Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)03b
Blick auf die Medien

Das Holship-Urteil des EGMR: Sind soziale Grundrechte doch wichtiger als Marktfreiheiten?

Thilo Janssen, Brüssel. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 10. Juni im Fall Holship ein beachtenswertes Urteil gefällt. Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen betrifft es den im EU-Binnenmarkt weiterhin ungeklärten Grundkonflikt zwischen (kollektiven) sozialen Grundrechten wie dem Recht auf Streik und den vier Binnenmarktfreiheiten. Zum anderen betrifft es die Reibungen zwischen den zwei europäischen Grundrechtsregimen des Europarats mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Rechtsprechung des EGMR und den in der (revidierten) Europäischen Sozialcharta verbrieften sozialen Grundrechte auf der einen und der EU mit den EU-Verträgen, der Grundrechtecharta und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf der anderen Seite.

Zur Erinnerung: Die EU hat den unter Artikel 6.2 des EU-Vertrages vorgesehenen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats nie vollzogen, da der EuGH im Jahr 2014 die Beitrittsvereinbarung für unvereinbar mit dem EU-Recht erklärte. Inzwischen wurden die Gespräche wieder aufgenommen. Der Ausgang ist offen. In einer Resolution aus dem Jahr 2017 forderte das Europäische Parlament zudem, den Beitritt der EU zur Revidierten Sozialcharta des Europarats zu überprüfen.

Das Fragen zur wechselseitigen Geltung der europäischen Grundrechtsrechtsregime weiterhin von höchster Relevanz sind, zeigt das Urteil im Fall Holship, der offiziell Norwegian Confederation of Trade Unions (LO) and Norwegian Transport Workers’ Union (NTF) versus Norway heißt. Der Rechtsspruch des EGMR betrifft die Rechtmäßigkeit des Urteils des norwegischen Obersten Gerichts, welches einen Boykott der Firma Holship Norge AS durch gewerkschaftlich organisierte Hafenarbeit für unrechtmäßig erklärt hatte. Holship hatte Arbeiter außerhalb des geltenden Tarifvertrags eingestellt, worauf die organisierten Hafenarbeiter Kollektivmaßnahmen ergriffen.

Nachdem der Fall alle norwegischen Instanzen durchlaufen hatte, legten die norwegischen Gewerkschaften ihn dem EGMR vor. Bemerkenswert ist, dass der EGMR normalerweise keine Fälle verhandelt, die die Umsetzung von EU-Recht betreffen. Denn mit der Bosporus-Doktrin setzt der EGMR voraus, dass in der EU durch die EU-Grundrechtecharta ein vergleichbarer Grundrechtsschutz garantiert ist. Norwegen setzt als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zwar EU-Recht um, ist als Nicht-EU-Land aber nicht der Grundrechtsprechung des EuGHs unterworfen. Unter dieser Voraussetzung nahm der EGMR den Fall an.

In seinem Urteil hält der EGMR fest: „wenn Kollektivmaßnahmen ihr Ziel erreichen sollen, müssen sie unter Umständen in Binnenmarkfreiheiten eingreifen“ (Übersetzung aus dem Englischen TJ; für eine genauere Analyse des Urteils sei auf den Artikel von Professor Hans Petter Graver im Verfassungsblog verwiesen). Diese Sichtweise stellt das Viking-Urteil des EuGHs aus dem Jahr 2007 in Frage. Damals hatte die finnische Seefahrer Gewerkschaft das Unternehmen Viking Lines bestreikt, weil dieses die Fähre Rosella, die zwischen Finnland und Estland verkehrte, nach Estland ausflaggen wollte, um der Crew die viel niedrigeren estnischen Löhne zu zahlen. Der EuGH unterwarf in seinem Urteil die in internationalem und finnischem Recht verbrieften sozialen Grundrechten einem Abwägungsprozess mit der in Artikel 43 des damaligen EU-Vertrages festgeschriebenen Niederlassungsfreiheit für Unternehmen. Er kam zu dem Schluss, dass das EU-Recht von Unternehmen gegen gewerkschaftliche Grundrechte in Stellung gebracht werden kann.

Weil das EGMR-Urteil mit Norwegen ein EWR- und kein EU-Mitglied betrifft, hat es keine unmittelbare Auswirkung auf die Auslegung geltenden EU-Rechts. Dennoch ist es ein wichtiger Bezugspunkt in den Auseinandersetzungen um den Schutz der sozialen Grundrechte im EU-Binnenmarkt. Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas haben die europäischen Gewerkschaften erneut ihre Forderung vorgebracht, eine sozialen Fortschrittklausel in den EU-Verträgen zu verankern.