Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)21b
Rechte Provokationen – Demokratische Antworten

10 Jahre Selbstenttarnung des NSU

Verweigerte Aufklärung

Christiane Schneider, Hamburg

Am 4. November 2011 enttarnte sich das Kerntrio des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ NSU. Obwohl seit seinem Abtauchen 1998 offiziell gesucht, hatte es 13 Jahre lang unbehelligt in Chemnitz und Zwickau leben und von dort aus bundesweit rassistische Morde und Sprengstoffanschläge sowie Raubüberfälle begehen können. Sie ermordeten:

Enver Şimşek (9.9.2000, Nürnberg), Abdurrahim Özüdoğru (13.6.2001 Nürnberg), Süleyman Taşköprü (27.6.2001 Hamburg), Habil Kılıç (29.8.2001 München), Mehmet Turgut (25.2.2004 Rostock), İsmail Yaşar (9.6.2005 Nürnberg), Theodoros Boulgarides (15.6.2005 München), Mehmet Kubaşık (4.4.2006 Dortmund), Halit Yozgat (6.4.2006 Kassel) und Michèle Kiesewetter (25.4.2007 Heilbronn). Bei drei Sprengstoffanschlägen verletzte NSU über zwei Dutzend Menschen zum Teil lebensgefährlich: in Nürnberg 1999 und in Köln 2001 in der Probsteigasse und 2004 in der Keupstraße. Ein Überlebender des Anschlags in der Keupstraße, Atilla Özer, starb 2017 an den Folgen.

Bis heute ist der NSU-Komplex nicht richtig aufgeklärt. Zur Aufklärung praktisch nichts beigetragen haben die staatlichen Sicherheitsbehörden, und auch die Justiz hat sich auf den Nachweis der Beteiligung Zschäpes und der allerengsten Unterstützer beschränkt und sich der Aufhellung des NSU-Netzwerkes weitgehend verweigert. Auch bekannte Unterstützer aus dem engeren Umfeld des Kerntrios blieben bisher unbehelligt. Obwohl klar ist, auch den Sicherheitsbehörden, dass das Trio zumindest mittelbare Unterstützung vor Ort gehabt haben muss, gab und gibt es keine Ermittlungen in diese Richtung. Die wesentliche Aufklärungsarbeit haben engagierte Anwält:innen und Journalist:innen, Antifa-Recherche und die NSU-Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Tatortländern geleistet – mit Ausnahme Hamburgs, das sich als einziges Tatortland einem Untersuchungsausschuss verweigerte.

Die zentralen Fragen, warum der NSU so lange unbehelligt morden konnte und warum bis heute dem überregionalen Netzwerk des NSU nicht nachgespürt wird, führen zu zwei Problemen: zum Problem des Rassismus in den Sicherheitsbehörden (aber auch, nicht zu vergessen, in den Medien und der Zivilgesellschaft). Rassismus verhinderte, dass die Morde als rechtsterroristische, rassistische Taten eingestuft und Ermittlungen in diese Richtung geführt wurden. Die Ermittlungsbehörden ließen sich von rassistischen Zuschreibungen leiten – so charakterisierte das LKA Hamburg das dritte Opfer des NSU, Süleyman Taşköprü, als „ganz normalen türkischen Mann“, leidenschaftlich, energisch, dominant, kriminell. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf das familiäre und soziale Umfeld und suchten Spuren, die die Verbindung der Opfer in die organisierte Kriminalität erweisen sollten. Hinweise von Betroffenen und aus den migrantischen Communities wurden ignoriert, der einzige nachweisliche Ansatz, der von einem rechten, rassistischen Hintergrund ausging – in der Fallanalyse eines bayerischen Profilers -, wurde von den Ermittlern aller anderen Bundesländer bekämpft und hintertrieben. An der Spitze der Gegner standen die Hamburger Ermittler, die, unterstützt von Polizeiführung und Senat, bis heute keinen Fehler in ihrer Arbeit erkennen können, wie sich auch viele Beamte anderer Tatortländer weigern, rassistische Operationsweisen einzugestehen.

Das zweite große Problem sind die Geheimdienste. Die Anwältinnen und Anwälte im Münchner NSU-Verfahren haben herausgearbeitet, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz und verschiedene Landesämter im unmittelbaren und weiteren Umfeld des NSU-Kerntrios ca. 40 identifizierte V-Leute platziert hatten, und zwar führende Nazi-Kader. Die militante Naziszene, die im Westen seit den 1980er Jahren die Vernetzung vorangetrieben und in den 1990er Jahren vor allem im Osten eine erhebliche personelle und organisatorische Stärke entwickelt hatte, war das Rückgrat des aus Jena stammenden Kerntrios. Durch die Rekrutierung führender Kräfte1 und mit insgesamt Hunderttausenden DM hatten die Geheimdienste diese Szene gestärkt und ihre Radikalisierung gefördert. Durch V-Leute wussten sie allerspätestens 2002, wie die Nebenklage im Münchner Prozess nachwies, wo sich das untergetauchte, polizeilich gesuchte Trio aufhielt. Sie hätten also sechs Morde und den Sprengstoffanschlag in der Keupstraße verhindern können, haben aber darauf verzichtet, um ihre Quellen weiterführen zu können. Aus Gründen des Quellenschutzes schließlich haben die Geheimdienste nach Auffliegen des Kerntrios zahlreiche Akten von V-Leuten vernichtet und die Aufklärung des NSU-Netzwerkes bis heute nach Kräften verhindert. Michael Brumlik und Hajo Funke kritisierten 2013 das Agieren der Geheimdienste als „rechtlich etablierten Abgrund an geheimen und nicht kontrollierbaren Parallelstrukturen im Staat“. 2 Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des Kerntrios hat sich nicht viel geändert, im Gegenteil: Die Verfassungsschutzämter sind gestärkt aus der Krise hervorgegangen.

Die unvollendete Aufklärung ist für die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden der Sprengstoffanschläge eine große Belastung. Die Tochter des 2006 ermordetem Mehmet Kubaşık, Gamze Kubaşık, zog in ihrem Plädoyer ihre Bilanz aus dem Münchner Prozess: „Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen. Für mich und meine Familie bleibt es aber ein Leben lang so, dass ich mit quälenden Fragen leben muss. Ich hatte am Anfang von diesem Prozess so viel Hoffnung, dass nach so langer Zeit jetzt endlich Gewissheit kommt, dass es eine Sicherheit gibt. Diese Hoffnung gibt es nicht mehr. Wir werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen.“3

(1) Der damalige nordrhein-westfälische Verfassungsschutzchef berichtete, dass die Ämter seinerzeit, also vor dem ersten NPD-Verbotsantrag gezielt führende Nazi-Kader rekrutiert habe. Die V-Leute waren vor Strafverfolgung geschützt und wurden, wie das BKA beklagte, z.B. vor Hausdurchsuchungen o.ä. systematisch gewarnt. (2) In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2013, Auf dem Weg zum „tiefen Staat“? (3) Dokumentiert in: Antonia van der Behrens (Hrsg.), Kein Schlusswort, Plädoyers im NSU-Prozess

Abb. (PDF): Demonstration in München nach dem NSU-Gerichtsurteil.Foto Artikel NSU Kein Schlussstrich © Henning Schlottmann, CC 4.0. Wikimedia.jpg_0.png