Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)10
Aktionen – Initiativen


Aktionen / Initiativen. Thema: Afghanistan-Interventionspolitik gescheitert [DOK] Thorsten Jannoff, Gelsenkirchen

Thorsten Jannoff. Zu der gescheiterten Interventionspolitik in Afghanistan gibt es eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen aus der Friedensbewegung und der Zivilgesellschaft. Wir beschränken wir uns auf eine Stellungnahme der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW), die über ein politisches Statement hinaus interessante Hintergrundinformationen liefert.

IPPNW:: 20 Jahre Afghanistankrieg – Eine katastrophale Bilanz – Militäreinsätze beenden

DOK: https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Statement_Afghanistan_IPPNW_final.pdf

Die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan legen die Fehler der westlichen (Nato)-Politik der letzten Jahrzehnte drastisch offen. Die Menschen, die mit den Nato-Truppen und humanitären Organisationen zusammengearbeitet haben, werden im Stich gelassen und sind einem ungewissen Schicksal ausgesetzt. Die humanitäre Situation ist katastrophal. Laut Welternährungsprogramm sind 14 Millionen Afghanen von schwerem oder akutem Hunger bedroht. Offizielles Ziel des Krieges war es, das Dschihadisten-Netzwerk Al-Qaeda zu zerschlagen und die herrschende Taliban-Regierung zu stürzen. Tatsächlich hat sich jedoch infolge der Besatzung und des „Krieges gegen den Terror“ die Zahl militanter islamistischer Organisationen und Kämpfer vervielfacht. Der sogenannte „IS“ operiert seit 2015 auch in afghanischen Gebieten.

Die Begründungen der Bundesregierung für den Bundeswehreinsatz wechselten: Sollte zunächst die „Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch“ verteidigt werden, hieß es später, man wolle Frauenrechte verteidigen und die Zivilgesellschaft stärken. Viele Zivilist*innen in Afghanistan und den Nachbarländern haben den Militäreinsatz mit ihrem Leben bezahlt.

Die Zahl der Opfer

Nach einer vorsichtigen Schätzung der „IPPNW-Body Count“-Studie forderten die Kriege in Afghanistan, Pakistan und Irak bereits im ersten Jahrzehnt mindestens 1,3 Millionen Todesopfer. In Afghanistan summiert sich die Zahl aller von Oktober 2001 bis April 2021 im Krieg getöteten Afghan*innen auf ca. 165.000, davon werden 47.000 als zivil eingestuft. Die Zahl der Opfer in Pakistan schätzen sie auf 67.000. Da nach der Analyse des IPPNW-„Body Count“ die gesamte Zahl der tatsächlichen Opfer in der Regel fünf- bis achtmal höher ist als die der beobachteten zivilen Opfer, gehen die Autoren der Body-Count-Studie von mittlerweile über 800.000 Toten in Afghanistan aus, 40.000 pro Jahr. Auch 3600 Soldat*innen der westlichen Allianz haben in Afghanistan ihr Leben gelassen, darunter knapp 60 Bundeswehrsoldat*innen.

Zur Bilanz des deutschen Einsatzes gehört die Anordnung des Bombardements durch den damaligen deutschen Bundeswehr-Oberst Klein Anfang September 2009, bei dem rund 140 Menschen starben. „Die zuständige Generalanwaltschaft Dresden gab alsbald das Verfahren an die Bundesanwaltschaft ab, die ein halbes Jahr nach dem Angriff am 15. März 2010 die Ermittlungen begann, aber schon am 16. April wieder einstellte, da ein Verstoß gegen das deutsche Strafrecht oder das Völkerstrafrecht nicht erkennbar sei“, so der Völkerrechtler und IPPNW-Beiratsmitglied Prof. Norman Paech.

Die Entscheidung sei nicht nur für den Kläger enttäuschend, da der Luftangriff ein schweres Kriegsverbrechen gewesen sei, bei dem die hohe Anzahl an zivilen Opfern nicht mehr als akzeptabler Kollateralschaden bezeichnet werden könne.

Drohnenopfer

Das Bureau of Investigative Journalism recherchiert die Opfer der Drohnenangriffe in Afghanistan. Laut ihren Recherchen gab es in Afghanistan mindestens 13072 US-Angriffe seit 2015. Als Resultat zählte die Initiative zwischen 4126 und 10076 Opfer, darunter bis zu 900 tote Zivilist*innen. Die dokumentierten Verletzungen in dem Zeitraum liegen zwischen 658 und 1769 Opfern.

Gesundheitssituation

Der Human Development Index in Afghanistan stieg von 0,35 im Jahr 2000 auf 0,511 im Jahr 2019. Insgesamt liegt das Land noch immer auf einem der weltweit letzten Plätze: Platz 169 von 189 Ländern. Laut Welthungerhilfe leben 54,5 % der Afghan*innen unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Aktuell besorgniserregend ist die desolate Ernährungssituation. Laut den Daten der Welthungerhilfe14 befinden sich 13,2 Millionen Menschen in Afghanistan in akuter Ernährungsunsicherheit, davon 4,3 Millionen Menschen in einer akuten Hungerkrise. 3,1 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind mangelernährt. Polio ist in Afghanistan ebenso wie in Pakistan endemisch. Die Vereinten Nationen bezifferten den Bedarf an humanitärer Hilfe vor der Machtübernahme der Taliban für das Jahr 2021 mit 1,28 Milliarden Dollar. Der Afghanistan-Krieg hat die amerikanischen Steuerzahler etwa 2,7 Billionen Dollar gekostet. Wie anders sähe die Situation in dem Land heute aus, wenn man die finanziellen Mittel in Gesundheit, Bildung und Entwicklung investiert hätte?

Posttraumatische Belastungsstörungen bei Soldat*innen

Auslandseinsätze der Bundeswehr bringen für die Soldat*innen schwere körperliche und seelische Belastungen mit sich. Die Zahl der traumatisierten Soldat*innen der Bundeswehr, die einsatzbedingt in psychiatrische Behandlung müssen, steigt kontinuierlich. Das geht aus einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor. Demnach wurden im Jahr 2013 noch 602 traumatisierte Soldatinnen und Soldaten psychiatrisch behandelt – 2019 waren es bereits 1006 und 2020 schon 1116 Einsatzkräfte.

Völkerrecht und Interventionen

Der Krieg, den die USA samt Nato-Staaten am 10. Oktober 2001 begannen, war völkerrechtlich gesehen in hohem Maße umstritten, wenn nicht sogar illegal. Diese Einschätzung vertrat der amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle schon kurz nach Beginn des Krieges. Er ordnete die Terrorangriffe gemäß der Montreal-Konvention von 1971 ein, die widerrechtliche Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt beschreibt.

Sowohl die USA als auch Afghanistan hatten das Abkommen unterzeichnet, wie auch 150 weitere Staaten. Dazu hätte die USA die Anschläge als terroristische Akte und nicht als Kriegsakt bewerten müssen. Doch die Regierung Bush entschied sich für den Krieg. Der Angriffskrieg auf Afghanistan traf auf ein Land mit sich überschneidenden, sehr lange andauernden komplexen Konfliktlagen, wie Asienkenner Diethelm Weidemann sie skizziert. Auf innerafghanischer Ebene handelt es sich um einen Modernisierungskonflikt – der Konflikt zwischen islamischen Traditionalismus (vorwiegend in ländlichen Gebieten) und der Moderne (in den Städten).

Dieser schon sehr lang anhaltende Konflikt wurde und wird durch äußere Interventionen – „Kriege um Afghanistan“ – erheblich verschärft. Hierbei wurden sowohl durch die sowjetische Intervention als auch durch die Intervention des Nato-Bündnisses innerafghanische Oppositionskräfte gegen den Modernisierungskurs unterstützt. Beide Interventionen, die Afghanistan vorrangig für die Durchsetzung ihrer geopolitischen Ziele benutzten, scheiterten. Die USA begannen gleich zu Beginn der sowjetischen Intervention, die modernisierungsfeindlichen Mudschahedin militärisch zu unterstützen. Beide Interventionen ebenso wie den dazwischen liegenden Bürgerkrieg haben die Afghan*innen mit einem extrem hohen Blutzoll bezahlt, der auch jetzt nicht aufhört.

Krieg und Flucht

…. Laut der Costs of War-Studie wurden seit 2001 in Afghanistan 5,9 Millionen Menschen vertrieben. Mit 38 Millionen war die Zahl der weltweiten Flüchtlinge zu Beginn des Jahrtausends schon sehr hoch. 2002, nach Beginn des Nato-Krieges in Afghanistan, stieg die Gesamtzahl der Flüchtlinge zum ersten Mal über 40 Millionen weltweit. Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss Kriege beenden und Konflikte friedlich lösen.

Waffenlieferungen

Jürgen Grässlin macht für die Kampagne „Global Net – Stop the Arms Trade“ darauf aufmerksam, dass den Taliban mit der Machtübernahme in wenigen Tagen im August 2021 in gewaltigem Umfang Kriegsmaterial der US-Armee und ihrer Verbündeten in die Hände fiel. Dabei handele es sich um Groß- und Kleinwaffen (wie Flugzeuge und Gewehre), um Rüstungsgüter (wie militärische Geländefahrzeuge) und um Munition in riesiger Menge. Darüber hinaus können die Taliban auch deutsches Kriegsgerät nutzen, denn „seit Anfang 2002 bis heute wurden Rüstungsexporte für 418,8 Millionen Euro in das zentralasiatische Land genehmigt“.

Sanktionen

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Taliban in Afghanistan zukünftig regieren werden. „Angesichts der Herrschaft der Taliban vor 2001 ist es schwierig, Vertrauen in ihre Erklärungen zu haben, dass sie Kollaborateure mit den internationalen Truppen nicht verfolgen würden und dass alle Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens – ausdrücklich auch die weiblichen – ihre Arbeit weiter tun sollten. Aber sie sollten auch nicht unbesehen verworfen werden“, erklärt der Bund für Soziale Verteidigung. Die Drohung von Außenminister Heiko Maas, Mittel für den zivilen Wiederaufbau zu streichen, sofern die Taliban die Macht übernähmen, wirke genauso hilflos wie unsinnig. Aus Sicht der IPPNW würden Sanktionen gegen die Taliban die Zivilbevölkerung treffen, die sowieso unter den Folgen des Krieges, der Pandemie und der Armut leidet. Sanktionen treffen direkt und indirekt auch lebensnotwendige Güter wie Medikamente, medizinische Geräte und Hilfsmittel und bedrohen damit die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen. Daher sollten Mittel für humanitäre Zwecke und entsprechende internationale Organisationen weiter mindestens im derzeitigen Ausmaß gezahlt werden. Projekte sollten im Sinne der Vorschläge des Monitoringprojektes der Kooperation für den Frieden (s.u.) gefördert werden.

Abschiebungen nach Afghanistan

Dass die Evakuierungen der afghanischen Ortskräfte und ihrer Familien so spät begannen, ist ein Skandal. In der umgekehrten Richtung wurden dagegen Abschiebungen bis Anfang 2021 durchgeführt. Am 23. Juli 2021 war bekannt geworden, dass der geheim gehaltene Lagebericht des Auswärtigen Amtes die Situation in Afghanistan anscheinend bewusst verharmlost. Eine unabhängige Studie von Friederike Stahlmann, die die Situation von Afghanistan-Rückkehrern untersucht hat, zeigt, dass die Abgeschobenen keine Chance haben, im Land wieder Fuß zu fassen. Die Situation für sie ist brandgefährlich, weil sie von den Taliban und anderen Menschen oft als „Verräter“ betrachtet werden. Fast 80 Prozent der Befragten haben sich erneut auf den gefährlichen Fluchtweg begeben. Von 2016 bis Mitte Juli 2021 wurden im Rahmen von 40 Sammelabschiebungen insgesamt 1104 Geflüchtete von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Zum 31. Dezember 2020 lebten 271805 Afghanen in Deutschland.

Verpasste Alternativen

Die IPPNW hat die Militäranschläge gegen Afghanistan von Anfang an verurteilt: Die IPPNW forderte stattdessen alle Maßnahmen der USA und der Allianz gegen den Terror an die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates zu binden, dem UN-Sicherheitsrat ein Mandat für eine internationale Polizeitruppe zur Ergreifung der Terroristen zu erteilen sowie die mutmaßlichen Täter und ihre Hintermänner einem gerichtlichen Verfahren zuzuführen – durchgeführt durch die UN.

Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Andreas Buro veröffentlichte im Dezember 2009 im Rahmen des Monitoring-Projekts der Kooperation für den Frieden ein Afghanistan-Dossier, in dem er zivile, nichtmilitärische Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung aufzeigte. Danach sollte die Bundesregierung ein festes, naheliegendes Datum nennen, bis zu dem die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen sein werden. Die Bundeswehreinheiten sollten die Anweisung erhalten, sich ab sofort nicht in Kämpfe einzumischen. Gleichzeitig solle Berlin bekannt geben, das es seine zivile Hilfe je nach Bedarf bis zu dem Betrag aufstocken werde, der durch den Abzug der Truppen frei werde. Das waren zum damaligen Zeitpunkt etwa 500 Millionen Euro jährlich. Diese Mittel hatten für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung gestanden, die von Orten und/oder Regionen des Landes gemeinsam für wichtig und nützlich gehalten wurden und die Lebensbedingungen der Menschen vornehmlich auf dem Lande tatsächlich verbessert hätten. Dort sei es um schulische, soziale und medizinische Versorgung gegangen. Ferner um Arbeitsplätze, Wasserversorgung und landwirtschaftliche Produktionen, die vom Mohnanbau für die Opium-Herstellung unabhängig machen sollten. Buro verwies auf bereits ausgearbeitete Vorschläge der UN und forderte, dass Vorschläge aus der afghanischen Gesellschaft aufgenommen werden sollten. „Die Festlegung der Projekte bedarf unabdingbar der Einbeziehung und der Zustimmung der örtlichen oder regionalen Kräfte und auch derer, die sich den Taliban zuordnen. Wer Aussöhnung will, darf die bisherigen Gegner nicht ausgrenzen!“

IPPNW-Forderungen:

• Politisch-diplomatische Offensive für eine zivile Evakuierung aus ganz Afghanistan statt Bundeswehrmandat für Kampfeinsatz

• Aufnahmezusagen für Ortskräfte sowie weitere gefährdete Personen durch die Bundesregierung

• Gewährung humanitärer Visa sowie die Gewährleistung eines schnellen unbürokratischen Familiennachzugs zu Schutzberechtigten in Deutschland

• Einsetzung einer unabhängigen Evaluierungs-Kommission zum Afghanistankrieg durch den Bundestag und Debatte über politische Schlussfolgerungen

• Unterstützung diplomatischer Initiativen und Vermittlungsbemühungen von Ländern, die Einfluss auf die Taliban haben

• Fortführung der humanitären Hilfe statt Sanktionen

• Waffenlieferungen und Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete stoppen

• Alle Militärinterventionen der Bundeswehr beenden

• Fluchtursachen durch zivile Maßnahmen vermindern statt sie durch militärische Mittel zu verstärken