Politische Berichte Nr.4/2021 (PDF)30a
Kalenderblatt 1. Juli 1925

1. Juli 1925 Deutsches Reich Berufliche Erkrankungen werden Versicherungsfall Am 10. Juni 1925 nimmt die 1919 gegründete Internationale Arbeitsorganisation ILO die Übereinkunft C018 zur Entschädigung von Berufskrankheiten an und schlägt sie den Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung vor „Berufskrankheit” – ein Begriff wird geprägt Schornsteinfegerkrebs

1. Juli 1925 Deutsches Reich

Berufliche Erkrankungen werden Versicherungsfall

Rolf Gehring, Brüssel

Arbeitsunfälle, ein frühzeitiger Verschleiß und Krankheit gehören seit jeher zum Lebensalltag. In der sich rasch ausbreitenden Industrialisierung, die Dampf, große Maschinerie, bald auch chemische Stoffe in großem Maßstab einsetzt, werden die gleichen Begleiterscheinungen achselzuckend zur Kenntnis genommen, in tiefen Minen und hinter schweren Fabriktoren unsichtbar gehalten. Niemand erhält im Falle einer Berufskrankheit Unterstützung, keiner wird entschädigt. Prävention ist in den Betrieben kein Thema, Ausnahmen finden sich zuerst dort, wo staatliche Fabrikinspektionen eingesetzt werden, um öffentlich skandalisierte Missstände zu untersuchen.

Vor dem Hintergrund der Vertragsgestaltung von Arbeitsbeziehungen, die den Lohnarbeiter nicht auf die Arbeit reduziert, sondern daneben (tendenziell) als Bürger mit eigenem öffentlichen und privaten Leben anerkennt, und vor dem Hintergrund der Proklamation allgemeiner Menschenrechte, wie dem Recht auf Unversehrtheit, entsteht ein Raum der Kritik an gesundheitszerstörenden Bedingungen in der Arbeit. Der einzelne Beschäftigte hat (am Beginn der Industrialisierung) keine Mitsprache über die Zwecke und die Organisation der Produktion, ist vertraglich auf eine spezifische Funktion in der Arbeitsteilung verpflichtet, aber er bleibt formal Bürger mit seinen unveräußerlichen Rechten.

Die entstehende Arbeiterbewegung, humanistische Strömungen und veröffentlichte Berichte von Fabrikinspektoren stärken die öffentliche Wahrnehmung. In Kombination mit der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Forschung bezogen auf die Arbeitsbedingungen wird eine genauere Sicht auf die je spezifischen Bedingungen der Arbeit möglich, Kausalitäten von Belastungen und Erkrankungen werden belegt. Die medizinischen Erkenntnisse tragen zur Legitimierung oder besser zur Anerkennung der Kritik bei. Jedoch: „Die langsame Akkumulation von Daten reicht nicht aus, um den Staat zum Erlass von Gesetzen zu bewegen. Aber sie verändert die Lage und nötigt die Arbeitgeber eine Gegenargumentation zu entwickeln.“ (J. Rückert, S. 200)

Geschlossene Fabriktore hindern nicht daran, in der Öffentlichkeit zu berichten; die Diskussionen von verschleißenden Arbeitsbedingungen, schädlichen Stoffen, taubmachendem Lärm und abgeleitete politische Forderungen werden Gegenstand der öffentlichen Diskussion. So werden ab Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern gewissermaßen als erste institutionelle Einrichtungen Fabrikinspektionen eingerichtet, die sich mit Arbeitsbedingungen und Erkrankung befassen.

Durch den medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn wird die soziale und rechtliche Anerkennung von Berufskrankheiten aber zu keiner apolitischen Veranstaltung, die zwanglos den gesammelten empirischen Daten und dem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn folgt. Fast für jede Berufskrankheit kann gezeigt werden, wie Wissenschaftler, Hygieniker oder auch Gewerkschaften Bündel von Daten, empirischen oder epidemiologischen Erkenntnissen oder Beschreibungen von Expositionssituation zusammentragen und parallel andere Wissenschaftler dies durch andere Untersuchungen oder epidemiologische Studien zu widerlegen versuchen.

Dennoch werden relativ zeitgleich die erste deutsche Berufskrankheitenverordnung und die erste ILO-Liste der Berufskrankheiten verabschiedet: die am 1. Juli 1025 erlassene „Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“. 1928 wird die Beschränkung der Berufskrankheiten auf die gewerbliche Wirtschaft aufgehoben und 1929 wird die lange geforderte Staublungenerkrankung, die vor allem die Bergleute traf, aufgenommen. Schnell wird deutlich, dass die formale Aufnahme einer Berufskrankheit nicht auch ihre individuelle Anerkennung bedeutet. Nach Aufnahme der Staublungenerkrankung melden direkt über 14 000 Menschen ihre Erkrankung – entschädigt werden davon am Ende 1200.

Gleichwohl, die Diskussion um die Verordnung zu Berufskrankheiten weitet den Blick und stärkt den Gedanken der Prävention. Es etablieren sich Verfahren und Strukturen auch auf der betrieblichen Ebene, die Teil einer veränderten Praxis des Arbeitsschutzes in Richtung umfassender Prävention werden. Zwei europaweit geltende Rechtsgrundsätze werden etabliert: Bei Präventionsmaßnahmen muss der „Stand der Technik“ eingehalten werden und die „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse“ müssen das Handeln leiten.

Seit 1996 haben die Berufsgenossenschaften auch die Aufgabe, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Dies wird als „erweiterter Präventionsauftrag“ bezeichnet. Dabei ist es egal, ob eine Gefährdung akut zu einem Unfall oder zu einer Berufskrankheit führen kann. Die verpflichtende Gefährdungsbeurteilung soll alle Gefährdungen erfassen, und zu ihrer Prävention ist mit den Krankenkassen zusammenzuarbeiten. Auf der betrieblichen Ebene wird die Kooperation mit den Gewerbeärzten institutionalisiert, die Mitsprache der Beschäftigten ausgebaut. Neben Sicherheitsbeauftragten wurde als eigenständige Struktur der betrieblichen Prävention der Arbeitsschutzausschuss eingerichtet, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates sind gerade im Arbeits- und Gesundheitsschutz weitgehend.

Quellen • Dr. Heinz Neubert / Dr. Richard Pittroff: Berufskrankheiten in der gewerblichen Wirtschaft • Joachim Rückert: Arbeit und Recht seit 1800: historisch und vergleichend, europäisch und global. Böhlau Verlag Köln Weimar, 2014. S. 200 • Historisches zum Thema Berufskrankheiten https://www.sifa-sibe.de/fachbeitraege/archiv-sb/arbeit-und-krankheit/