Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)04
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Bundestagswahl im September, die Parteien und die Corona-Pandemie

Martin Fochler, München und Alfred Küstler, Stuttgart

Die Wahlprogramme der Parteien zur Bundestagswahl sind umfangreich und detailliert. Die Programme der in den Umfragen wichtigen Parteien – sieben im Bundestag vertreten, und ja, auch mit den Freien Wählern könnte nach neuesten Trends zu rechnen sein – umfassen über dreihunderttausend Wörter. Der Wahlkampf mündet aber in bloß drei Entscheidungen: erstens Teilnahme/Nichtteilnahme, zweitens Vergabe der Erststimme an eine Person, drittens Vergabe der Zweitstimme an die Landesliste einer Partei. Praktisch unmöglich ist es, diese Entscheidungen auf Basis eines Vergleichs der Wahlprogramme zu treffen.

Wozu sind diese Programme dann überhaupt gut? Im Prozess der Aufstellung von Kandidaten für die Listen wirken sie innerverbandlich, sie integrieren die in den Parteien umlaufenden Meinungen und Ziele und stecken für den Wahlkampf einen Korridor der möglichen Argumente ab. Im Wahlkampf dienen sie den Parteiaktiven als Nachschlagewerk, in dem sie sich Rat holen, wie auf oft recht spezielle Fragen aus der Wählerschaft zu antworten sei. Am Ende schließlich, wenn die Wahl eine Verhandlungssituation zur Regierungsbildung geschaffen hat, sind ihre Inhalte für die Koalitionsverhandlungen erheblich. Wahlprogramme grenzen ein, was überhaupt in Koalitionsverhandlungen aufgenommen wird. Was nicht im Wahlprogramm steht, hat keine Chance bei Koalitionsverhandlungen. Wahlprogramme bieten zudem ein Maß zur Beurteilung von Koalitionsverträgen, die im politischen Leben der BRD immer häufiger den Parteitagen oder sogar Urabstimmungen der Mitgliedschaft vorgelegt werden.

Konstellationen nach dem Wahltag

Wie auch immer die Verhandlungssituationen nach dem Wahltag aussehen mögen, eine Konstante wird bleiben. Auch die nächste Regierung wird das Corona-Problem auf dem Tisch liegen haben, und im Umgang mit dieser Pandemie fallen weichenstellende Entscheidungen. Sie betreffen die Rechte freier Lebensgestaltung durch die Einzelnen, die Pflichten, die ihnen per Gesetz aufgegeben werden können, Art und Umfang der Leistungen der Daseinsvorsorge durch die öffentliche Hand. Eine umfassende Neujustierung wird auch im Rahmen der Abwehr der Erderwärmung diskutiert, aber anders als in der Klimafrage geht es bei der Pandemieabwehr um zeitlich abrupte Eingriffe, oft ändert sich die Situation binnen Tagen. Die Bürgerinnen und Bürger, die Jungen, die Alten, Geimpfte, Genesene, Getestete sind unmittelbar in ihren Lebensäußerungen betroffen. Dies gibt der Diskussion eine Schärfe, die wir alle nicht gewöhnt sind. Dazu kommt, dass die Ablehnung bzw. Zustimmung zu Maßnahmen der Regierung nicht bloß gedanklich vollzogen wird, sondern durch das Verhalten. Die Wittgensteinsche Devise „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ greift hier nicht. Das führt dazu, dass die Diskussion gewachsene und vertraute politische und soziale Bindungen zerlegt, die verbale Kontroverse kann nicht abkühlen.

Wie verhalten sich in dieser Problemlage die Parteien? Es ist keineswegs leicht, die politische Kontur der Corona-Strategien aus den Programmen herauszulesen. Dazu kommt noch, dass die Diskussion in und mit den Parteien das Spektrum der Argumente noch weiter ausdehnt. Dennoch lässt sich festhalten, dass die Pandemie in all diesen Texten, man kann sagen durchgehend, in Verbindung mit anderen sozialen Fragen verhandelt wird.

Bei der Union

Die Aussagen zu Corona und Pandemie sind im 139-Seiten-Text der Unionspartei auf dreißig, vierzig Seiten verstreut. Die Union verfolgt einen technokratischen Ansatz, ist für vielfältige und tiefe Staatseingriffe zu haben, verbunden mit der Erwartung, die Pandemie in naher Zeit zum Erlöschen zu bringen, und dem Versprechen, dass der Staat sich dann wieder „deutlich zurückziehen“ und den „Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen mehr Freiraum lassen“ werde. Zu dieser Argumentation passen die verschiedenen Maßnahmen zur Überbrückung von Notlagen der Haushalte wie der Unternehmen, die von der Idee der Rückkehr zur Normalität leben. Die Tendenz zu dauerhaften Verschiebungen im Tragwerk der gesellschaftlichen Kooperation nimmt die Union in ihrem gemeinsamen Wahlprogramm nicht wahr. In dem zusätzlich beschlossenen Bayernplan der CSU steht allerdings zu lesen, dass man Homeoffice für ein Schlüsselinstrument der Vereinbarkeit von Familie und Beruf halte und diese Erwerbsform steuerlich begünstigen wolle.

Bei der SPD

Das sozialdemokratische Programm (66 Seiten) meistert das Problem der kommenden Veränderungen mit dem Versprechen der alsbaldigen „Rückkehr in eine neue Normalität“. Dem technokratischen Moment, das den Erfolg per Wissenschaft, Technik und – leicht zu übersehen – der Bürgerpflicht, den Anordnungen zu folgen, sucht, stellt das Programm die Erfahrung von Solidarität gegenüber, das Bewusstsein der Menschen, auf gegenseitige Hilfe und Zuwendung angewiesen zu sein. In diesem Zusammenhang verweist die SPD auch auf die Möglichkeit, unterschätzte und unterbewertete Berufe und Arbeiten neu zu bewerten. Die Auseinandersetzung mit der Pandemie ist dann auch Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit. Es kommen Forderungen nach sozialem Ausgleich durch die öffentliche Hand, wobei die Mittel in die Hand des Staates durch progressivere Gestaltung von Steuern und Abgaben gelangen sollen.

Bei den Grünen

Hier hat man ein Wahlprogramm im Umfang von 272 Seiten zusammengestellt, völlig unerwartet, taucht das Problem der Einschränkung der Bürgerrechte im Katastrophenfall nicht auf. Der Plan will einen „nach der Corona-Krise“ erwarteten wirtschaftlichen Aufbruch mit ökologischer Modernisierung zusammenbringen. Die rasche Impfstoffentwicklung dient im Wahlprogramm als Beleg für die „Innovationskraft in der Forschungs- und Unternehmenslandschaft“, die „der Staat“ mit Tempo und entschlossenen Innovationen unterstützen müsse.

Bei der Linken

Auf etwa 40 Seiten des 148-Seiten-starken Programmes wird der Verlauf der Pandemie herangezogen, zu zeigen, dass diese Katastrophe soziale Ungleichheit auf allen Gebieten der Lebensgestaltung belege, was den Gesetzgeber erfordere sowohl bei der Bereitstellung von hilfreichen Einrichtungen wie bei einer Verschiebung der Steuerlast in Richtung Reiche. Die Linke formuliert auch etwas zum Ausnahmezustand: „Gerade in Krisenzeiten: Kein Lockdown für die Demokratie – Bürgerrechte sind systemrelevant! Es darf keine Entmachtung der Parlamente geben, keine (Selbst-)Ermächtigung der Exekutive. Politische Betätigung und Versammlungen müssen möglich bleiben. Allgemeine Versammlungsverbote sind Gift für die Demokratie. Auch das Arbeitsrecht darf nicht ausgehebelt werden.“

Bei der FDP

Sie kritisiert, dass die Politik die Freiheit der Sicherheit auf „eine erschreckende Weise untergeordnet“ habe. Im Unterschied zu Union, SPD, Grünen und Linken, die, wenn auch auf verschiedene Weise, die Bedeutung staatlichen Handelns herausstreichen, setzt die FDP auf die Innovationskraft der Wirtschaft, die sie durch Steuerentlastung fördern will.

Bei den Freien Wählern

Deutlich erkennbar ist die Konzentration der Partei auf die Stadt-Land-Beziehung, Die Pandemie funktioniert als Anlass, die Verbesserung von Infrastruktur im ländlichen Raum zu fordern. (128 Seiten)

Bei der AfD

Die Partei nimmt die Pandemie nicht als Katastrophe wahr. Im Kern ihrer Argumentation steht die Forderung „Schluss mit den unverhältnismäßigen Corona-Maßnahmen.“ Diese Formulierung lässt ihrer Anhängerschaft offen, Corona als Bedrohung zu registrieren oder als Schwindelei einer Verschwörung. Während alle anderen Parteien auf Basis ihrer Schwerpunktsetzung sich in konkreten Maßnahmen der Gefahrenabwehr finden könnten, ist das bei der AfD nicht der Fall.

Im Ganzen

Das Handeln der politischen Kräfte ist durch die – begründbare – Erwartung bestimmt, der Pandemie in naher Zukunft Herr zu werden. An diesem schwachen Nagel ist das Paket ihrer Pläne, Erwartungen und Versprechen aufgehängt. Sollte sich herausstellen, dass der Weg aus der Pandemie langwieriger und dorniger wird, wird sich das auf das Selbstvertrauen der Parteien und auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Parteien destabilisierend auswirken.

Es bedarf dann ausgearbeiteter Regeln und Gesetze, die die Grenzen staatlichen Handelns festlegen. Was ist mit der Pressefreiheit, mit der Versammlungsfreiheit? Wieweit dürfen Aufenthaltsverbote und Ausgangsbeschränkungen die Bewegungsfreiheit einschränken? Wieweit können dienst- und arbeitsrechtliche Verpflichtungen gehen? Defizite, die hier bestehen, könnten dazu führen, dass die Unruhe, die wegen der staatlichen Durchgriffsmöglichkeiten besteht, der AfD die Möglichkeit bieten, als Vorkämpfer demokratischer Belange aufzutreten.

Die Programmpositionen von SPD und Linken lassen die Arbeit an sozialen und demokratischen Regeln, die auch im Katastrophenfall Geltung haben, zu, sie fordern eine solche Arbeit geradezu heraus.

Abb. (PDF): Wahltrend (Durchschnitt von 9 Umfragen) am 1. August 2021 im Vergleich mit dem Wahlergebnis am 24.9.2017. www.dawum.de

Nach diesen Umfragen wären mögliche Koalitionen (nur politisch wahrscheinliche, nicht auch alle rechnerisch möglichen): CDU/CSU+Grüne oder CDU/CSU+SPD+FDP oder Grüne+SPD+FDP. Eine Regierung ohne Union wäre also denkbar. Falls die Freien Wähler über 5 Prozent kämen, wäre ohne Union keine Regierung möglich, aber nur noch als Dreier-Koalitionen (CDU/CSU + Grüne+SPD oder CDU/CSU+Grüne+FDP oder CDU/CSU+SPD+FDP). Für eine Ampel ohne die Union mit Grünen+SPD+FDP reicht es dann nicht mehr. (Berechnung laut www.dawum.de)

Abb. (PDF): Cover der Wahlporgramme

Abb. (PDF): Tabelle, hier in Texte umgeandelt Parteiprogramme - PDF Quellen

Partei Link Seiten* Vorkommen Corona /Pandemie**

CDU/CSU https://www.csu.de/common/download/Regierungsprogramm.pdf 139 28/39

CSU https://www.csu.de/common/download/CSU-Programm_Gut_fuer_Bayern_Gut_fuer_Deutschland_final.pdf 16 8/4

SPD https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD-Zukunftsprogramm.pdf 66 27/19

GRÜNE https://cms.gruene.de/uploads/documents/Wahlprogramm-DIE-GRUENEN-Bundestagswahl-2021_barrierefrei.pdf 272 38/49

FDP https://www.fdp.de/sites/default/files/2021-06/FDP_Programm_Bundestagswahl2021_2.pdf 91 19/18

DIE LINKE https://www.die-linke.de/fileadmin/download/wahlen2021/BTWP21_Entwurf_Vorsitzende.pdf 148 63/49

Freie Wähler https://www.freiewaehler.eu/template/elemente/203/FREIE%20W%C3%84HLER_Wahlprogramm-BTW21.pdf 85 16/16

AfD https://cdn.afd.tools/wp-content/uploads/sites/111/2021/06/20210611_AfD_Programm_2021.pdf 210 27/3

* Die Seitenformate und damit auch der Textumfang pro Seite sind verschieden

* Doppelzählungen (z.B. Corona-Pandemie) nicht herausgerechnet.