Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)16
Gewerkschaften / Soziale Bewegungen

Berufsorientierung in der Krise

01 dok „Ausbildung: innovativ“ 2021- 2023 – Auszüge aus den Vereinbarungen (Bremen)

02 dok Berufsorientierungskonzept der Integrierten Gesamtschule Willy Brandt) in Magdeburg (Auszüge)

Johann Witte, Bremen

Im letzten Jahr nahm die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um 11 % auf 467500 ab und erreichte damit den Tiefpunkt der letzten zehn Jahre. Der Rückgang war sehr stark in Bereichen, die von der Corona-Pandemie besonders betroffen sind, wie z.B. Touristikkaufrau/-kaufmann (minus 58,8 %) oder Veranstaltungskauffrau/-kaufmann (minus 36,2 %)1.Für dieses Jahr ist nicht nur wegen der Pandemie für den Herbst eine ähnliche Entwicklung zu erwarten. Ursache ist neben strukturellen Mängeln im Berufsbildungssystem ein weitgehender Ausfall der Berufsorientierung als Schnittstelle zwischen allgemeinbildender Schule und Berufsbildung.

Berufsorientierung bedeutet aber mehr und meint den individuellen Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf berufliche Möglichkeiten zunehmend konkreter verfolgt werden. Sie findet statt durch Beratung und Hilfe in der Familie, in Kindergarten und Schule und durch Einrichtungen wie Arbeitsagenturen und anderen Institutionen. Durch Betriebserkundungen, zwei- bis dreiwöchige Betriebspraktika, Test- und Beratungsprogramme der Arbeitsagenturen und anderer Träger und die Aufnahme in die Bildungspläne der 8., 9. oder 10. Jahrgangstufe als Wirtschafts-, Arbeitslehre o.ä. mit meist geringem Stundenanteil ist Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen verankert (s. Dokument 1 Auszüge aus dem Berufsorientierungskonzept einer Schule mit „vorbildlicher Berufswahlorientierung“).

Während in der Pandemie in der veröffentlichten Diskussion „systemrelevante“ Berufe im Gesundheitswesen, der Lebensmittelherstellung, in Handel und Logistik, Energieversorgung und bei den Banken ausgemacht wurden, sind die für die Jugendlichen oft entscheidenden Betriebspraktika und -erkundungen nicht nur in diesen Wirtschaftszweigen ausgefallen. Test- und Beratungsprogramme konnten nur noch über Internet und Telefon stattfinden. Dadurch wurden weniger Jugendliche als in früheren Jahren erreicht. Die großenteils wegfallende Berufsorientierung gefährdet damit auch die Beruflichkeit als Grundlage des Beschäftigungssystems.

Von den Jugendlichen selbst wird die Situation als problematisch eingeschätzt. In einer Befragung von knapp 1800 14- bis 20jährigen durch die Bertelmann-Stiftung, die jetzt veröffentlicht wurde, zeigt sich, dass über 50% der Befragten es schwer finden, sich in den Angeboten zurechtzufinden. Über 70 % schätzen, dass sich ihre Chancen auf einen Ausbildungsplatz verschlechtert haben (2020 waren es 61 %). Aufgrund von Corona finden es 70 % der Befragten schwieriger. einen Ausbildungs- oder Praktikumsplatz zu finden. Das gilt besonders bei jungen Menschen mit niedriger Schulbildung. Von den Befragten, die sich aktuell auf Ausbildungsplatzsuche befinden schätzen 54 % das Angebot als zu gering ein.2

Maßnahmen sind also nötig, um dieser Situation zu begegnen. Dokument 2 zeigt als Beispiel die Vereinbarungen, die in Bremen von einer Vielzahl von Beteiligten im März abgeschlossen wurden.

Seit 2010 spielen dabei „Jugendberufsagenturen“ eine wichtige Rolle. Es handelt sich hierbei nicht um neue Institutionen, sondern um die Zusammenarbeit vorhandener Einrichtungen mit dem Ziel, den Übergang von der Schule in den Beruf besser zu gestalten. Bundesweit beteiligten sich 2017 90 % der Arbeitsagenturen, 70 % der Jobcenter, 190 Landkreise und 156 Städte an dieser „rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit“3. Die Umsetzungsformen hierbei sind regional unterschiedlich und werden von den Beteiligten bestimmt. In Bremen sind dies seit 2015 die Arbeitsagentur, Jobcenter, die Senatsressorts Wirtschaft, Bildung und Soziales. Eine Auswertung der Tätigkeiten in Schleswig-Holstein, Bremen und Berlin liegt seit kurzer Zeit vor3. So wurde in Bremen im Juni ein Anstieg der Bewerberzahlen um knapp 8% gegenüber dem Vorjahr festgestellt.

In den letzten Jahrzehnten konnte mit ähnlichen Maßnahmen der langfristige Negativtrend in der Entwicklung der Anzahl der Ausbildungsplätze nur verlangsamt werden, was für die aktuelle Situation allerdings schon ein Fortschritt wäre. Eine Verbesserung ohne Strukturveränderungen (z.B. die Berufsschulen als gleichwertiger Partner der Betriebe, eine bessere Finanzierung der Ausbildung, Einflussnahme weiterer Beteiligter – nicht nur der Kammern- auf die Prüfungen oder die Eingliederung der Gesundheits- und Pflegeberufe in das duale System) ist allerdings kaum denkbar.

1,2 https://www.servicestelle-jba.de/wws/Gastbeitrag-uebergang-in-corona-zeiten

3 https://www.ueberaus.de/wws/gastbeitrag-kiepenheuer-drechsler.php

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dok „Ausbildung: innovativ“ 2021- 2023 – Auszüge aus den Vereinbarungen

Ziele von Ausbildung: innovativ. Die Partner von Ausbildung: innovativ verbindet das gemeinsame Ziel, die berufliche Ausbildung im Land Bremen zu stärken und die Zahl der besetzten Ausbildungsplätze zu erhöhen. Konkret sollen die Zahlen, der im Jahr 2020 als weiter suchend registrierten Bewerber:innen sowie der als unbesetzt gemeldeten Berufsausbildungsstellen (bis 2023) zumindest halbiert werden. Dies setzt voraus, dass sich die wirtschaftliche Lage zeitnah wieder normalisiert.

1. Die berufliche Orientierung für junge Menschen als Basis für einen erfolgreichen Übergang und Ausbildungsabschluss zu stärken. Mit dem Ausbau und der Umsetzung von (neuen) digitalen Berufsorientierungsangeboten soll das bisherige Angebot ergänzt und gestärkt werden.

Mit dem geplanten Abschluss der Vereinbarung der Initiative „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ zwischen dem Bund, der Bundesagentur für Arbeit und der Freien Hansestadt Bremen wird die berufliche Orientierung aller Schüler:innen bis 2026 fortgesetzt. Damit werden die Elemente „Berufswahlpass“, „Potenzialanalyse“, „Werkstatt-Tage“ und „Praktikum“ weiterhin flächendeckend an allen Schulen angeboten. Der Berufswahlpass wird derzeit „digitalisiert“.

2. Die Übergänge in Ausbildung systematisch und erfolgreich zu gestalten.

Die Partner:innen vereinbaren die Sicherstellung eines systematischen Übergangsmanagements unter Nutzung bzw. Ausbau der Strukturen der Jugendberufsagentur. Ziel ist es, das Übergangssystem so auszurichten, dass die Schüler:innen ihre Startchancen entscheidend verbessern können und ihnen der Übergang in Ausbildung bruchloser gelingt.

3. Das Matching zwischen potentiellen Ausbildungsbewerber:innen und Unternehmen zu verbessern. Ein erfolgreiches Matching von jungen Menschen und Betrieben verhindert Ausbildungsabbrüche und ist grundlegend für eine erfolgreiche Ausbildung Durch eingehende Beratungen, Kompetenzeinschätzungen und Profilings soll eine Verbesserung der Passung von Erwartungen der ausbildungsinteressierten jungen Menschen und der Betriebe erreicht werden.

4. Das Ausbildungsplatzangebot zu sichern und bedarfsbezogen zu erweitern. Zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen sollen ungenutzte betriebliche Ausbildungskapazitäten erschlossen werden. Hier wird insbesondere auf Betriebe mit Ausbildungsbefähigung gezielt.

Um dem Fachkräftemangel im Bereich Erziehung und Gesundheit entgegenzuwirken, soll im ersten Schritt eine vollständige Besetzung der Ausbildungskapazitäten in den schulischen Ausbildungen unterstützt werden, um die Ausbildungskapazitäten dann weiter zu erhöhen

5. Die Ausbildungsqualität verbessern. Um Ausbildungsabbrüchen entgegen zu wirken, soll die Ausbildungsqualität an den Lernorten Betrieb und Berufsschule gestärkt und sollen niedrigschwellige Unterstützungsangebote für Auszubildende, Ausbilder:innen und Betriebe ausgebaut werden Zur Verbesserung betrieblicher Ausbildungsqualität soll ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, wie die Ausbildungsordnung in einen betrieblichen Ausbildungsplan übersetzt werden kann

Die Partner:innnen der Vereinbarung sind: Agentur für Arbeit und Jobcenter Bremen und Bremerhaven, Arbeitnehmerkammer, DGB, Unternehmensverbände Bremen, Kreishandwerkerschaften, Arbeitgeberverband Handwerk, 2 Dezernate des Magistrats Bremerhaven, Senatorinnen für Kinder/Bildung, Soziales/Jugend, Wirtschaft/Arbeit und folgende Kammern: Apotheker, Ärzte, Notare, Gartenbau, Handelskammer, IHK, Handwerk, Rechtsanwälte, Steuerberater, Landwirtschaft, Tierärzte, Zahnärzte

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dok Berufsorientierungskonzept der Integrierten Gesamtschule Willy Brandt ( eine Schule mit „vorbild- licher Berufswahlorientierung“) in Magdeburg (Auszüge)

„Die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Angeboten und Anforderungen erfordert viel Zeit und einige Geduld. Deshalb beginnt die Berufsorientierung bei uns schon in den unteren Klassen

Jahrgang 7 • Übergabe der Berufswahlpässe im Wirtschaftsunterricht • Elterninformationsabend • Zweitägige Potentialanalyse im ÜAZ (überbetriebliches Ausbildungszentrum) Magdeburg = Kennenlernen von verschiedenen Berufsfeldern

Jahrgang 8 • 14-tägiges Schüler-Betriebspraktikum • Bewerbungstraining mit der Berufsberaterin der Agentur für Arbeit • Hilfe zur Durchführung von Ferienpraktika • Betriebserkundungen

Jahrgang 9 • Projektwoche zur Berufsorientierung mit Modulen zur Bewerbungsmappe, Vorstellungs- und Bewerbungsgespräch, Bewerbertraining, Arbeitgebertage • 14-tägiges Schüler-Betriebspraktikum • Teilnahme Messe Vocatium – Fachmesse für Ausbildung und Studium

Jahrgang 10 • Arbeitgebertag ffentlicher Dienst • Fächerübergreifendes Bewerbungstraining

Jahrgang 11 – 13 • Wöchentliche Sprechstunden durch die Berufsberaterin • Teilnahme am Berufswahltest • Projektwoche zur Studienorientierung“

Quelle: http://www.igs-brand.bildung-lsa.de/startseite/unsere-schule/berufsorientierung

Quelle: https://www.wirtschaft.bremen.de/sixcms/media.php/13/Vereinbarung%20Ausbildung%20innovativ.pdf