Politische Berichte Nr. 1/2021 (PDF)28
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Dokumentiert: Reichsgründung und Friedenspolitik der Sozialdemokratie

01 Schwert des Geistes …

Hardy Vollmer, Freiburg, Martin Fochler, München

Am 19. Januar jährte sich zum 150stenmal die deutsche Reichsgründung. Sie war eine Einigung „von Oben“, die sich auf drei vorangegangene Kriege aufbaute. Den Krieg Preußens gegen Dänemark von 1864, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870. Für die damaligen Sozialisten waren es dynastische Kriege, war es eine dynastische Einigung, die im Falle Frankreichs mit der Zerschlagung des dynastischen Regimes unter Napoleon III. endete, die aber auch Frankreich die Republik brachte und für wenige Tage, nach Auffassung von Marx und Engels, mit der Pariser Kommune, sogar das Aufblitzen der neuen sozialistischen Gesellschaftsform zeigte. – In dieser widersprüchlichen Gemengelage findet der Bildungsprozess der deutschen Arbeiterbewegung statt, die zerstritten von Anfang an, nun eine Position zu diesem Einigungsprozess finden musste. Die Auseinandersetzung, die sich entwickelte, bildet gewissermaßen der Gründungshumus der SPD, eine Gärmasse, die ständig an der Politik der SPD rüttelte und letztlich zur Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 führte.

Zur Lage zu Beginn des Krieges im Juli 1870

1863 gründet sich der Allgemeine deutsche Arbeiterverein (ADAV) eine Vereinigung, die sich auf die Theorien Lassalles berief. 1869 folgt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) geführt von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Schon der Beginn des Krieges, im Juli 1870, zwang zu klarer Stellungnahme. Es ging um Positionen zur Frage des gerechten Krieges, des gerechten Friedens, und vor allem um Positionen zu Annexionen, konkret um die Annexion Elsass-Lothringens.

Noch ist das Deutsche Reich nicht gebildet und die Debatten finden im Norddeutschen Reichstag statt. Am 21. Juli soll über eine Kriegsanleihe abgestimmt werden. Die Lassalleanischen Abgeordneten Schweitzer und Hasenklever stimmen der Vorlage vorbehaltlos zu und stellen sich ganz auf Seiten der preußischen Regierung. In ihrer Zeitung der Social-Demokrat hieß es am 17.7.1870:

„die deutsche Nation und selbst das revolutionäre deutsche Proletariat wird sich auf Seite der preußischen Regierung stellen müssen“.

Nicht ganz so einfach machten es sich die Abgeordneten der SDAP Bebel und Liebknecht. Sie enthielten sich bei der Abstimmung:

„Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies eine Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebenso wenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, den es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefasst werden. Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbande zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt oder indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, dass die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft, als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.“1

Hintergrund der Position Bebels und Liebknechts war die Einschätzung der IAA die in einer 1. Adresse des Generalrats zu Krieg am 23. Juli 1870 geäußert wurde. Zum einen heißt es da, dass Preußen und Bismarck auf die kriegerische Situation hingearbeitet haben, dass aber Napoleon III. durch seine Versuche, die Reichseinigung zu verhindern und das Rheinland zu okkupieren, einen Angriffskrieg vorbereitete. Insofern wären die deutschen Länder in einer Position des Verteidigungskrieges, den die Arbeiterbewegung unterstützen sollte, aber nur solange, bis die deutschen Truppen in die Phase des Eroberungskriegs eintreten würden. Und diese Phase war mit der Schlacht von Sedan am 1./2. September 1870 und der Gefangennahme des französischen Kaisers erreicht. Ab da setzte die Raub- und Eroberungspolitik des deutschen Militärs ein und die Forderung nach Annexion von Elsass-Lothringen stand an erster Stelle.

So heißt es in einem Aufsatz von Heinrich von Treitschke mit dem Titel „Was fordern wir von Frankreich“:

„Überall wo Deutsche wohnen, bis zu den fernen Kolonien jenseits des Meeres, flattern die Fahnen vor den Fenstern, Glockengeläut und Kanonendonner verkünden Sieg auf Sieg. Wir wissen alle: Noch drei schwere Schläge, in Metz, in Straßburg, in Paris, und der Krieg ist glorreich beendet… Der Gedanke aber, welcher, zuerst leise anklopfend wie ein verschämter Wunsch, in vier raschen Wochen zum mächtigen Feldgeschrei der Nation wurde, lautet kurzab: heraus mit dem alten Raube, heraus mit Elsaß und Lothringen.“2

Das Braunschweiger Manifest

Für die deutsche Sozialdemokratie war sofort klar, die Annexion von Elsass und Lothringen konnte nur der Beginn eines fortwährenden Zerwürfnisses zwischen Deutschland und Frankreich bedeuten, der die Gefahr weiterer Kriege in sich trug. Das musste verhindert werden. Es galt jetzt schnell durch Massenmobilisierung ein Gegengewicht gegen die Annexionspläne aufzubauen. Der Vorstand der SDAP, der sogenannte Braunschweiger Ausschuss brachte dann am 5. September 1870 das „Braunschweiger Manifest“ heraus. Es heißt dort:

„An alle deutschen Arbeiter!

Eine neue unerwartete Wendung der Dinge ist eingetreten. Napoleon ist in deutscher Gefangenschaft, in Paris ist die Republik erklärt… Die neue Volksregierung muß und wird den Frieden mit Deutschland zu erreichen suchen, sie muss und wird die Kriegserklärung des Napoleoniden zurückziehen. War es das französische Volk, das uns den Krieg erklärte? Nein! Der Napoleonide war es; von ihm hat das deutsche Schwert nunmehr Frankreich befreit und Frankreich hat mit ihm endgültig gebrochen.“3

Eine interessante Beschreibung, denn neben dem zu Beginn des Krieges akzeptierten Verteidigungskrieg wird nun noch ein berechtigter Befreiungskrieg gegen eine diktatorische Regierung in das Vokabular sozialdemokratischer Politik aufgenommen. Aber den Genossen war auch klar, diese Befreiung wurde von Truppen der preußischen Militärkamarilla durchgeführt, die die neue Republik durch Raub und Annexion gefährdeten. Es musste unbedingt ein Friedensschluss her:

„Aber dieser Frieden muss für diese Regierung möglich sein, d.h. es muß ihr ein ehrenvoller Frieden gestattet werden…Es ist die Pflicht des deutschen Volkes, denn auch das deutsche Volk wird sich dessen bewusst sein, das es nicht seine Aufgabe sein kann, einem großen Brudervolke den Fuß auf den Nacken zu setzen, noch in gegenseitigen Kämpfen sich aufzureiben, sondern das es dieselbe Pflicht hat, wie Frankreich gegen Deutschland, die Pflicht, gemeinsam mit Frankreich im Geiste der Neuzeit zu wirken.3

Die Losung, die aus dem Text folgte, lautete: „Frieden ohne Annexionen“. Interessanterweise wird jetzt in dem Manifest lange aus einem Brief von Karl Marx zitiert, den der Braunschweiger Ausschuss um eine Stellungnahme für die zukünftige sozialistische Politik gebeten hatte. Marx wird dann in dem Manifest folgend zitiert:

„Daß die Lothringer und Elsässer die Segnungen der deutschen Regierung wünschen, wagt selbst der … Teutone nicht behaupten. Es ist das Prinzip des Pangermanismus und ‚sicherer‘ Grenzen, das proklamiert wird … Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen…Schließen sie einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich, so wird jener Krieg Europa von der moskowitischen Diktatur emanzipieren, Preußen in Deutschland aufgehen machen, dem westlichen Kontinent friedliche Entwicklung erlauben, endlich der russischen sozialen Revolution, deren Elemente nur eines solchen Stoßes von außen zur Entwicklung bedürfen zum Durchbruch helfen also auch dem russischen Volke zugute kommen“3

Das Manifest endet dann folgerichtig mit einem Aufruf, an vielen Orten Kundgebungen gegen die Annexion von Elsass und Lothringen und für einen ehrenvollen Frieden mit Frankreich durchzuführen. Die Reaktion der Reichsregierung folgte prompt. Der gesamte Braunschweiger Ausschuss, samt Drucker, wurden verhaftet und in den hintersten Winkel Ostpreußens eingesperrt.

Das gleiche passierte dann Bebel und Liebknecht im November 1870, als die Reichsregierung erneut von den Abgeordneten des norddeutschen Reichstages die Zustimmung zu einer Anleihe forderte und beide dagegen stimmten.

Die deutsche Reichsgründung, die dann wenige Monate später, im Januar 1871, auf besetztem französischem Boden stattfand, basierte dann auf Raub und Annexion (Frankreich musste 5 Milliarden Franc an Reparationen zahlen und verlor Elsass und Lothringen) und auf der Unterdrückung der deutschen und französischen Arbeiterbewegung (die deutschen Truppen in Frankreich leisteten Schützenhilfe bei der Niederschlagung des Pariser Kommune). Das Verbot der SPD war dann nur eine folgerichtige Unterdrückungsmaßnahme preußisch-bismarckischer Politik.

In der derzeitigen Berichterstattung über die Reichsgründung fällt auf, dass besonders der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland der der Reichsgründung folgte, besonders gewürdigt wird. Dabei wird aber verschwiegen, dass dies auch zum großen Teil auf dem Raub der 5 Milliarden Franc beruhten, den Frankreich über Jahrzehnte an Deutschland abführen musste. Und überhaupt nicht wird in der Berichterstattung daran erinnert, dass die friedenspolitischen Aktivitäten der damaligen europäischen sozialistischen Bewegung, wenn sie denn umgesetzt worden wären, viele Desaster des 20 Jahrhunderte verhindert hätten.

Abb.: Aus „Der Weg nach Königgrätz“**

01

Schwert des Geistes …

Mai 1871, München. Der Magistrat versammelt die Schuljugend, 12 000 an der Zahl zum Friedensfest. Von den Schulen delegierte Knaben und Mädchen pflanzen und bekränzen eine Friedenseiche. Die Festreden, sie werden später der Pressse dokumentiert, starten eine – wie man heute sagen würde – Bildungsoffensive. Bürgermeister Erhardt: Die

„… Siege über den Franzmann wurzelten zunächst in dem deutschen Geiste, in der deutschen Wissenschaft und in der deutschen Sitte“.

Herr Weisman, der Vertreter der Lehrershaft, verstärkt

„Deutschlands Jugend wird sich durch die Thaten der Väter nicht beschämen lassen; sie wird noch Größeres thun, sie wächst einer riesigeren Aufgabe entgegen! Ob ihr nicht die Zukunft hauptsächlich das Schwert des Geistes in die Hand drücken wird zum Kampfe für die höchsten geistigen Güter? Aber auch aus diesem Kampf wird Deutschland siegreich hervorgehen; dafür bürgt der deutsche Geist und die deutsche Schule.“

Die Propaganda verknüpft Entfaltung derPerson durch Bildung mit dem Kampf des Reiches um Geltung und Hegemonie.4

1883/1885, Dresden. Karl May, bis weit ins 20te Jahrhundert hinein populär gebliebener Schriftsteller, publiziert unter dem Titel „Die Liebe des Ulanen“ einen Fortsetzungsroman, (1930 in seine gesammelten Werke aufgenommen). Vor der Kulisse sämtlicher über Frankreich und die Franzosen umlaufenden herabsetzenden Stereotype werden deutsche Helden gezeichnet. Profunde Kenner aller möglichen Sprachen, Wissenschaften und Techniken, tüchtige Turner und in allen Waffen gewandt, können sie ihre die tückischen französischen Gegenspieler auf allen Gebieten des Lebens – auch bei der Brautwerbung – ausstechen. Stark und klug und gut, sind sie Musteremplare einer auf Wissen und Werte gegründeten, starken Nation.5

1895, 19. Juli. Berlin. Heinrich von Treitschke, politisierender Professor und berühmter Publizist, er prägte 1879 im berüchtigten Antisemitismus-Streit die schreckliche Parole „Die Juden sind unser Unglück“, als Redner bei der Kriegserinnerungsfeier der kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin:

„In meiner Jugend sagte man oft: wenn die Deutschen Deutsche werden, gründen sie das Reich auf Erden, das der Welt den Frieden bringt. So harmlos empfinden wir nicht mehr. Wir wissen längst: das Schwert muß behaupten, was das Schwert gewann, und bis an das Ende aller Geschichte wird das Männerwort gelten: ßιά ßιά ßιάζεται, durch Gewalt wird Gewalt überwältigt.“6

1931, München, Die „Ruhrlade“ (Industriellen-Bund zur Unterstützung der NS-Bewegung) will die eine ihrem Auftrag von Fritz Behn entworfene, schwertgegürtete Bismarck-Figur am Eingang zum Deutschen Museum aufstellen. Museumsgründer Oskar von Miller verweigert das Ansinnen; sein Haus müsse unpolitisch bleiben. Daraufhin wird die Statue an der Bosch-Brücke, die über die Isar zum Museum führt, aufgestellt.7 Wenige Jahre später wird nationalistische Konzept, Wissenschaft nicht als Gemeingut der Menschheit zu begreifen, sondern als Schwert und Waffe in der Hand der politischen Führung, eine arisierte, „deutsche Wissenschaft“ hervorbringen, die zu den Verbrechen des NS-Regimes ihre Beiträge leistet.

Abb.: Bismarck-Standbild

1 Die 1. Internationale in Deutschland, S. 515/516 2 Preußische Jahrbücher, 26. Band S. 367/368. Berlin 1870 3 abgedruckt in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 584, Berlin 1966 Ab. S.28. , S.29. 4 http://flink-m.de/uploads/media/1407_MitLinks-49.pdf 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Liebe_des_Ulanen 6 https://www.projekt-gutenberg.org/, H.v.Treitschke, ausgewählte Schriften, Zum Gedächtnis des großen Krieges. 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Bismarck-Denkmal_(M%C3%BCnchen), * Abb.Chris Light ** Abb. aus „Der Weg nach Königgrätz 1866, Illustrierte historische Hefte 13, dort ohne Quellenangabe.