Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)21
Rechte Provokationen – Demokratische Antworten

Interview mit Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Partei Die Linke im hessischen Landtag zur Arbeit in Untersuchungsausschüssen

01 kasten: Hermann Schaus bei der ersten öffentlichen Sitzung des Lübcke-Untersuchungs- ausschusses im hessischen Landtag:

02 kasten: Janine Wissler. Die Linke im hessischen Landtag fordert Freigabe der NSU-Akten:

„Wenn wir das gewusst hätten …“ -

Olaf Argens, Schmitten. Vor vier Monaten hatte der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum Mord an Dr. Walter Lübcke – CDU-Politiker und Regierungspräsident in Kassel – seine Arbeit aufgenommen. Der Neonazi Stephan Ernst war bereits im Januar wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Den Mitangeklagten Markus Hartmann hatte das OLG Frankfurt von der Beihilfe zum Mord aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linken im Landtag und stellvertretender Ausschussvorsitzender, hat uns ein Interview gegeben.

Wie genau lautet der Untersuchungsauftrag?

Der Ausschuss hat den Auftrag, das Handeln und Unterlassen der Landesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden aufzuklären, die im Zusammenhang mit der Beobachtung der Personen Stephan E. und Markus H. und deren Umfeld durch den Verfassungsschutz (VS) stehen oder stehen könnten. Hier ist insbesondere zu prüfen, wieso Stephan E. und Markus H. nicht weiter vom VS beobachtet worden sind, wann sie intern als „abgekühlt“ eingestuft wurden und wie diese Entscheidung zustande kam. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu erörtern, dass Stephan E. noch 2009 in einem Dokument des VS als „brandgefährlich“ eingestuft wurde. Des Weiteren sollen etwaige Verbindungen bzw. die dienstliche Befassung des ehemaligen V-Mann-Führers Andreas T. mit Stephan E. und Markus H. aufgeklärt werden. Ferner soll aufgeklärt werden, inwieweit die Landesregierung und die jeweiligen Innenminister das Parlament und die Öffentlichkeit hierüber sowie über ihre Kenntnisse über neonazistische Strukturen in Nordhessen, wahrheitsgemäß, zeitnah und vollständig informiert haben.

Wie erklärst du dir bis jetzt, dass VS und Polizei die Gefahr, die von Ernst ausging, so falsch eingeschätzt haben?

Wir stellen fest, dass es weder eine Zusammenarbeit innerhalb der Polizei noch der Polizei mit dem VS gab. So wurden normale Straftaten aus der Nazi-Szene nicht an den Staatsschutz weitergegeben, obwohl ihre Büros auf dem gleichen Flur im Polizeipräsidium liegen. Auch vom VS bekam der Staatsschutz zu den beiden Angeklagten keine Informationen. So tappten alle Beteiligten im Dunkeln und es kam zu Fehleinschätzungen.

Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Fromm, hatte, nach dem Auffliegen des NSU in einer Rede festgestellt: „Terrorismus braucht einen Resonanzboden. Er braucht Unterstützer und Sympathisanten“. Ist diese Erkenntnis seit 2011 stärker in die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden eingeflossen?

Leider nein! Wir müssen weiter feststellen, dass die Sicherheitsbehörden, nicht genau hinsehen und insbesondere rassistische Gruppen als eher harmlos angesehen haben und deren Straftaten selten sofort als politisch motivierte Kriminalität (PMK) – rechts eingestuft wurden. Selbst nach den Erfahrungen der NSU-Untersuchungsausschüsse hat sich daran in der Praxis wenig geändert. Wenn ein Waldstück gegen den Autobahnausbau besetzt wird, dann wird das sofort als PMK-links eingestuft. Wenn Nazi-Kameradschaften auf einer Kirmes Flüchtlinge verprügeln, dann wird das noch immer meist als Schlägerei ohne politischen Hintergrund eingestuft.

Ernst und Hartmann waren maßgeblich an der Herstellung und der Verbreitung jenes Videos beteiligt, das auf einer der Bürgerversammlung mit Lübcke aufgenommen und das – rückblickend – die Stimmung in der rechtsradikalen Szene, und darüber hinaus, für den Mord geschaffen hat. Warum hat die Polizei hier nicht eingegriffen?

Wir sind noch damit beschäftigt, die Ermittlungsakten dazu zu sichten. Es hat den Anschein, dass es seitens Polizei und VS hierzu kaum Wahrnehmungen gegeben hat. Die langjährigen Aktivitäten der beiden im Internet oder auf Twitter wurden offenbar nicht beobachtet.

Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass in den medialen Hetzkampagnen eine Unmenge von Straftaten angelegt sind, die gar nicht erst verfolgt werden. Welche realistischen Möglichkeiten siehst du, dass sich das ändert?

Erst nach dem Mord an Dr. Lübcke wurde erkannt, dass eine intensive Beobachtung von rechten und rassistischen Aktivitäten im Netz, wie auch der sich daraus ergebenden Hetzkampagnen notwendig ist. Er wurde erst daraufhin in Hessen eine spezielle Polizeiabteilung aufgebaut, die zwischenzeitlich auch gegen Hass-Posts rechtlich vorgeht.

Ernst war bis 2019 verstärkt im Umfeld von AfD und Kagida im Raum Kassel tätig. Wenn man bedenkt, dass immer wieder Verbindungen aus der hessischen Polizei in das rechte und rechtsradikale Milieu aufgedeckt werden, könnte auch hier Grund für das Behördenversagen liegen. Gibt es dafür Anhaltspunkte?

Ernst, aber auch seine Freunde, haben sich aktiv im Kasseler Ableger von Pegida und bei der AfD betätigt. So hat Ernst der Thüringer AfD Geld gespendet, im Landtagswahlkampf 2018 Plakate geklebt und an Veranstaltungen teilgenommen. Dies kam aber erst jetzt durch Medienrecherchen ans Tageslicht.

Für rechtsradikale Gewalttaten gibt es häufig keine langfristigen Planungen und Befehle (mehr) und der „Zufall“ spielt eine Rolle. Was folgt daraus?

In der Nazi-Szene gibt es zahlreiche über-, ja sogar internationale Verbindungen und Vernetzungen. Obwohl sich dort auch viele V-Leute des VS tummeln, gelingt es nicht, entscheidende Einblicke und ein Frühwarnsystem aufzubauen. Deshalb muss die Frage gestellt werden, ob diese erfolglose Arbeit des VS nicht beendet werden muss. Die Szene begeht nach dem Prinzip des „führerlosen Widerstands“ Anschläge und Überfälle auf Flüchtlinge und Andersdenkende. Das macht die Arbeit der Sicherheitsorgane schwierig. Wenn aber nach wie vor rassistische und rechtsterroristische Gewalttaten nicht als solche erkannt und eingestuft werden, dann bleiben die Ermittlungen erfolglos.

Wie geht der Ausschuss damit um, dass Erkenntnisse in vielen Fällen nicht öffentlich gemacht werden dürfen?

Wir erhalten für unsere Arbeit auch als geheim eingestufte Akten. Dazu dürfen wir in öffentlicher Sitzung allerdings keine Zeugen befragen. Auch dürfen wir unsere Erkenntnisse nicht in die Öffentlichkeit tragen. Das erschwert unsere Arbeit sehr. Hinter den Kulissen findet deshalb eine Auseinandersetzung über die richtige Einstufung der Akten statt. So konnten wir als Die Linke im NSU-Untersuchungsausschuss nach langer interner Diskussion mit der Landesregierung und dem VS erreichen, dass der allgemeine Teil des Berichts herabgestuft werden musste. Erst danach konnten wir den für 120 Jahre gesperrten Bericht in öffentlicher Sitzung ansprechen, sonst wäre dies nie in die Öffentlichkeit gekommen.

Martin Steinhagen hat in seinem Buch „Rechter Terror …“ (1) festgestellt, dass der VS nicht „blind“ ist, sondern Erkenntnisse nicht verarbeitet und zur Verfügung stellt. Wie erklärst du dir das?

Die Arbeitsteilung innerhalb des VS versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Die einen beschaffen Informationen über ihre V-Leute und geben sie an eine Auswertungsgruppe weiter. Die sitzt in Wiesbaden und bewertet oftmals anders als die Beschaffer vor Ort. Zudem gibt es innerhalb des VS nach wie vor eine „Mentalität der besonderen internen Geheimhaltung“, so dass Informationen, mehr als „eigener Schatz“ gehütet werden, anstatt sie mit den anderen zu teilen. Dass es dabei zu Fehleinschätzungen kommt oder Dinge übersehen werden, verwundert dann nicht.

Es entsteht der Eindruck, dass das Bedürfnis, Vorgänge zu klären und dem auch Taten folgen zu lassen, bei den Grünen, der SPD, aber auch in der CDU gewachsen ist. Trifft das zu?

Wir haben gemeinsam mit den Oppositionsparteien SPD und FDP den Einsetzungsantrag sowohl zum Lübcke-Untersuchungsausschuss als auch zum Hanau-Untersuchungsausschuss eingebracht. Da mehr als 20% der Abgeordneten den Antrag unterschrieben hatten, war das erforderliche Quorum bereits vor der Beschlussfassung erfüllt. CDU und Grüne hatten jeweils zugestimmt, aber insbesondere die CDU betonte in den Debatten stets, dass kein Ausschuss notwendig sei. Sie konnten ihn nicht verhindern, deshalb haben sie mehr aus taktischen Gründen zugestimmt als aus Überzeugung in die Notwendigkeit der Aufklärung.

Welche Rolle spielt das System der V-Leute bei den zu untersuchenden Vorgängen?

Dass die Arbeit des VS bei rassistischen und faschistischen Ermittlungen auf vom Staat bezahlten Spitzel beruht, macht das gesamte System der Informationsbeschaffung sehr fragwürdig. Oft habe ich sogar den Eindruck, dass von diesen bezahlten Neo-Nazis auch gezielt falsche oder unvollständige Informationen weitergegeben werden, um andere Spuren zu verwischen.

Zudem greift der VS oft auf Rechercheergebnisse der Antifa oder anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen zurück. Durch ein solch undurchschaubares und noch dazu unkontrollierbares System kann unsere Verfassung nicht erfolgreich geschützt werden!

In der Broschüre „Wenn wir das gewusst hätten …“ (2) fordert ihr, dass zivilgesellschaftliche Gruppen, die seit langem ihre Erkenntnisse – im Gegensatz zum VS – der Öffentlichkeit zugänglich machen, stärker gefördert werden sollten. Bewegt sich etwas in diese Richtung?

Leider nein! Ich habe eher den gegenteiligen Eindruck, denn nach dem NSU wurden die Verfassungsschutzbehörden weiter ausgebaut und personell sogar erheblich verstärkt.

Zudem wurden die bis dahin „szenenüblichen Straftaten“ von V-Leuten legalisiert!

Leider gibt es innerhalb der Bevölkerung derzeit nur ein geringes Interesse, dieses verfassungsrechtlich unkontrollierbare System der Geheimdienste dauerhaft kritisch zu hinterfragen und auf eine grundlegende Änderung zu drängen. Wir machen dennoch mit unserer Aufklärungsarbeit weiter!

(1) Martin Steinhagen, Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, 2021, (2) „Wenn wir das gewusst hätten …“ Neofaschistische Akteure und Netzwerke in Nordhessen, Die Linke im Hessischen Landtag, 2020

01

Hermann Schaus bei der ersten öffentlichen Sitzung des Lübcke-Untersuchungs- ausschusses im hessischen Landtag:

30.3.2021„Die Linke hätte sich größtmögliche Transparenz gewünscht, beispielsweise indem Besucher wenigstens Lifevideoübertragungen in anderen Räume des Landtags verfolgen können. Dies ist leider nicht möglich. Deshalb setzen wir uns nun für eine Audio-Übertragung ein, damit Interessierte die Sitzungen im Landtag mitverfolgen können.“

„Wir sind es den Opfern rechter Gewalt, deren Hinterbliebenen und der Öffentlichkeit schuldig, endlich das Behördenversagen im Kampf gegen rechte Gewalt aufzuklären und abzustellen. Es ist höchst bedauerlich, dass dazu überhaupt Untersuchungsausschüsse notwendig sind. Da auch der Prozess wegen des Mordes an Dr. Walter Lübcke in weiten Teilen nicht über die Schuld des Haupttäters hinausgekommen ist, liegen die Netzwerke und Behördenfehler weiter im Dunkeln. Hier gilt es, Licht ins Dunkel zu bringen.“

02

Janine Wissler. Die Linke im hessischen Landtag fordert Freigabe der NSU-Akten:

19.5.2021. „Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mehr als 130 000 Menschen haben eine Petition unterzeichnet, in der gefordert wird, die NSU-Akten freizugeben.

Der NSU ermordete zehn Menschen aus rechten, aus rassistischen Motiven – in Kassel den erst 21-jährigen Halit Yozgat. Obwohl sich jahrelang Untersuchungsausschüsse mit den Verstrickungen der Geheimdienste befassten, sind viele Fragen bis heute nicht geklärt, gerade in Hessen, wo ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz zur Tatzeit am Tatort war und der damalige Innenminister Bouffier die polizeiliche Vernehmung mit dem Hinweis auf den Quellenschutz behinderte.

Herr Bellino, mit den NSU-Akten ist der geheim gehaltene Bericht des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz gemeint und nicht 2 000 Akten. (Beifall Die Linke und SPD)

Es ist ein Bericht gemeint, in dem intern geprüft wurde, ob und welche Hinweise beim LfV auf den NSU vorlagen. Für 120 Jahre war dieser Bericht als geheim eingestuft worden, also bis ins Jahr 2134. Dieser Bericht ist zu einem Symbol für das Mauern der Behörden geworden, wenn es um den NSU geht.“

Abb. (PDF): Die Broschüre „Wenn wir das gewusst hätten …“ ist im Mai 2020 erschienen. Herausgegeben wurde sie von der Fraktion Die Linke im hessischen Landtag. Mitgearbeitet haben die VVN-BdA KV Kassel, das Mobile Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus – für eine demokratische Kultur e.V., das Demokratiezentrum Hessen, das Bündnis gegen Rechts Kassel, die Initiative nachgefragt, AfD KasselWatch, Belltower News, die antifaschistische Rechercheplattform EXIF und die Initiative 6. April.

Die Linke erklärt im Prolog der Broschüre: Bis heute wurden die wesentlichen Hinweise auf die jahrzehntelange intensive Einbindung der Angeklagten in die rechten Strukturen überwiegend von Recherchenetzwerken des antifaschistischen Widerstands ermittelt. Die Broschüre dokumentiert den derzeitigen Kenntnisstand über die Hintergründe und Verflechtungen rechter Netzwerke in Nordhessen. Sie kann bestellt werden über: die-linke@ltg.hessen.de