Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)22
Rechte Provokationen – Demokratische Anworten

EU-Parlament:

Freier Zugang zu Abtreibung und umfassende Sexualerziehung

Rechte und Klerikale: „Ein Angriff auf die Menschenrechte“

01 Kasten – Aus dem Matic-Bericht

MICHAEL JURETZEK, BREMEN

„Wir haben es geschafft“ – mit Erleichterung reagierte Pedrag Matic (Fraktion der Sozialdemokratie) auf die Annahme des nach ihm benannten Berichtes durch das Europäische Parlament am 24. Juni 2021. Die klerikale Presse reagiert wütend: „EU-Bischöfe bestürzt über Matic-Votum“ schreibt „Vatican News“ am 26. Juni und „Wie kann ein Europa nur Abtreibung als ein Grundrecht ansehen“. Die „Tagespost – Synodaler Weg, welt & kirche“ vom 10. August: „Matic-Bericht: Ein Angriff auf die Menschenrechte“.

Der Ausschuss für die Rechte der Frauen und die Gleichstellu ng der Geschlechter hatte dem Parlament einen Bericht über die „sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte in der EU“ vorgelegt. Mit 378 Ja-, 255 Nein-Stimmen und 42 Enthaltungen erreichte er eine absolute Mehrheit von 56%. In der vorhergehenden Debatte äußerte sich die für die AfD im EU-Parlament sitzende Abgeordnete Christine Andersen: „Schon mit der Zulassung des Berichtes hat dieses Parlament endgültig jeglichen Anspruch auf Legitimität und Humanität verwirkt … Jeder Abgeordnete, der diesem Bericht zustimmt, sollte sich darüber im Klaren sein: Seine Zustimmung kommt einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich.“ (europarl.europa.eu/doceo/document/CRE-9-2021-06-23-INT-1-215-0000_DE.html) Hinter dem etwas sperrigen Titel werden Forderungen nach umfassender Sexualerziehung, ungehindertem Zugang zu Verhütungsmitteln, sicherer und legaler Abtreibung, Schwangerschafts- und Hebammenbetreuung, professioneller Neugeborenenversorgung und Schutz von Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung und sexueller Gewalt als unveräußerliche Rechte erhoben.

Die Gegenstimmen kamen aus den Fraktionen der Christdemokraten (EVP), Identität und Demokratie (AfD, Lega Nord, Rassemblement Nouveau u.a.), EKR, der die polnische PiS, die faschistischen Fratelli d’Italia und spanische Vox angehören und der fraktionslosen ungarischen Fidesz. All diese Strömungen verbindet eine grundsätzliche Auffassung: Bei ihnen wird die Lebensgestaltung nicht als selbstbestimmt getroffene Wahl aus Möglichkeiten, sondern als Pflicht gegenüber einem abstrakten vorbestimmten Übergeordneten eingefordert. Bei den einen die Pflicht zum Schutz der göttlichen Schöpfung, bei den anderen die Rettung von Nation oder Rasse. Beide Konstrukte werden als „natürliche Ordnung“ dargestellt. So heißt es in der von diesen Kräften geäußerten Minderheitenansicht des Ausschusses: „Freiheit, Gleichheit und Würde der Frau werden missachtet, da der weiblichen Natur mit dem Loslösen der Identität der Frau von ihrem biologischen Geschlecht zuwidergehandelt wird… Sie entkoppelt die Gesundheit vom Leben und priorisiert ein subjektives Wohlergehen, durch das sie Fruchtbarkeit und Mutterschaft eher vernachlässigt.“ Das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit wird als Angriff auf die Würde der Frau dargestellt, die in der naturgegebenen Identität besteht, Fruchtbarkeit und Mutterschaft zu leben.

In seiner Begründung macht der Bericht auf eine gefährliche Entwicklung aufmerksam: „Dieser Bericht kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt in der EU, da Aushöhlung und Rückschritte bei den Rechten der Frau an Dynamik gewinnen und zur Erosion erworbener Rechte beitragen und die Gesundheit der Frauen gefährden“ (Matic-Bericht, S. 33)

Er lenkt den Blick auf eine Entwicklung, die 2015 zu einer Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Spanien, 2019 zur Kriminalisierung der schulischen Sexualerziehung in Polen, dann 2021 zu einem völligen Verbot von Abtreibung außer bei Vergewaltigung in Polen und der Einschränkung des Sexualunterrichts in Ungarn geführt hat. Auch die Stellungnahme des Entwicklungsausschusses des EU-Parlaments „bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass extremistische Diskurse zunehmen“. (Matic-Bericht, S. 40) Unter der Überschrift „EU-Abgeordnete Barley ruft zur klaren Positionierung gegen Abtreibungsgegner*innen auf“ warnt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Katarina Barley (SPD): „Wir haben es mit einem viel mächtigeren Gegner zu tun, als wir bisher angenommen hatten. Deswegen müssen auch wir mächtiger, klarer und vernetzter werden.“ (taz, 13.8.2021)

2020 veröffentlichte Pro Familia eine Broschüre mit dem warnenden Bericht des Europäischen Parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung über eine Vereinigung von mehr als 100 Anti-Abtreibungs- und homophoben Gruppen in mehr als 30 europäischen Ländern. (www.profamilia.de/publikationen/themen/sexuelle-und-reproduktive-rechte) Sie nennt sich „Agenda Europe“ und macht sich die Zurückdrängung der „Kulturrevolution“ (Frauenrechte in den Bereichen Ehe, Scheidung, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Lohngleichheit und politische Repräsentanz) zur Hauptaufgabe. Ihr Manifest trägt den Titel „Die natürliche Ordnung wiederherstellen: eine Agenda für Europa.“ Darin erklärt sie die Ehe zwischen Mann und Frau als „einzige moralisch akzeptable Option“. „Rechtsvorschriften, die es einer Person zu leicht machen, die Scheidung zu erhalten“ sollten als eine „Verletzung des Rechts der Ehe angesehen werden“. Da die Ehe „Fortpflanzungszweck“ erfülle, untergrabe Empfängnisverhütung „die Würde des Geschlechtsaktes und damit der Ehe“ und sei staatlich einzuschränken oder zu verbieten. Sie sei die Spitze des Eisbergs im Kulturkrieg. Gegenüber jeglicher Art des Schwangerschaftsabbruches fordert das Manifest, dass „… Abtreibung verboten und mit wirksamen und abschreckenden Sanktionen, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen, geahndet werden sollte …“. Antidiskriminierungsgesetze wegen sexueller Orientierung hätten zur Folge, die „Meinungsfreiheit und die freie Meinungsäußerung all derjenigen einzuschränken, die moralische Bedenken gegen Sodomie haben“. Das Verbot von Diskriminierung wird als Einschränkung des Rechts auf Meinungs- und Religionsfreiheit dargestellt, die zu einer „Diktatur der Mehrheit führen, die eindeutig im Widerspruch zu demokratischen Prinzipien steht“. Ihre Umkehr der Begriffsbedeutung ist eine klar im Manifest geäußerte Strategie. Es enthält eine Liste von 14 „mehrdeutigen Begriffen“, die gegenüberstellt, „was unsere Gegner meinen“ und „was es wirklich bedeutet“. Damit „könnte es uns gelingen, das Vokabular, das unsere Gegner ausgearbeitet haben, zu ‚kontaminieren‘“(verseuchen, M.J.). Agenda Europe arbeitet mit Internetauftritten, jährlichen Gipfeltreffen, Online-Petitionen an Politiker, der Strategieerarbeitung in eigens gegründeten Denkfabriken und ihre Umsetzung durch lokale Gruppen. So versuchte eine Gruppe von Abtreibungsgegnern ihre Mahnwache vor der Pro-Familia-Beratungsstelle in Pforzheim gerichtlich mit dem Hinweis auf Meinungs- und Religionsfreiheit durchzusetzen. Das Gericht entschied, dass einer Hilfe suchenden Schwangeren ein Spießrutenlauf zwischen Abtreibungsgegnern nicht zuzumuten ist. Die im Bericht angesprochene Erosion erworbener Rechte zeigt sich z.B. auch daran, dass die Zahl der Praxen und Kliniken, die Abtreibungen durchführen, in den letzten 20 Jahren bundesweit um 45% zurückgegangen ist. Den Frauen wird es immer schwerer gemacht, ihr gesetzlich zustehendes Recht auf Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Für sie und alle, die das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und ihre Sexualität einfordern, ist die Annahme des Matic-Bericht durch das Europäische Parlament ein ermutigendes Signal und bietet viele Anhaltspunkte für die Umsetzung in den Mitgliedsstaaten.

Die Gegner, die sich bei drei Abstimmungen zu diesen Themen 2014 im Europaparlament noch durchsetzen konnten, arbeiten weiter an der Bündelung ihrer Kräfte. Die Fraktion Identität und Demokratie ließ 2020 ein Gutachten erstellen, Möglichkeiten auszuloten, „Konsens und Zusammenarbeit zwischen den konservativen politischen Kräften überall in Europa zu stärken“ (www.id-afd.eu/wp-content/uploads/2020/12/AfD-PiS-Gutachten-zur-Publikation-1.pdf). Auch wenn es sich speziell mit Schnittmengen zwischen ID und der Fraktion der EKR, in der die polnische PiS führend agiert, beschäftigt, reicht es weit in klerikale Kräfte hinein. Immerhin hatten 20% der christdemokratischen Abgeordneten (EVP) für den Matic-Bericht gestimmt.

In zwei von acht Übereinstimmungspunkten geht es um Themen des Matic-Berichts. Unter „Familienpolitik“ sagt das Gutachten: „Denn während die meisten ‚Altparteien‘ die Ausfüllung der demographischen Lücke lieber den Einwanderern überlassen, die ‚Selbstverwirklichung‘ des Einzelnen als höchstes Gut pflegen und auch eine liberale Abtreibungspolitik befürworten, finden wir auf Seiten der ID- und EKR-Fraktionen das Bestreben einer massiven Förderung von Kindern und eine restriktive Abtreibungspolitik.“ (S. 5) Und zum Thema Antidiskriminierung: „Ähnlich steht es auch mit der Kritik an der LGBTQ- und Gender-Bewegung. Diese wird ebenfalls auf beiden Seiten weitgehend abgelehnt, da sie als ein Instrument bei der Zersetzung der historischen europäischen Identität gesehen wird, die im Wesentlichen auf einem sehr spezifischen Frauen- und Männerbild beruht, welches auch die Grundlage für die europäische Familie bildet.“ (S. 5) ID und EKR würden bei einem Zusammenschluss zur drittgrößten Fraktion im EU-Parlament werden, mit allen ausgeweiteten Rechten in Ausschüssen und Redezeit.

Abb. (PDF): Berlin, 18.9.2021 Abtreibungsgegner und Gegendemonstranten. Quelle: wikimedia, Leonhard Lenz

01

Kasten: Aus dem Matic-Bericht

Der Bericht beginnt mit den Hinweisen auf 63 Dokumenten der UNO, der WHO, dem Europarat und der EU zu den im Bericht behandelten Themen seit 1994. Er enthält den sog. Matic-Bericht, die Minderheitenansicht, die Stellungnahme des Entwicklungsausschusses des Europäischen Parlamentes und das namentliche Abstimmungsverhalten der Ausschussmitglieder. Er fordert

„a) Zugang zu sicheren, fairen und kreislauforientierten Menstruationsprodukten für alle (S. 20)

b) Eine umfassende Sexualaufklärung kommt jungen Menschen zugute (S. 20)

c) Moderne Empfängnisverhütung als Strategie zur Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter (S. 22)

d) Abtreibungen unter sicheren und legalen Bedingungen unter Berücksichtigung der Gesundheit und der Rechte von Frauen (S. 22)

e) Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen (S. 24)

f) Mutterschafts-, Schwangerschafts- und Geburtsfürsorge für alle (S. 24)

Bereitstellung von Diensten im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und der damit verbundenen Rechte während der COVID-19-Pandemie und unter allen anderen von einer Krise überschatteten Umständen (S. 25)

Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte als Säulen der Gleichstellung der Geschlechter, der Demokratie und der Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt“ (S. 27)

Quelle: www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-9-2021-0169_DE.pdf

Aktuelle Zusammensetzung des Europaparlaments (705 Abgeordnete) EVP, Europäische Volkspartei (Christdemokraten)177 Abg. S & D, Progressive Allianz der Sozialdemokraten, 146 Abg., RE, Renew Europe (Liberale) 98 Abg. EFA. Grüne 73 Abg., ID, Identität und Demokratie (Lega Nord, AfD u.a.) 71 Abg. EKR, Europäische Konservative und Reformer 63 Abg., GUE/NGL, Grüne Linke, 39 Abg., Fraktionslose (Fidesz u.a.) 38 Abg. Foto: www.europarl.europa.eu.jpg