Politische Berichte Nr. 2/2021 (PDF)22
Rechte Provokationen – Demokratische Antworten

„Digitaler Faschismus – Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus“

Olaf Argens, Schmitten

Unter diesem Titel veröffentlichten die Sozialwissenschaftler Maik Fielitz und Holger Marcks 2020 eine Untersuchung darüber, wie Rechtsextreme vom Resonanz- und Vernetzungsraum der sozialen Medien in besonderem Maße profitieren können. Die Dynamik der sozialen Medien, die sie sich nutzbar machen, bezeichnen die Autoren als digitalen Faschismus. Dabei betonen sie, dass die Mischung von rechtspopulistischen Auffassungen und Rechtsextremismus für viele Nutzer unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten bietet. Das Buch verarbeitet aktuelle Analysen und nimmt Bezug auf klassische Texte, die sich mit der Wirkung von (Massen-)medien auf die Struktur der Öffentlichkeit befasst haben, sowie auf Theorien über Demokratie und Faschismus (Walter Benjamin, Kritische Theorie, Hannah Arendt).

Als Kernstück faschistischer Logik,

das die Zeit überdauert hat, begreifen die Autoren folgende Denkmuster: Ein völkischer Nationalismus, der sich aus der Wahrnehmung einer behaupteten nationalen Bedrohung ableitet, verbunden mit einer nationalen Wiedergeburt, die durch außergewöhnliche Anstrengungen erzwungen werden muss, sowie ein radikaler Pragmatismus, der sich an keinerlei ethische oder rechtliche Beschränkungen gebunden fühlt, wenn es um das Erreichen seiner Ziele geht.

Die Utopie des Internet?

Das Zusammengehen der Utopie des freien Internet mit der Einflussnahme von Rechtsradikalen wird wie folgt erklärt:

„In Demokratien kommt den Medien die Funktion zu, zwischen den komplexen Anforderungen der Politik und der begrenzten Urteilsfähigkeit der Masse zu vermitteln – basierend auf gemeinsamen Standards der Realitätsabbildung. Die Tatsache, dass die Masse ihre Medien als Folge der Digitalisierung nun selbst organisiert und rechtsextreme Akteure sie unmittelbar mit postfaktischen (durch geringe oder abnehmende Bedeutung von Tatsachen gekennzeichnete) Inhalten beeinflussen können, stellt ein Einfallstor für faschistische Dynamiken dar, die auf einer Manipulation der Realität beruhen.“ Solche Elemente sind:

– Das Zusammenspiel von Beschleunigung, Personalisierung und Emotionalisierung hilft Kräften, die einfache Lösungen versprechen.

– Indem sich die Nutzer auf bestimmte Plattformen konzentrieren, sind sie den Regeln ausgesetzt, die die Betreiber vorgeben.

– Der Einsatz von Algorithmen trägt dazu bei, das Weltgeschehen selektiv wahrzunehmen.

– Die Konkurrenz um Beachtung erleichtert die Verbreitung von Fakenews, zumal wissenschaftliche oder journalistische Standards keine Geltung haben.

– Wo Wahrheit völlig beliebig wird und allein als subjektive Meinung verstanden wird, entfällt die Möglichkeit der Verständigung.

Rechtsextremismus im digitalen Kontext

Das Internet bietet die Möglichkeit, Meinungen anonym darzubieten und leicht andere zu finden, die zustimmen. Faschistische Traditionen können salonfähig gemacht werden, ohne dass es einen ideologischen Zusammenhang, Führung und materielle Kooperation gibt. Eine Hypothese des Buches lautet deshalb: Die Funktionsweisen sozialer Medien verstärken die Wahrnehmung von Bedrohungen und damit genau jene erkenntnismäßige Grundlage, auf der faschistische Logik an zentraler Stelle aufbaut. Dabei spielt eine Rolle, dass die digitalen Plattformen zu einer Auflösung geteilter Wahrheiten beigetragen haben. Damit hat sich der Raum für Manipulation und postfaktische Inhalte erweitert. Dies wiederum verträgt sich mit dem radikalen Pragmatismus, der mit Wahrheit instrumentell umgeht.

Wie die sozialen Medien Ängste verstärken

Die Realität hat mit dem behaupteten Bedrohungsszenario – als solches etwa die Migration dargestellt wird – wenig zu tun. Zur Rechtfertigung bedarf es daher „vor allem dramatischer Erzählungen, die viel dringender benötigt werden als der Beweis ihrer faktischen Richtigkeit“ (Martin Sellner in „Identitär! Geschichte eines Aufbruchs“). Die Technik des dramatischen Erzählens orientiert sich an den Marketingkonzepten großer Unternehmen. Über die Online-Plattformen konkurrieren kommerzielle und politische Akteure um Anhänger und Kunden. Bewegungsnahe Organisationen verkaufen ihre Weltanschauung wie eine Marke. Die Identitären agieren beispielsweise fast schon wie ein Start-up-Unternehmen. Menschen werden über alltagskulturelle Vorlieben angesprochen. Der Mythos der nationalen Wiedergeburt überzeugt nicht mit rationalen Argumenten, sondern mit einer Verbindung von übernatürlichen Kräften und tieferen Wahrheiten. Dabei ist – wie bereits in der Propaganda der Nationalsozialisten – die ständige Wiederholung ein probates Mittel. Theatralische Verknüpfungen machen die dramatischen Erzählungen (geringe Geburtenrate, ethnokultureller Kollaps, Genderwahnsinn, sexuelle Umerziehung …) zu einer gefährlichen Rede. Je eindringlicher das Opfernarrativ, desto größer der Anspruch auf Ausgleich. Aus der Opferschaft entsteht eine Täterschaft mit explosiver Kraft. Es gilt das Gebot der Notwehr gegenüber den inneren Feinden.

Die Vermittlung von Angst

Die neuen Medien organisieren ein verändertes Wahrnehmungsempfinden, das die Sicherheitslage einschließt. Bereits kleinere Unsicherheiten können zu großer Beunruhigung führen. Die Diskrepanz zwischen wahrgenommener Unsicherheit und objektiver Gefährdung wird gezielt genutzt. Soziale Medien lassen negative Neigungen vollends von der Leine. Algorithmen und rechte Influencer verbreiten aufgeputschte lokale Nachrichten. Die Arbeitsweise der alten Medien sichert ein gewisses Grundverständnis aller. Es existieren Standards und Filter, die auf den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus beruhen. Das Internet ist ein sich selbst organisierendes Kommunikationssystem, das innerhalb der digitalen Matrix entsteht und ohne Vermittlungsinstanzen funktioniert, die die komplexe Realität filtern und ordnen. Jeder kann sich heraussuchen, was ins eigene Weltbild passt.

Das rechte Spiel mit der Wahrheit

Im Kulturkampf um die Wahrnehmung der Welt werden Argumente häufig nicht mehr verstanden. Wahr ist, was sich als wahr anfühlt. Je mehr sich eine Aussage von dem entfernt, was offiziell gilt, desto glaubwürdiger ist sie. Es wird eine eigene Realität konstruiert, unantastbare Wahrheiten behauptet und gemeinsame Normen bestritten, so dass Verständigung unmöglich wird. Die Rechten setzen dabei auf eine gezielt eingesetzte Verwirrungstaktik (Gaslightning), die darauf abstellt, der eigenen Wahrnehmung nicht mehr zu trauen, so dass man sich auf das verlassen muss, was andere sagen (Trump: „Was du siehst und was du liest, ist nicht das, was passiert …“). Dabei werden Kenntnisse behauptet, die nicht zu kontrollieren sind und die wegen ihrer Unkontrollierbarkeit dem, der sie vorbringt, eine besondere Autorität verleihen. Verbunden ist diese manipulative Hetze mit Behauptungen über Kontrollverlust und Fremdsteuerung: „Lets take back control“ lautete das Leitmotiv der Brexit-Kampagne.

Identitätsstiftende Denkfehler

Fielitz und Marcks betonen, dass es weniger um Technik an sich geht als um intuitive Denkstile, die in der digitalen Welt zur Entfaltung kommen. Die sozialen Medien ermöglichen den Anschluss an Gruppen, in denen eine Auseinandersetzung mit rationalen Einflüssen, wie er noch in alternativlosen Bezugsgruppen (Familie, ArbeitsKolleg*Innen …) mit gemischten Denkstilen der Fall gewesen war, überflüssig wird. Die Digitalisierung bedeutet somit Öffnung und Schließung zugleich. Was der eigenen Identität widerspricht, muss geleugnet werden. Es wird ein Feinddenken etabliert, das Verständigung unmöglich macht.

Die Technik der metrischen Manipulation

Indem rechtsextreme Positionen regelmäßig und vielstimmig zu vernehmen sind, soll der eigenen Sichtweise Glaubwürdigkeit verliehen werden. Es entsteht der Eindruck, sie seien weit verbreitet. Wenn vermeintlich normale Menschen rechtsextreme Erzählungen teilen und verbreiten, bieten die sozialen Medien besondere Formen von Glaubwürdigkeit und Authentizität. Die Verbreitung wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Sender-/Empfängerverhältnis verflüssigt. Auch wenn der Schwarm nicht führerlos agiert, bedarf es für die Verbreitung keiner Partei mehr. Es geht darum, irgendwie in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden und damit den Diskurs zu verschieben, aber auch andere einzuschränken und zu bedrohen. Dabei kann sich die Mobilisierung zur Gewalt unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit vollziehen.

Dilemma ohne Ende?

Die Autoren plädieren im Ausblick neben der demokratischen Gegenrede für eine rechtliche und technische Regulierung des Netzes und der sozialen Medien. Sie beschreiben das Problem: „Die Herausforderung besteht darin, in einem asymmetrischen Schlagabtausch die richtige Balance zu finden, um als Korrektiv illiberaler Dynamiken zu wirken, ohne selbst Teil dieser Dynamiken zu werden. Gleichzeitig bleibt es das grundlegende Dilemma, dass mit der massenhaften Nutzung der fragwürdigen Strukturen genau jene Bedingungen reproduziert werden, die für die demokratische Sache so unvorteilhaft sind“. Die neuen Dimensionen der Massenkommunikation passen nicht in den bestehenden rechtlichen Rahmen. Es wird daher vorgeschlagen, die im Presserecht begründeten Verantwortlichkeiten auf das Internet zu übertragen. Das Netz wird zu einer Art Gemeingut, ähnlich dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das in Ansätzen etwa im deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz vorhandene postredaktionelle Prinzip (Veröffentlichen, dann Filtern) soll tendenziell ersetzt werden durch eine vorgelagerte Kontrolle und inhaltliche Verantwortung, die insbesondere auch Facebook und Co bindet. Ist die Nutzung des Internet durch die Zivilgesellschaft ohne Zensur möglich?

Abb. (PDF): Harmlose Ironie oder rechtes Ressentiment? Die Quelle dieses über WhatsApp verbreiteten Bildes ist anonym. (O.A.)