Politische Berichte Nr. 2/2021 (PDF)04b
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Die Pandemie in Brasilien und eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts

Achim Wahl, Berlin

In einem Bulletin der „Bewegung der Landlosen Bauern“ (MST) heißt es: „In der ‚himmlischen Komödie‘ hat sich Brasilien in den zehnten Kreis der Hölle verwandelt. Der schlechteste Platz der Welt ist gegenwärtig – hier und jetzt. Zehn Prozent der Toten der Welt sind Brasilianer.“

Die Pandemie ist außer Kontrolle und das Land demoralisiert. In den letzten Tagen starben in 24 Stunden immer über 2 000 bis 3 000 Menschen. Insgesamt sind es Ende März mehr als 300 000 Menschen, die an Covid 19 verstarben.

Es verschärft sich die soziale Lage: Allein im Jahr 2021 verloren 3,8 Millionen Jugendliche, Frauen und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen ihren Arbeitsplatz. Damit stieg die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent. Die brasilianische Wirtschaft beendete das Jahr 2020 mit minus 4,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Einige tausend Unternehmen wurden geschlossen. Zehn Millionen Arbeitern und Angestellten wurde der Arbeitsvertrag vorerst suspendiert. Schon im Jahr 2020 reduzierte sich der Anteil der Werktätigen mit gültigem Arbeitsvertrag um 11,2 Prozent (3,8 Millionen). Hinzu kommt die Krise des Gesundheitswesens, das nicht in der Lage ist, den Menschen ausreichend Hilfe zu gewähren.

Angesichts dieser Situation bleibt die Politik der Regierung Bolsonaros chaotisch. Bolsonaro selbst lehnt Maßnahmen zur Isolierung ab. Seine Abwertung der Gefahr des Virus als „kleines Grippchen“ hat er nicht aufgegeben. Anstrengungen für eine organisierte Impfstrategie fehlen. Obwohl er noch über Unterstützung verfügt, nehmen seine Zustimmungswerte ab. Jetzt richtet er alles darauf aus, im kommenden Wahljahr als Präsidentschaftskandidat wieder anzutreten. Als Verteidiger des Militärputsches vom 31. März 1964 ließ er diesen am vergangenen 31. März „feierlich“ begehen.

Die Prozesse gegen Ex-Präsident Inácio Lula da Silva

Am 4. März 2016 wurde Ex-Präsident Inácio Lula da Silva auf der Basis eines Haftbefehls dem Richter des zweiten Amtsgerichtes, Sergio Moro, in Curitiba (Hauptstadt des Bundesstaates Paraná) vorgeführt. Moro, Spezialist in Sachen Korruptionsbekämpfung, war seit 2002 Richter an diesem Amtsgericht. Seine Spezialisierung „Geldwäsche“ erwarb er sich 1998 in einem Programm an der Harvard Law School, das vom State Department der USA finanziert wurde. Als 2014 die Operation Lava Jato begonnen wurde, wurde das zweite Amtsgericht in Curitiba zum auserwählten Spezialgericht in Sachen Korruptionsbekämpfung.

Mit Beginn der Operation arbeiteten Gerichte, Staatsanwaltschaften, das Innenministerium und die Bundespolizei mit Organen der US-Administration (u.a. FBI) zusammen. Auf dieser Basis wurde 2014 die Operation Lava Jato begonnen, die der Aufklärung der Korruptionsfälle in Verbindung mit der Petrobras, dem halbstaatlichen Erdölkonzern Brasiliens, dienen sollte. Seit dem Jahr 2002 formierte sich im Rahmen dieser Vereinbarung eine informelle Allianz von Staatsanwälten und der Bundespolizei.

Dieses System wurde selektiv ausgeführt und richtete sich vor allem gegen die Arbeiterpartei (PT). Das Ziel der Operation Lava Jato bestand vor allem darin, eine mögliche Kandidatur Lulas zur Präsidentenwahl 2018 zu verhindern.

Am 12.7.2017 wurde Expräsident Lula durch den Richter Moro zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Nach Bekanntwerden der Verurteilung Lulas erklärte die Bundespolizei die Operation Lava Jato für beendet. Damit hatte sie ihren „Auftrag“, eine Kandidatur Lulas zu verhindern, erfüllt.

Der Richter Sergio Moro fiel nicht nur durch seine Urteile, die er gegen Personen verhängte, auf, sondern geriet zunehmend unter Druck, da das Portal „The Intercept Brasil“ im Juli 2019 Privatgespräche zwischen ihm und dem leitenden Staatsanwalt in Sachen Operation Lava Jato veröffentlichte, in denen „Abstimmungen“ zwischen Richter und Staatsanwalt in Sachen Lula getroffen wurden. Bekannt wurden in der Öffentlichkeit illegale Handlungsweisen Moros: illegales Abhören der Telefone der Anwälte Lulas, Absprachen Moros mit dem Ministerium des Innern und Staatsanwälten.

Gegen den Prozess gegen Lula entfaltete das Nationale Komitee „Freiheit für Lula“ gemeinsam mit der Volksfront Brasiliens (Frente Popular Popular) mit mehr als 80 teilnehmenden Organisationen eine umfassende weltweite Kampagne. Nach mehr als 500 Tagen Gefängnishaft (seit dem 7.4.2018) wurde Lula im November 2019 entlassen.

Der Richter Sergio Moro akzeptierte im November 2018 die Einladung Bolsonaros zur Übernahme des Bundesjustizministeriums. Die sich zwischen Moro und Bolsonaro zuspitzenden Differenzen führten im April 2020 zur Demission Moros als Justizminister. Schon im November 2020 wurde er von der US-Kanzlei Albarez & Marsal als Sozio übernommen, zu deren Klienten einige der beschuldigten Bauunternehmen in der Operation Lava Jato gehörten.

Am 8. März 2021 überraschte der Richter des Obersten Bundesgerichts (STF) Edson Fachin mit einer Einzelentscheidung und annullierte alle Urteile des Amtsgerichtes gegen Ex-Präsident Lula. Er begründete seine Entscheidung mit der Inkompetenz des Amtsgerichtes in Curitiba und entschied, dass diese in die Kompetenz des Bundesgerichtes in Brasília übertragen werden.

Weltweit übernahmen die Medien die Aussage: „Lula ist frei!“ Allerdings meinen Rechtsexperten, dass Fachin weniger Lula „befreien“, als vielmehr Moro schützen wollte. Gegen Moro läuft auf Grund der Unregelmäßigkeiten in den Prozessen gegen Lula ein Ermittlungsverfahren. Neue in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Fakten belegen die Befangenheit Moros und die Mithilfe anderer Justizinstitutionen bei der Verurteilung Lulas.

Eine Reaktion seitens der Militärs auf die Entscheidung Fachins kulminierte in einer Erklärung von Generälen im Ruhestand, dass damit eine institutionelle Krise ausgelöst werde, die eine Reaktion des Militärs verlangen würde. Auch die Bundesstaatsanwaltschaft forderte die Rücknahme der Einzelentscheidung. Allerdings setzte die zweite Kammer des Bundesgerichtshofes mit einer Entscheidung von drei zu zwei Stimmen am 23. März einen Schlusspunkt: Moro wird als befangen und diese Vorgänge als der „größte Justizskandal in der brasilianischen Geschichte“ erklärt.

Damit ist Lula rehabilitiert und wieder im Besitz aller Rechte als brasilianischer Bürger. Alle Verfahren gegen ihn wurden eingestellt. Er kann, wenn das so entschieden wird, 2021 als Präsidentschaftskandidat antreten.

Eine Wende zeichnet sich ab

Mehr als 1500 Unternehmer, Banker, Exminister, Ökonomen und Akademiker veröffentlichten einen Brief an die Regierung und Öffentlichkeit, in dem es heißt: „Es ist nicht vernünftig, in einer Situation einer außer Kontrolle geratenen Pandemie eine Wiederbelebung der Wirtschaft zu erwarten.“ Vernünftig sei es, so die Briefschreiber, Reformen durchzuführen, um das Vertrauen in den Markt wiederherzustellen und das Land zu retten. Aber diese Warnung kommt zu spät: Diese Personen schwiegen, als die Ausgaben für Gesundheit, Bildung, für Medikamente (besonders Vakzine) gekürzt, bzw. nicht zur Verfügung gestellt wurden.

Brasilianische Soziologen bezeichnen die Elite Brasiliens als rückständige Elite. Diese sucht einen Ausweg aus der multiplen Krise, in der das Land sich befindet. So wird gegenwärtig vermutet, dass eine besonders starke Fraktion sich auf eine Rückkehr des Ex-Präsidenten Lula einstellt und einen Kompromiss sucht. Denn alle Anzeichen sprechen dafür, dass Lula, sollte er kandidieren, in der Wahl 2021 gewinnen kann.

So ist die Meinung des Großinvestor Mark Mobius, „Guru der aufkommenden Märkte“, die er in der „Folha de Sao Paulo“ äußerte, von Interesse, dass Lula vor allem den Armen helfe, aber gleichzeitig die Realisierung von Großprojekten anstrebe und das in Zeiten sich erholender Rohstoffpreise der Wirtschaft neue Impulse verleihen wird.

Die Regierung Bolsonaro findet in dieser Krisensituation keine Lösung, außer dass der Wirtschaftsminister und Banker Paulo Guedes, ein „Chicago Boy“, seine Politik des Ultraliberalismus forciert (beispielhaft die Zerschlagung und weitgehende Privatisierung des halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras) und ans ausländische Kapital verkauft. Brasilien ist nach Angaben des IWF im Ranking der weltgrößten Ökonomien 2020 auf den zwölften Platz zurückgefallen.

Zur Situation der brasilianischen Linken

Die brasilianische Gesellschaft ist stark fragmentiert, so dass es die linken Kräfte schwer haben, verlorene Positionen zurückzugewinnen. Es wirken die Folgen der Pandemie, die bedeutende politische Mobilisierungen verhindern.

Zwei daraus folgende Konsequenzen sind offensichtlich: Es vertieft sich der Konflikt zwischen einzelnen Fraktionen der brasilianischen Bourgeoisie. Und zum anderen fehlt die Einheit linker Kräfte. Nicht erst seit Beginn der Pandemie befindet sich die brasilianische Linke in der politischen Defensive. In den Kommunalwahlen Ende 2020 verloren sowohl die Arbeiterpartei (PT) wie auch Präsident Bolsonaro nahestehende rechte Kräfte Positionen in den Gemeinden und Staatenregierungen.

Es sind allerdings nicht nur die Pandemie und die ausbleibende Mobilisierung der Straße, die diese Situation ausmachen. Denn gegenwärtig wird mehrheitlich unter den Linkskräften die Meinung vertreten, dass das Bolsonaro-Regime durch eine breite Front der Linkskräfte mit Zentrumsparteien und Teilen der Rechten zu überwinden ist. Diese Auffassung dominiert inzwischen die Demokratische Partei der Arbeit (PDT), die Sozialistische Partei Brasiliens (PSB), die Kommunistische Partei Brasiliens (PCdoB), Teile der Arbeiterpartei (PT) und Teile der Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL). Verbreitet ist die Illusion, dass das Oberste Bundesgericht die Demokratie gegen Präsident Bolsonaro verteidigt und Teile der bewaffneten Kräfte sich gegen Bolsonaro stellen könnten.

Nun hat sich 2021 die Lage verschärft: Die Pandemie breitet sich fast ungehindert aus. Erneut wird die Forderung nach einem Nothilfeplan für die Bevölkerung aufgeworfen. Es existiert ein offener Konflikt zwischen Bolsonaro und den Gouverneuren, die in einzelnen Bundesstaaten ihre eigene Anti-Pandemie-Politik betreiben. Die Forderung nach einem „Fora Bolsonaro já“ („Weg mit Bolsonaro jetzt“) hat nicht mehr die erforderliche Unterstützung. Es besteht die offensichtliche Annahme, die Wahl 2022 gegen Bolsonaro gewinnen zu können, das heißt die Entscheidung auf das Wahljahr 2022 zu vertagen.

Abb. (PDF): Grundrente und Korruption gehören in Brasilien zusammen, die Quellen sind neben dem Großgrundbesitz die bei der halbstaatlichen Petrobas konzentrierte Förderung von Erdöl. Im Bild die Bohrplattform P-51, die erste Plattform, die zu 100 % Brasilien gehört, fördert täglich rund 180000 Barrel Öl und sechs Millionen Kubikmeter Gas. Die Anlage steht über dem „Marlim-Sul“- Ölfeld. (Bild aus Wikipedia, Quelle: Agência Brasil; Urheber: Divulgação Petrobras/AB)