Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)25
Diskussion - Dokumentation - Ankündigungen

Große und kleine Katastrophen, großes und kleines Kompetenzwirrwarr

Johannes Kakoures, München

Katastrophen können Themen mit einem Schlag in den Hintergrund schieben oder aber umgekehrt wie ein Brennglas die Aufmerksamkeit auf Angelegenheiten richten, für die sich sonst kein Mensch interessiert hätte. Auffallend scheint jedenfalls zu sein, dass in den letzten zwei Jahren die Kompetenzverteilung zwischen unterschiedlichen staatlichen Ebenen wie selten zuvor in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt ist. So konnte nicht nur der Verfasser das Bild vom „Flickenteppich“ der angeblich den Umgang des Bundes und der Länder mit der sich damals auf einem ihrer Höhepunkte befindlichen Corona-Krise kennzeichnete und in der medialen Berichterstattung gefühlt in jeder Nachrichtensendung dutzendfach bemüht wurde, nicht mehr hören. Auch angesichts der Unwetterkatastrophe im Westen Deutschlands stand schnell die Frage im Zentrum, ob der Bund oder die betroffenen Länder versagt hatten.

Etwas weniger dramatisch erscheint vor diesem Hintergrund der Kompetenzkonflikt, den das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil zu den Anleiheankäufen der EZB verursacht hat. Angesichts der enormen Bedeutung der EU für die Friedenssicherung in Europa muss dieser Konflikt jedoch keinesfalls undramatisch bleiben. Jedenfalls zeichnet sich ab, dass die entsprechenden Aufräumarbeiten kaum weniger langwierig werden als in den zerstörten Orten entlang der Ahr.

Was hat sich seitdem getan?

Zur Erinnerung: Mitten in der Hochphase des ersten Lockdowns, am 5. Mai 2020, verkündete das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, wonach die fortgesetzten Anleiheankäufe der EZB gegen deutsches Verfassungsrecht verstießen. Die Politischen Berichte berichteten ausführlich. Seitdem hat sich einiges getan:

Keine Vollstreckung durch das BverfG

Einer drohenden Ungewissheit ist das Bundesverfassungsgericht unter neuem Vorsitz selber aus dem Weg gegangen. So ist trotz einer Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, wonach das Gericht selber Anordnungen erlassen kann, wie und von wem seine Urteile zu vollstrecken sind, diese Vollstreckung mangels bisheriger Anwendungsfälle weitgehend ungeklärt. Ziemlich klar dürfte jedenfalls sein, dass, wenn das Gericht in die Lage kommt, seine Urteile gegen die Bundesregierung oder andere Verfassungsorgane vollstrecken zu müssen, eine sehr tiefe Verfassungskrise sehr weit eskaliert sein wird.

Vorliegend hatte das Gericht in seinem Ersturteil bemängelt, dass die EZB ihrer Abwägungspflicht nicht nachgekommen sei. Die EZB hatte daraufhin der Bundesregierung weitere Unterlagen über ihre Entscheidung zur Verfügung gestellt und war somit formell den Anforderungen des Gerichts nachgekommen. Die Antragssteller hatten dies jedoch als ungenügend angesehen und daher versucht, das Bundesverfassungsgericht zum Erlass einer Vollstreckungsanordnung zu bewegen, also tatsächlich den Verfassungskonflikt zum Eskalieren zu bringen. Das Gericht hat diesen Antrag mit einer auffallend ausführlichen doppelt begründeten Entscheidung abgelehnt. So hat es zum einen festgestellt, dass die Anträge schon unzulässig seien, da EZB und Bundesregierung durch den Austausch der Unterlagen jedenfalls Maßnahmen ergriffen hätten. Ob diese Maßnahmen den Anforderungen des Urteils genügen, könne nicht im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens geklärt werden, was jedoch Voraussetzung für den Erlass einer Anordnung wäre. Vielmehr müsste eine neue Verfassungsbeschwerde eingereicht werden. Hiermit hat das Gericht den Weg zurück in die richterliche Zurückhaltung gefunden. Anderenfalls hätte die Möglichkeit bestanden, dass das Gericht die dogmatischen Grundlagen dafür schafft, ein von ihm überprüftes Gesetz so lange im Zusammenwirken mit den Antragstellern zu prüfen, bis der Gesetzgeber eine dem Gericht passende Fassung schafft. Ferner wurde aber auch – nach Feststellung der Unzulässigkeit keineswegs mehr notwendig – entschieden, dass der Antrag auch unbegründet wäre und die getroffenen Maßnahmen von EZB und Bundesregierung ausreichend sind. Auf dem Verfassungblog wurde die wahrscheinliche Vermutung geäußert, dass das Gericht mit dieser ausführlichen Begründung weiteren Klagen in der selben Sache vorbeugen wollte.

(https://verfassungsblog.de/das-ende-eines-epochalen-verfassungsstreits/)

Ob damit, wie der Titel des entsprechenden Artikels nahelegt, bereits „Das Ende eines epochalen Verfassungsstreites“ erreicht ist, erscheint jedoch trotzdem noch offen. Weder die politische noch die juristische Diskussion ist beendet, wie die weiteren Ereignisse zeigen

Vertragsverletzungsverfahren gegen die BRD

So ist jedenfalls für die EU-Kommission der Streit noch keinesfalls beendet. Diese leitete vielmehr im Juni dieses Jahres ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die BRD ein. Das Vertragsverletzungsverfahren nach dem Artikel 258 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist tatsächlich ein sehr gutes Beispiel für das der EU zu Grunde liegende Kooperationsprinzip. So kennen die genannten Artikel keine unmittelbare Durchgriffsgrundlage. Das Verfahren wird von der EU-Kommission eingeleitet, die, wenn sie der Auffassung ist, dass EU-Recht von einem Mitgliedsstaat nicht oder schlecht umgesetzt wird, diesen zunächst auffordert, weitere Informationen bei ihr einzureichen. Genügen diese nicht, wird der Mitgliedsstaat erneut zur Stellungnahme aufgefordert. Erst wenn die EU-Kommission dann immer noch der Auffassung ist, dass der Mitgliedsstaat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, kann sie den EuGH anrufen, der dann einen Verstoß gegen EU-Recht verbindlich feststellt. Bestehen dann immer noch Anwendungsfehler, muss die Kommission erneut zum Gericht und erst jetzt kann der EuGH auch Sanktionen, und zwar ausschließlich finanzielle verhängen. Auch wenn es sich also der gesamten Anlage nach eher um einen hochformalisierten Diskussionsprozess handelt, ist die Einleitung im vorliegenden Fall selber wiederum nicht unproblematisch. Sollte die EU-Kommission, was sie jederzeit könnte, das Verfahren nicht vorzeitig beenden, kommt der EuGH in die wenig glückliche Situation, Richter in eigener Sache zu werden. Auch ist unklar, was die Bundesregierung konkret unternehmen soll.

Bei aller Kritik an diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist doch klar, dass es sich seinen weltweit guten Ruf nicht nur als kompetentes, sondern eben auch als unabhängiges Gericht erarbeitet hat. Gerade die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz und gerade der Verfassungsgerichtsbarkeit ist aber das, was die EU etwa in Polen und Ungarn moniert. Will sie in diesen Fällen nicht unglaubwürdig werden und vor allem will sie nicht grundlegende rechtsstaatliche Strukturen in Fragen stellen, kann sie unmöglich auf ein politisches Einwirken auf ein Verfassungsgericht hinwirken.

Die anderen

Dass sich andere Mitgliedsstaaten und ihre Gerichte von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ermutigt sehen würden, von der Rechtsprechung des EuGHs abzuweichen, wenn ihnen diese nicht in den Kram passt, war einer der am frühesten und deutlichsten geäußerten Befürchtungen, die in den Diskussionen nach dem Urteil geäußert wurden. Bislang scheint eine größere Abfallbewegung vom EuGh aber ausgeblieben zu sein. Die spektakuläreren Vertragsverletzungsverfahren betrafen allesamt Entscheidungen im politischen Raum, wie die Nichtaufnahme von Flüchtlingen durch Polen, Ungarn und Tschechien und der Verstoß gegen Grundwerte der EU durch das ungarische Gesetz gegen die Aufklärung über Homosexualität in der Schule. Es sieht so aus, als bliebe das Bundesverfassungsgericht hier zunächst allein.

Eine große Ausnahme?

Neben der formellen Auseinandersetzung durch Gesetzgebung und Urteile werden auch juristische Debatten manchmal ganz banal zwischen Menschen, z.B. auf Podiumsdiskussionen oder wie momentan üblich in Videokonferenzen oder Zoom-Schalten. Zu einer solchen etwas seltsamen Zusammenkunft lud nun Ende Juni die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen ein (https://www.youtube.com/watch?v=BmwUz_0Vp1M). Auf dem virtuellen Podium saßen Professor Christian Calliess, ein renommierter Verfassungsrechtslehrer von der FU Berlin und Kritiker der Entscheidung des BVerfG sowie Andreas Voßkuhle selber, ehemaliger Vorsitzender des Gerichts, der die umstrittene Entscheidung mitverfasst und diese auch als letzten Akt seiner Amtszeit verkündet hatte. Was im politischen Raum eine gute und unproblematische Sache ist, nämlich diejenigen, die Entscheidungen treffen und ihre Kritiker zu einem Gespräch zusammen zu bringen, ist im Rechtswesen nicht ebenso unproblematisch. Ein ungeschriebener Rechtsgrundsatz lautet: „Der Richter spricht durch sein Urteil.“ (Juristische Grundsätze entstammen in ihrer überragenden Mehrzahl Zeiten, als an Gendern noch nicht zu denken war.)

Ein Hintergrund dieses Grundsatzes ist, dass die Gerichte vor politischer Einflussnahme durch die öffentliche Debatte geschützt werden sollen. Einzig die Argumentation des Urteils soll dieser unterworfen werden, nicht aber die Person des Richters oder der Richterin. Zudem soll der Eindruck, ar auch der Anreiz vermieden werden, durch ein Urteil politische oder mediale Aufmerksamkeit erheischen zu wollen. Insoweit ist es nicht unkritisch, wenn die Landesvertretung eines Bundeslandes, dessen Ministerpräsident Bundeskanzler werden will, einen Bundesrichter einlädt, um sein eigenes Urteil zu besingen, und dieser der Einladung auch noch ohne erkennbare Skrupel folgt. Auch das Gesagte war keinesfalls unproblematisch. Zwar versuchte Voßkuhle die Entscheidung als reinen Ausnahmefall darzustellen, der der permanenten Regel, dass das Bundesverfassungsgericht stets zurückhaltend und europafreundlich entschieden habe, nicht entgegenstehe. Vielmehr müsse es solche Ausnahmen sogar geben, da die EU eben kein Bundesstaat mit absolutem Geltungsvorrang des Rechts der höheren Ebene sei. Das es zu Ultra-Vires, also zu Beschränkungen von Kompetenzüberschreitungen durch nationale Verfassungsgerichte komme, bestätige also gerade die Grundstruktur der EU als supranationales Gebilde eigener Art, dass „noch kein Bundesstaat, aber doch mehr als eine bloße völkerrechtliche Vereinbarung“ sei. Es sei lange bekannt, dass es eine unterschiedliche Auffassung zwischen dem EuGH, der das EU-Recht als autonomes Recht mit absolutem Vorrang sehe, und den Gerichten der Mitgliedsstaaten gäbe, die die Mitgliedsstaaten als „Herren der Verträge“ betrachten. Die Mitgliedsstaaten wiederum seien an ihre jeweiligen Verfassungen gebunden. Voßkuhle ließ sich dann aber zu sehr denkwürdigen Bemerkungen hinreißen, namentlich sah er durch das oben angesprochene Vertragsverletzungsverfahren die Gefahr eines „kollusiven“ (gemeinschaftlich gegen einen Dritten) Zusammenwirken von EU-Kommission und EuGH auf dem Weg zu einer „Einführung eines Bundesstaates auf kaltem Wege“ gegeben.

Zum anderen bestätigte er, dass das höchste italienische Gericht, die Entscheidung zu den Anleiheankäufen so wohl nicht getätigt hätte, da „Italien andere Interessen“ habe. Ob es die Vermutung entkräftet, man würde durch seine Urteile eine eigene politische Agenda verfolgen, wenn man eben diesen Vorwurf gegen Dritte erhebt, sei an dieser Stelle dahin gestellt. Jedenfalls bestätigte Prof. Calliess, dass die Debatte über die Grenzen der Kompetenz von EU-Institutionen geführt werden müsse. Er schlage vor, diese Grenze bei der verfassungsrechtlichen Diskussion erst dann zu ziehen, wenn die „Verfassungsidentität“ der Mitgliedsstaaten in Gefahr sei. Ob dies bei einer rein finanzpolitischen Entscheidung der EZB schon der Fall sei, sei zweifelhaft. Er hätte es, wenn das Bundesverfassungsgericht dies so sehe, jedenfalls vorgezogen, den Fall noch einmal dem EuGH vorzulegen. Dann hätte das Bundesverfassungsgericht auch begründen müssen, inwieweit es die Verfassungsidentität der BRD bedroht sieht. Er sprach zudem einige in der Debatte befindlichen Lösungsvorschläge an, etwa die Errichtung eines eigenständigen Kompetenzgerichts oder einen formalisierten Austausch der Verfassungsrichterinnen und -richter, ohne in einem dieser Vorschläge eine wirklich grundlegende Lösung des grundlegenden Problems zu sehen.

Andreas Voßkuhle hatte darauf hingewiesen, dass trotz der Entscheidung der Präsident des EuGHs beim sechzigsten Geburtstag des Berichterstatters des zuständigen Senats des Bundesverfassungsgerichts Gast war und angekündigt hat, auch zum siebzigsten zu kommen. Der geschilderte Verlauf der Debatte zeigt, dass dies wohl nicht ausreichen wird, die Probleme um die Kompetenzen von EU und Mitgliedsstaaten auszuräumen.

Abb. (PDF): Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Erstveröffentlichung unter dem französischen Originaltitel De l’esprit des loix in Genf 1748 anonym in Genf, 1751 von der Inquisition auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, elftes Buch, Kap. 4:

„Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben.“

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Vom_Geist_der_Gesetze, Abb. ebd., gemeinfrei.