auch nicht mehr als ein Blick in die Glaskugel ist“. Die Angeklagten bleiben erst mal im Ungewissen.

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„Die Angeklagten leben wie unter einem Damoklesschwert“ – Interview mit Kim König von der Roten Hilfe Hamburg.

Von Gaston Kirsche

Wie kam es jetzt zum Sinneswandel der Großen Jugendkammer unter RichterHalbach, das Verfahren doch wegen der Corona-Pandemie abzubrechen?

Die Entscheidung kam nicht total überraschend. Es war ja von Anfang an klar, dass ein Prozess mit so vielen Angeklagten und Verteidiger*innen unter den Corona-Sonderbedingungen nur sehr schwer und unter großem Risiko für die Beteiligten zu führen ist. Es stellt sich also eigentlich die Frage, warum das Verfahren überhaupt im Dezember noch losgetreten wurde. Das hätte gar nicht erst passieren dürfen, und das haben die Verteidigung und wir auch von Anfang an so gefordert.

Die Kammer war dann nach den ersten beiden Sitzungstagen wohl doch nicht mehr so überzeugt vom Hygienekonzept des Gerichts und hat erst mal alle Termine bis mindestens zehnten Februar ausgesetzt. Aber selbst unter den Pandemie-Sonderregeln, die im letzten Jahr in der Strafprozessordnung verankert wurden, kann ein Verfahren maximal zwei Monate unterbrochen werden. Eine längere Unterbrechung führt dazu, dass der Prozess platzt. Die Kammer muss wohl irgendwann verstanden haben, was eigentlich schon Anfang Dezember klar war: dass Corona im Februar nicht einfach weg ist. Insofern war es eine rein technische Abwägung: die Verhandlung unter massiven Einschränkungen dann wieder aufnehmen oder abbrechen.

Bei einer Wiederaufnahme würden die gleichen Anklageschriften vor der gleichen Kammer verhandelt?

Ja, es würde genauso wieder von Null an losgehen. Die Frage ist eher, wann das passiert. Der Prozess gegen Fabio V., ebenfalls aus dem Rondenbarg-Komplex, wurde bereits vor drei Jahren abgebrochen und bis heute nicht neu eröffnet. So wie er werden jetzt auch diese fünf Angeklagten unter einem Damoklesschwert leben müssen: Sie wissen, dass alles fertig in der Schublade liegt und irgendwann der Prozess gegen sie neu beginnt. Aber sie haben keine Ahnung, wann.

Aber wie lässt sich die Verschiebung mit dem Beschleunigungsgrundsatz für Jugendverfahren vereinbaren?

Gar nicht. Dieser Grundsatz, dass bei Jugendlichen eine Strafe möglichst schnell nach einer vorgeworfenen Tat folgen soll, ist natürlich nichts, was wir fortschrittlich finden. Der Gedanke dahinter ist ja, dass Jugendliche und Heranwachsende aus Sicht der Justiz noch formbar sind und so auf Linie gebracht werden können. Aber hier hält sich die Justiz mal wieder nicht an ihre eigenen Regeln: Schon die ursprüngliche Prozesseröffnung war nicht beschleunigt, sondern dreieinhalb Jahre nach dem Polizeiüberfall, der jetzt den Jugendlichen zum Vorwurf gereichen soll.

Dass Staatsanwaltschaft und Gericht trotzdem daran festhalten, den ersten großen aus einer anstehenden Serie von Rondenbarg-Prozessen gegen Jugendliche zu führen, liegt an einem anderen Aspekt des Jugendstrafrechts, den sie sich hier herauspicken: Er muss unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden. Offiziell natürlich zum Schutz der damals Jugendlichen. Tatsächlich bedeutet das für die Angeklagten aber auch, dass sie ohne ihre Freund*innen und Unterstützer*innen vor Gericht stehen. Das wiederum erschwert die Soli- und Öffentlichkeitsarbeit deutlich.

War eine Einstellung im Gespräch?

Die Verteidigung hat von Anfang an eine Einstellung gefordert, und das zu Recht. Einmal natürlich aus inhaltlichen Gründen und dann wegen der Corona-Einschränkungen. Das war aber für Staatsanwaltschaft und Gericht kein Thema. Deshalb wurde jetzt eben nur auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Unsere Forderung ist nach wie vor: Dieses Verfahren und alle anderen Rondenbarg-Verfahren gehören sofort eingestellt. Auf die Anklagebank gehören ganz andere.

Vielen Dank!

Abb.: https://rotehilfehamburg.systemausfall.org

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