Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)27
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Suchhilfen …

Ein Beitrag zur Verarbeitung von Wahlergebnissen.

Zusammengestellt von Harald Pätzolt, Berlin

Nach Wahlen erster Ordnung, also Bundestags- und Europawahlen, verkünden die Parteigremien routiniert, dass man die Wahlen gründlich auswerten werde. Ich habe es nie erlebt. Eine andere Phrase lautet: Wer behauptet, er habe vor der Wahl bereits alles gewusst, der sei unglaubwürdig. Der Hauptstrom der Äußerungen aus der Partei sind Deutungen unterschiedlichster Art und Qualität.

Die Parteien- und Wahlforschung liefert in der Regel nach einem Jahr Sammelbände zur letzten Wahl, davor einige Aufsätze. Diese nehmen die Nachbereitungen und Folgen der Wahlen gewöhnlich nicht auf. Eine gewisse Asynchronität der Befassung von Parteien und Wissenschaft mit Wahlen und Parteientwicklung ist, so scheint es mir, die Folge.

Wenn auch unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der Linken nun deutlich werden, so beziehen sich all diese doch auf gemeinsame Begriffe: Die Partei müsse lernen, sich entwickeln, Strategien bilden, Entscheidungen fällen, Führung zeigen, Ziele setzen, Mitgliedschaft gewinnen und pflegen usw. Aber was beinhalten diese Begriffe, welche organisationssoziologischen Konzepte stecken, unreflektiert, zu „subjektiven Theorien“ transformiert, darin und dahinter? In der Tabelle ist der Versuch gemacht, auf „Originale“ in heuristischer Absicht zurückzugreifen. Ob man diese Theorien nimmt oder andere sei jeder und jedem selbst überlassen. Der Vorteil ist, dass man sich für Debatten eines begrifflich oder gar theoretisch Gemeinsamen versichern könnte. Wenn man dies denn wollte. Einen Versuch, scheint mir, ist es wert.

Organisationssoziologische Suchhilfen I

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/168/168_frey.pdf

Lernfähigkeit

Fähigkeit zur Wissensänderung = Erfahrungen ständig überprüfen und in allgemein zugängliches Wissen übertragen, das für den Hauptzweck der Partei relevant ist.

Das ist Fähigkeit zur Selbstregulierung = ständige Umweltanpassung

-> Schwachstelle: altes Parteiprogramm (2011), das die Umbrüche eines Jahrzehnts nicht spiegelt. Kein Programmprozess. Parteitagsdebatten sind kein Ersatz.

Was ist dieses allgemein zugängliche Wissen?

• Regeln, Symbole, Leitlinien, Werte Normen, Routinen und ihre Verstetigung, die die Identität der Partei bestimmen • Permanente Evaluierung eigenen Tuns • Verfahren der Beteiligung der Basis an Ziel- und Strategieplanung, der Entwicklung von Visionen etc. • Wissensmanagement • Kollektives Gedächtnis • Regeln für Regeländerungen

-> Schwachstelle: wenig Partizipation an „großen“ gesellschaftlichen Diskursen

Entscheidend sind soziale Kompetenzen der ParteimanagerInnen, der RepräsentantInnen. Notwendige Voraussetzung derselben: Dialogfähigkeit, zur Partizipation in kollektiven Diskursen.

Grundprobleme der Partei

1.Ausreichend große Mitgliedschaft

•Übereinstimmung in einigen Ziel- oder Identitätsvorstellungen

-> Schwachstelle, auch angesichts des mehrfach „gespaltenen“ Elektorats

• Bereitschaft, die Organisation mit Beiträgen in Form von Mitarbeit, Fürsprache und Geld zu unterstützen

-> Schwachstelle Bsp.: Mitgliederbeiträge. Befund Fokusgruppen zur BTW aus 2020: LINKE-WählerInnen geben sich kaum zu erkennen (=keine Fürsprache).

• Aber auch: Mitgliedergruppen, Milieus pflegen, Raum lassen

-> Schwachstelle Milieus gegeneinander ausgespielt (Wagenknecht-Debatte)

2.Integration der Mitgliedschaft

• Gewährleistung sozialer Kohärenz und Mindestmaß an Identität und Zufriedenheit

• Selbstbestimmung über eigene Beiträge sowie Ziele und Aktivitäten der Partei

-> Schwachstelle:

3.Strategische Entscheidungen, Handlungsfähigkeit, Führung

•Einflussnahme auf Willensbildung an der Basis

-> Schwachstelle: mehr Organisation eigener als kollektiver Gefolgschaft

Konflikte

Entscheidend ist die Art und Weise der Konfliktaustragung (Es geht ums WAS, aber es zählt das WIE).

-> Schwachstelle: Das WAS übers WIE gestellt

Aufgabe der Führung: Bearbeitung der Konflikte nach fairen Regeln.

-> no comment…

Organisationssoziologische Suchhilfen II

(H. Kitschelt 2003)

Zwei Probleme für Parteien, politische Unternehmer (= Führung, Vorstände) und deren Anhängerschaft (= Basis, Wählerpotential):

1. Collective action – Probleme: Wie Anhängerschaft mobilisieren für politische Anstrengungen, die unmittelbar keinen persönlichen Nutzen bringen? Missstände überwinden, attraktive kollektive Ziele erreichen sind notwendige Anreize. Um in die Breite zu kommen muss in organisatorische Infrastruktur investiert werden, die eine Kommunikation mit potentiellen Anhängern ermöglicht.

-> Schwachstelle:Infrastruktur der Partei und der medialen Kommunikation

Und es braucht die Auszahlung selektiver sozialer und materieller Belohnungen. Führungen tun das nur, wenn sie kontinuierlichen Rückfluss an Unterstützung erwarten können.

-> Schwachstelle: Das tun nur Einzelne, die über entsprechende Ressourcen verfügen (z.B. Amts- und Mandatsträger).

2. Social choice – Probleme: Führungen müssen den Umfang ihrer kollektiven Forderungen und Ziele bestimmen. Extreme sind einzelne Issues, die nicht zusammenhängen und komplexe Programme sozialen Wandels (auch „Ideologien“). Je komplexer, desto mehr muss die Führung in Techniken des Abgleichs kollektiver Präferenzen unter den Aktivisten (Mechanismen der Abwägung, Überredung, Indoktrination, Nötigung, Leitung von Entscheidungsprozessen…) investieren. Sonst gibt es keine kollektiv organisierten Ziele, es bleibt bei Instabilität und Heterogenität individueller Präferenzen.

Geht es eher um eine Agenda einzelner Themen (=Bindestrich-Politiken), dann machen elaborierte Prozeduren des Interessenabgleichs über die einzelnen Themenfelder Sinn.

-> Schwachstelle: Pendeln zwischen den Extremen

Politikwissenschaftliche Suchhilfen I

(W. Merkel 2021) Neue Krisen, Moral, Wissenschaft und die Demokratie | WZB

• Aufgabe der Opposition in Krisen ist zu diskutieren, kontrollieren, deliberieren und konkrete alternative Vorschläge zur Lösung zu machen

• Grundgestus muss sein: keine Lösungen in der Schublade. Weder Epistemisierung („science has told us…“) noch Moralisierung.

-> Schwachstelle: bei allen drei Krisen Vielstimmigkeit

• der Verteilungskonflikt mobilisiert nicht mehr, der kulturelle umso mehr.

• Die LINKE von der kulturellen Polarisierung stark betroffen: Spaltung der Elektorate

• Es gilt auch hier: Krisen werden erst solche, wenn die Eliten einerseits, die Massen andererseits, Umbrüche, Erosionen, Katastrophen als Krisen konstruieren. An beidem hat die LINKE eine besondere Lust…

• Das erzeugt gesteigertes Bedürfnis nach “Sicherheitsankern“. Den sahen die Menschen eher bei der Union als bei der SPD, aber nicht bei Laschet, sondern bei Scholz.

• stärker bei den über 60jährigen WählerInnen. Die haben die Wahl für Scholz entschieden.

Abb. (PDF): Neue Krisen Migration, Klima, Pandemie

Abb. (PDF): Kasten. Annahmen: • Es gibt „neue“ Krisen im 21. Jahrhundert • Sie sind stärker „kulturell“ konnotiert als im 20.Jht • Der Einfluss der Wissenschaft auf Politik wächst

Fragestellung: • Welcher Einfluss der „neuen“ Krisen auf Demokratie? Hypo-)Thesen: • Akute externe Krisen treffen auf latente Demokratieerosion Neue Krisen (NK) führen zu neuen Krisenkonflikten Epistemisierung, Moralismus & Polarisierung: problematische Folgen für die Demokratie

Empirisches Schlaglicht (Fokusgruppen zur BTW, September 2020))

1. Wählerschaft auf der Suche nach einem Angebot an „Sicherheitsankern“ und Antworten auf die „Machbarkeitsvermutung“ bzgl. politischer Angebote.

• Machbarkeit nicht im technischen oder finanziellen Sinn, sondern: mit wem?

2. Der LINKEN wird die Benennung von Problemen, aber keine Lösungskompetenz, keine Umsetzungskompetenz zugesprochen.

• Das wurde nicht weggearbeitet. Obwohl Referenzen in unseren Regierungsländern da waren.

3. Wenn ein R2G- Bündnis als Option erscheint, dann wird die LINKE funktional als Bremserin darin gesehen.

• Das wurde jahrelang lustvoll aus der LINKEN heraus verstärkt.