Politische Berichte Nr. 1/2021 (PDF)30
Kalenderblatt

1. August 1972 Finnland

Arbeitsschutz in Finnland: Der „Gift-Boykott“ der Maler

1 Bessere Arbeit durch Kooperation

2 Besetzung des Alten Studentenhauses von Helsinki

In den 1960er Jahren war Arbeitsschutz in Finnland noch kaum ein Thema, auch wenn es bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts einschlägige Gesetze gegeben hatte. Erst in den letzten Jahren des Jahrzehnts wurde begonnen, von allgemeiner Aufsicht zu konkreten Arbeitsschutzmaßnahmen überzugehen. Das aktive Engagement der Arbeitnehmer spielte hier eine zentrale Rolle.

Juhani Lohikoski, Helsinki

Maler und Lackierer hatten schon lange den unzulänglichen Arbeitsschutz auf Baustellen kritisiert. Gefährliche Arbeiten wurden häufig jungen und unerfahrenen Arbeitern übertragen. Im Zuge der Entwicklung der Chemieindustrie kamen neuartige Farben anstelle von Ölfarben auf den Markt, mit denen noch größere Risiken verbunden waren. Der Malerstand hatte innerhalb der Baubranche die höchsten Erkrankungsquote. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen waren hauptsächlich auf die Verbreitung von Lösemitteldämpfen, Farbnebel und Staub in der Luft sowie auf den Hautkontakt mit den Farben zurückzuführen.

Beim finnischen Bauarbeiterverband rückte zu Beginn der 1960er Jahre der Arbeitsschutz in den Fokus, was zur Gründung einer Abteilung für Arbeitsschutz, von Arbeitsschutzkommissionen sowie zur Einführung betrieblicher Arbeitsschutzbeauftragter und Inspektoren führte. Im September 1969 traten die Arbeitsschutzanweisungen für Baustellen in Kraft, in denen unter anderem durch die Arbeitsschutzkommissionen wöchentlich durchzuführende Standortinspektionen sowie die Helmpflicht für Außenarbeiten festgelegt wurden.

Die Maler forderten mit Nachdruck eine Verbesserung des Arbeitsschutzes. Im Mittelpunkt standen hier die in den Farben enthaltenen Giftstoffe, gegen deren Verwendung im gesamten nordeuropäischen Raum eine Kampagne organisiert wurde. Der finnische Malerkongress verabschiedete 1972 ein Schreiben an das finnische Sozial- und Gesundheitsministerium und die parlamentarischen Fraktionen, in dem ein Verbot von giftigen Farbmitteln, Aufschriften und Anleitungen für weniger gefährliche Farben sowie kostenlose Gesundheitsuntersuchungen gefordert wurden. Nach dem Kongress wurde das Thema von den Verbandssektionen in ganz Finnland auf die Agenda gehoben.

Im April 1972 drohte die Helsinkier Sektion des Malerverbandes mit einem Boykott ab 1. August. Die Sektion verwies unter anderem auf das Arbeitsschutzgesetz, nach dem für Personen, die in gefahrstoffgefährdeten Bereichen arbeiten, die erforderlichen Schutzmaßnahmen vorgenommen werden müssen und (sofern diese sich als unzulänglich erweisen) der Gefahrenstoff durch einen anderen Stoff ersetzt werden muss. Nach Angaben der Sektion wurden frühere Initiativen der Maler nicht ernst genug genommen.

Die im Sommer mit den Arbeitgebern und Behörden geführten Verhandlungen brachten nicht das erhoffte Ergebnis, so dass Ende des Sommers der gesamte Berufsstand in den Boykott eintrat. Gegen Ende des Jahres schlossen sich die Teppichverleger an. Der Verhandlungsdruck nahm zu. Während der Kampagne wurden zahlreiche konkrete Beispiele über die Folgen von giftigen Farben bekannt. Der Boykott genoss die Sympathie der breiten Öffentlichkeit und wurde beispielsweise aktiv von Architekten und Medizinstudenten unterstützt.

Die Verhandlungsergebnisse, auch wenn sich die Arbeitgeberseite gegen die Kriterien aussprach, führten 1973 zu allgemeinen Schutzanweisungen. Die Maler beschlossen, den Boykott so lange fortzusetzen, bis die gesetzlichen Regelungen in Kraft getreten sind bzw. von den Arbeitgebern eingehalten werden.

Einem Beauftragten der Malerbranche zufolge mündete der Boykott in einem großen Sieg: Gewährleistung der erforderlichen Schutzausrüstung für Arbeiter, Beschränkung der Gebrauchsdauer von Staub- und Aktivkohlefiltern, Lohnzuschläge für den Gebrauch von Atemschutz bei Akkordarbeit und umfangreiche Entwicklung des Arbeitsschutzes. Gleichzeit wurde darauf verwiesen, dass der Boykott fortgesetzt wird, wenn die Vereinbarungen nicht eingehalten werden.

Quelle: Työväenliikkeen 100 vuotta (100 Jahre Arbeiterbewegung), Janne Kuusisto.

Übersetzung: NORDICA Translations, Zelzate – Belgien. Redaktionelle Bearbeitung: Eva Detscher, Rolf Gehring

Entwicklung der Arbeitsschutzregelungen

Das Arbeitsschutzgesetz wurde 1958 aktualisiert. Grundsatz war die zunehmende Verantwortung der Arbeitgeber für den Arbeitsschutz sowie die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern. Aus Sicht der Arbeitnehmer war das Gesetz noch weit von dem entfernt, was als erforderlich angesehen wurde. Gleichzeitig wurden Arbeitsschutzdelikte von den Gerichten wie zweitklassige Angelegenheiten behandelt. Bei den Parlamentswahlen 1966 erhielten die politischen Linken die Mehrheit der Stimmen. Die Arbeitsschutzgesetze wurden erneuert, weitgehend aufgrund des Drucks von Seiten der Arbeitnehmer. Es wurden zahlreiche Komitees, Ausschüsse und Beiräte gebildet, die sich mit Angelegenheiten des Arbeitsschutzes beschäftigten. Zu Beginn der 1970er Jahre trat eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen in Kraft, in deren Zuge standortbezogene Arbeitsschutzbeauftragte und -ausschüsse benannt wurden. Durch die Gesetzgebung wurden überdies in hohem Maße die Möglichkeiten der Arbeitnehmer verbessert, Einfluss auf den betrieblichen Arbeitsschutz zu nehmen, was eine zentrale Forderung der Gewerkschaften gewesen war.

Abb.: Zwei Maler 1966.*

Abb.: 1972: „toxic paint boycott“. Am Tag, als der Boykott der Maler und Anstreicher gegen die giftigen Substanzen in den Farben begann: drei Maler stehen hinter Farbeimern.*

*Fotos: Quelle: Peoples archive

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Bessere Arbeit durch Kooperation

Juhani Lohikoski, Helsinki Ende der 1960er, Anfang der 1970er spielten die Gewerkschaften in Finnland eine zentrale Rolle bei der Stärkung der Zivilgesellschaft und Entwicklung der Demokratie am Arbeitsplatz, was sich in zahlreichen Gesetzes- und Verordnungsreformen widerspiegelte sowie in der Anerkennung und gefestigten Stellung der betrieblichen Arbeitnehmervertretung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Gewerkschaftsbewegung als bedeutende soziale Kraft etabliert. Die Arbeiter organisierten sich zunehmend und entwickelten ein starkes Selbstbewusstsein. Die Gewerkschaftsarbeit entfaltete sich in immer mehr Branchen und Orten und war in den Betrieben fest verankert.

Es gab jedoch zahlreiche Probleme. Sozialdemokraten und Kommunisten befanden sich häufig untereinander im Machtkampf, auch wenn die Beziehungen auf Gewerkschaftsebene besser waren als zwischen den Parteien. Hintergründe für die angespannten Beziehungen waren zum einen der Kalte Krieg mit dem daraus folgenden Zwang zur Positionierung auf einer Seite, zum anderen die unterschiedlichen Standpunkte, was Streikaktivitäten anging. Darüber hinaus stritt die Sozialdemokratie um die Parteilinie, was letztendlich zur Spaltung und Gründung einer anderen sozialdemokratischen Partei führte. Die 1950er und beginnenden 1960er Jahre waren daher von einem hohen Grad an Uneinigkeit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung geprägt.

In den 1960er Jahren wurde dagegen auf verstärkte Zusammenarbeit hingearbeitet, was in vielerlei Hinsicht neuer Erfolge brachte. Die linke Partei erhielt die Mehrheit bei den Parlamentswahlen, und bislang unbeachtete gebliebene Forderungen für die Arbeitsplatzgestaltung konnten im Parlament durchgesetzt werden. Dies stärkte auch die Aktivitäten auf betrieblicher Ebene.

Auf nationaler Ebene wurden die ersten einkommenspolitischen Verträge ausgehandelt, in denen volkswirtschaftliche Probleme analysiert und erörtert sowie wirtschafts-, sozial- und arbeitspolitische Lösungen etabliert wurden. Der Leitgedanke war, dass alle vom volkswirtschaftlichen Wachstum profitieren und Krisen gerecht bewältigt werden sollten.

Mit der Einkommenspolitik wurden Einkommensunterschiede ausgeglichen und die Voraussetzungen für die Gewerkschaftsarbeit verbessert. Gleiche Lohn- und Gehaltserhöhungen begünstigten vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen. Auch später folgende einkommenspolitische Konzepte waren von dieser solidarischen Einkommenspolitik geprägt.

In Folge der gestärkten Stellung der Gewerkschaften konnten auch die betrieblichen Vertrauensleute ihre Stellung festigen. Rechtsschutz, Handlungsbefugnisse und Entgelte der Interessenvertreter wurden verbessert. Die Gewerkschaften wurden zunehmend in den Betrieben präsent, da ihre Mitgliederzahlen ständig stiegen und die Interessenvertreter eine wichtige Stellung einnahmen.

In den 1970er Jahren gehörte Finnland zu den Ländern mit den härtesten Arbeitskämpfen. Zur Durchsetzung von Tarifforderungen organsierten die Gewerkschaften landesweite und örtliche Streiks. Die Arbeitnehmer waren ausgesprochen engagiert und die Arbeitgeber defensiv.

Quelle: SAK:n historia (Geschichte des zentralen Gewerkschaftsbundes SAK), Tapio Bergholm

Abb.: Streik der Stahlarbeiter 1971. Eine Arbeiterin vor dem Dock. Der Streik war erfolgreich und verschaffte den Arbeitern den Anspruch auf mehr Urlaub. Auch die Bauarbeiter streikten 1971.**Fotos: Quelle: Peoples archive

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Besetzung des Alten Studentenhauses von Helsinki

Juhani Lohikoski, Helsinki Eines der zentralen Ereignisse der 1960er Jahre war die Besetzung des Alten Studentenhauses am 25. November 1968. Die Studentenrevolte war ein Protest für mehr Demokratie und Gleichberechtigung. Abbildung: November 1968: Besetzung des Alten Studentenhauses (Vanhan Kahvila – „Altes Café“): „In der Universität hat die Revolution begonnen“, steht auf dem Banner.

Mit der Besetzung forderten die Studenten Veränderungen in der Universitätsverwaltung und in den Studieninhalten. Katalysator waren ähnliche Studentenproteste, die in vielen Teilen der Welt als Widerstand gegen starre Hochschulstrukturen, den Vietnamkrieg und Imperialismus aufgeflammt waren. In diesem rebellischen Jahr kam es auch in Finnland zu zahlreichen Demonstrationen und Protesten sowie zu Zahlungsboykotts gegen die Erhöhung der Studiengebühren.

Die radikalen Studenten forderten mehr Demokratie und eine Veränderung der in vielen Bildungseinrichtungen bestehenden Strukturen, die an eine Ständegesellschaft erinnerten und die ihnen so gut wie kein Mitspracherecht einräumten. Die verschwenderischen und elitären Feiern der wohlhabenden Studentenvereinigung der Helsinkier Universität (HYY) weckten Unmut unter vielen anderen Studenten, die zur gleichen Zeit mit unzähligen Problemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, aber auch mit Blick auf die weltweit herrschenden Kriegs- und Hungersnöte.

Im Alten Studentenhaus von Helsinki sollte im November die 100-Jahrfeier des Bestehens der Studentenvereinigung stattfinden. Die Studentenopposition kritisierte die Kosten für die Feier und forderte, dass die Mittel für bessere Zwecke hätten verwendet werden sollen. Die Studenten kritisierten überdies, dass sich die Studentenvereinigung zu sehr von den Studenten entfernt hatte und der Finanzausschuss der Vereinigung in zu hohem Maße mit Geschäftsbanken zusammenarbeitete. Die radikalen Studenten forderten den Zutritt zum Studentenhaus, um Gespräche über die Stellung der Studenten zu führen. Als dieser Forderung nicht nachgekommen wurde, beschloss man, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen. Im Studentenhaus wurden mehrere Arbeitsgruppen gebildet, die unter anderem die Herausgabe eines Kommuniqués für eine freiere Universität erörterten.

Die Besetzung verlief friedlich, abgesehen von einigen Rangeleien und den Rauchbomben, die von rechten Studenten gegen die Besetzer geworfen wurden. Die Besetzung dauerte 24 Stunden.

Abb.: Besetzung des alten Studentenhauses, (Quelle: Wikipedia)