Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)29
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Von Glückstadt in die Welt

Das neue Abschiebungsgefängnis für Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg

01 Kasten: Abschiebungshaft. Geregelt in § 62 Aufenthaltsgesetz. Haft kann verhängt werden:

Reinhard Pohl, Kiel, Edda und Karl-Helmut Lechner, Norderstedt

Glückstadt und Kiel. Abschiebungshaft ist im Aufenthaltsgesetz vorgesehen, um eine Ausreise durchzusetzen. Betroffen davon können alle sein, die ausreisepflichtig sind, also kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. Allerdings gibt es verschiedene Voraussetzungen, um einen Haftbefehl zu bekommen. Um dies zu regeln, haben die drei norddeutschen Länder, die jahrelang ohne Abschiebehaftanstalt auskamen, jetzt eine gemeinsame Einrichtung mit 60 Plätzen geschaffen.

Ein Rundgang

Das Gefängnis wurde in der ehemaligen Marinekaserne in Glückstadt gebaut. Die Planungen sind schon älter, dauerten aber länger als gedacht. Sowohl der Umbau und die Covid-19-Pandemie brachten Verzögerungen mit sich. Seit dem 16. August 2021 ist eine Belegung mit den ersten 12 Gefangenen möglich. Zehn Tage zuvor hatten das Innenministerium und das zuständige Landesamt zu einem Rundgang durch das neue Abschiebungsgefängnis eingeladen. Auch Menschen aus der Flüchtlings-Solidarität. Nur wenige Details durften nicht fotografiert werden.

Die Einrichtung ist Teil des „Landesamtes für Migration und Flüchtlinge“ in Neumünster, dem früheren Landesamt für Ausländerangelegenheiten. Das Landesamt übernimmt oft die Organisation von Abschiebungen im Auftrag von bundesweiten Ausländerbehörden, bei denen grundsätzlich die Verantwortung für die Abschiebung und auch den Haftbefehls-Antrag liegt. Haftbefehle werden von Amtsrichtern erlassen, sie können von Richter*innen am Landgericht überprüft werden. Normalerweise kommen die Gefangenen schon mit einem Haftbefehl an, der auf Antrag der Ausländerbehörde in einem der drei Bundesländer beim zuständigen Amtsgericht beantragt wurde. Für die Überprüfung oder Verlängerung ist dann das Gericht in Itzehoe in Schleswig-Holstein zuständig.

Um die bis zu 60 Insass*innen kümmern sich 72 Angestellte, dazu kommen Wachleute von einer Privatfirma. Den Verantwortlichen ist beim Rundgang das Vokabular wichtig: Sie sprechen von „Wohngruppen“, nicht von Haftgruppen. Es soll eine „Einrichtung“, kein Gefängnis sein. Die Gefangenen eines Stockwerks bilden eine „Wohngruppe“ von bis zu 14 Männern, davon gibt es drei. Und dann kann es eine „Wohngruppe“ mit bis zu 9 Frauen geben, dort können auch Kinder untergebracht werden. Zusätzlich gibt es einen Flur mit neun Wohnräumen oder Zellen, dort werden die Neuzugänge untergebracht, weil man oft nicht sofort entscheiden kann, wo genau Neuzugänge untergebracht werden sollen. Außerdem müssen sie zunächst auf ansteckende Krankheiten untersucht werden.

Für alle Gefangenen gibt es einen eigenen „Wohnraum“, man könnte auch Zelle sagen. Der kann von innen auf- und zugeschlossen werden, die Angestellten (von denen einer in einem Glaskasten mitten im Stockwerk sitzt) können aber jede Tür mit ihrem Schlüssel „überschließen“, also zugeschlossene Räume öffnen und geöffnete abschließen. In jedem Stockwerk Freizeiträume, was eine Küche ist, dazu Räume mit Fernsehen, Tischfußball oder Dartscheibe. Wir werden beim Rundgang darauf hingewiesen, dass die Gefangenen im Gegensatz zu Häftlingen Zugang zu Messern oder auch Dart-Pfeilen haben – das kann sich natürlich schnell ändern, falls es zu Gewalt kommt. In den einzelnen Wohnräumen oder Zellen gibt es Fernsehen, Klo und Waschbecken, auf jedem Stockwerk gibt es Duschen mit Einzelkabinen.

Draußen gibt es Sportplätze. Das sind kleine Flächen mit Fußballtoren, Basketball-Körben oder Geräten für Krafttraining, die natürlich von hohen Gittern umgeben sind. Im Frauenbereich gibt es zusätzlich einen Sichtschutz, wo man Männern durch die Gitterstäbe beim Sport zusehen kann. Es soll also normalerweise „innen offen“ sein, aber man ist auch darauf vorbereitet, schnell alles abzuschließen und die Gefangenen voneinander zu trennen. Vorhanden ist auch ein ärztlicher Bereich, in dem die notwendigen Untersuchungen stattfinden können mit einem Röntgen-Apparat und einem Zahnarzt-Stuhl. Ein Raum für psychologische Beratung oder Therapie soll vom entsprechenden Bereich des Krankenhauses Itzehoe auf Anforderung sichergestellt werden.

Im Gefängnis selbst befindet sich auch eine Sozialberatung, die von der Diakonie wahrgenommen wird. Eine Verfahrensberatung, die bei Asylfolgeanträgen, Klagen gegen eine Abschiebung oder Haftbeschwerden helfen könnte, wollte die Landesregierung in ihrer Mehrheit nicht anbieten. Wenn es eine Verfahrensberatung gibt, soll sie allerdings Zugang erhalten. Die Gefangenen haben — auf Wunsch — ein Mobiltelefon ohne Kamera und Zugang zu einem Computer mit Internet-Anschluss. Sie können also aus dem Gefängnis heraus Kontakt mit Familienangehörigen, Freund*innen oder Beratungsstellen aufnehmen. Auch das ist ein Unterschied zum „normalen“ Gefängnis.

Die ganze Einrichtung kostet 6 Millionen Euro pro Jahr, das sind pro Haftplatz also 100 000 Euro. Davon bezahlt jedes Bundesland 2 Millionen. Falls es teurer wird, muss Schleswig-Holstein das alleine tragen. Diese hohen Kosten fallen vor allem durch das Personal immer an, ob nun ein Haftplatz in Anspruch genommen wird oder nicht. Aber die SPD und CDU der drei Länder wollen die Abschiebung und Abschiebehaft als Druckmittel nutzen, um mehr freiwillige Ausreisen zu erreichen. In normalen Jahren, in denen die Pandemie nicht Teile des internationalen Verkehrs zum Erliegen bringt, reisen jährlich ungefähr eine Million Menschen aus Deutschland aus, deren Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist, ungefähr 25 000 werden zwangsweise abgeschoben.

Abschiebungshaft

Abschiebungshaft kann angeordnet werden, wenn eine Ausländerbehörde oder die Polizei (in der Regel Bundespolizei) jemanden festnimmt und einen Abschiebungshaftbefehl beantragt (siehe Kasten).

Danach gibt es die Möglichkeit der Haftprüfung — der Häftling beschwert sich über den Haftbefehl oder die Dauer der Haft — und die Ausländerbehörde kann einen Antrag auf Verlängerung der Haft stellen, wobei alles noch mal geprüft werden muss. Viel hängt davon ab, wie sehr der Häftling insistiert und wie sehr die Richterin oder Richter prüft — die Termine sind deshalb unterschiedlich lang.

Eine Abschiebung wird behandelt wie jede andere „Unterstützung“ auch, hier also als Unterstützung bei der angeordneten Ausreise. Sie muss selbst bezahlt werden, nur bei Mittellosigkeit werden Flug und die Verwaltung bezuschusst. Praktisch bedeutet das, dass der oder dem Gefangenen alles Geld abgenommen wird, bis auf einen kleinen Taschengeld-Betrag. Gefangene können deshalb nur schwer eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt beauftragen, ihnen bei einer Haftprüfung zur Seite zu stehen. Hier müssen Freiwillige, möglichst in Zusammenarbeit mit einer guten Beratungsstelle, einspringen. Manchmal können und wollen auch hier lebende Familienangehörige helfen, auch sie können einen Beistand organisieren und bezahlen.

„Unschuldig“ in Abschiebungshaft?

In den Diskussionen und vor allem bei Protesten gegen Abschiebungshaft stehen oft abgelehnte AsylbewerberInnen im Mittelpunkt: Sollen sie abgeschoben werden, so kommen sie in Abschiebungshaft und ihnen droht die Abschiebung ins Herkunftsland. Sie machen aber erfahrungsgemäß nur eine kleine Gruppe der Betroffenen aus. Die größte Gruppe ist die der „Overstayers“. So nennt man diejenigen, die mit oder ohne Visum nach Deutschland eingereist sind, zunächst ganz normal und in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Bestimmungen. Sie sind dann irgendwann geblieben, obwohl sie hätten ausreisen müssen.

Beispiel: Eine junge Frau reist als Au-Pair-Mädchen aus einem Land in Südamerika ein. Sie hat eine Au-Pair-Stelle für ein Jahr, danach muss sie entweder ausreisen oder eine neue Aufenthaltserlaubnis aus einem anderen Grund beantragen. Das machen viele, wie z.B. für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr, eine Ausbildung oder ein Studium. Die meisten reisen wieder aus. Es gibt dann aber einige, die bleiben und arbeiten irgendwo unerlaubt, weil sie dadurch Familie zu Hause unterstützen wollen. Fallen sie bei einer Kontrolle auf, so haben sie normalerweise einen Pass, auch das Visumverfahren und die einjährige Aufenthaltserlaubnis als Au-Pair ist ja registriert. Nun können sie direkt von der Kontrolle in die Haft gebracht werden, wobei die Ausländerbehörde theoretisch auch deren Versprechen, nun aber auszureisen, entgegennehmen und ihnen eine Duldung geben könnte. Diese „Overstayers“ sind oft die größte Gruppe in Abschiebungshaft.

Eine weitere große Gruppe sind die Flüchtlinge, die ein Asylverfahren in einem anderen Mitgliedsstaat der EU laufen haben, sie werden landläufig „Dublin-Fälle“ genannt. Hier kommt es zu Abschiebehaft-Anträgen, weil es Fristen gibt, innerhalb derer die Abschiebung gelingen muss, sonst geht die Verantwortung für das Asylverfahren auf Deutschland über. Dazu kommt eine größer werdende Gruppe von Flüchtlingen, die in einem anderen Mitgliedsstaat der EU anerkannt ist, die aber wegen dort fehlender sozialer Möglichkeiten nach Deutschland kommen. Hier dürfen sie sich als Touristen zwar für 90 Tage aufhalten, allerdings müssen sie einen Pass, die Aufenthaltskarte und ausreichend Geld dabeihaben. Wenn sie Asyl beantragen oder Leistungen vom Sozialamt oder Jobcenter haben möchten, werden sie schnell ausreisepflichtig und die Abschiebung kann so lange versucht werden, bis sie klappt

Natürlich wird es in Deutschland auch grundsätzlich abgelehnte Flüchtlinge in Abschiebehaft geben, die in ihr Herkunftsland abgeschoben werden sollen. Eine zurzeit kleine Gruppe im Gefängnis, weil zurzeit kaum in die wichtigsten Herkunftsländer abgeschoben wird. Das betrifft Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Jemen, Somalia oder Eritrea. Abgeschoben wird jedoch nach Georgien und Armenien. Natürlich ist die Abschiebungshaft auch eine Frage der Beratung: Wer gut beraten ist, findet oft einen Ausweg, um eine Abschiebung zu vermeiden — sei es eine rechtzeitige Ausreise.

Straftäter*innen sitzen nicht in Glückstadt. Sie werden nach einer Verurteilung zu einer Strafe von mehr als drei Jahren normalerweise sofort abgeschoben. Dabei wird ihnen oft angeboten, in die Abschiebung einzuwilligen. Dann müssen sie nur die Hälfte ihrer Haft absitzen. Es gibt auch Abschiebungen nach zwei Drittel der Haftzeit, dann wird der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Nach einer Abschiebung nach „Halbstrafe“ muss der Rest der Strafe abgesessen werden, falls die Straftäterin oder der Straftäter irgendwann später im Leben wieder nach Deutschland kommen. Sie bleiben auf jeden Fall in dem Gefängnis, in dem sie ihre Haftstrafe abgesessen haben. In Glückstadt sitzen also nur „Unschuldige“, also Ausländerinnen und Ausländer, die gegen das Aufenthaltsrecht verstoßen haben.

Politische Entscheidung

Ab 2010 sind überall in Deutschland Abschiebehaft-Einrichtungen geschlossen worden. Seit 2015 übt die Bundesregierung wieder Druck aus, mehr Haftplätze für die Abschiebehaft zu schaffen. Das nahm der damalige SPD-Innenminister in Schleswig-Holstein zum Anlass, seinen Kollegen in Hamburg und Mecklenburg eine gemeinsame Abschiebehaftanstalt vorzuschlagen. Sein Nachfolger, der neue CDU-Innenminister, verhandelte weiter mit den Kollegen der Nachbarländer. Die mit ihnen in Koalition stehenden Grünen stimmten mit schweren Bauchschmerzen zu, handelten dafür aber ein Aufnahmeprogramm für syrische, sudanesische, eritreische und somalische Flüchtlinge, vor allem für Frauen, aus.

Da die Abschiebungshaft grundsätzlich im Aufenthaltsrecht verankert ist, das nur auf Bundesebene entschieden oder verändert werden kann, gibt es auch in Bundesländern ohne Abschiebungshafteinrichtung solche Haftanträge. Ohne im Land vorhandene Haftanstalt werden die Gefangenen dann aber oft weit entfernt in irgendeiner freien Zelle im Bundesgebiet untergebracht. Das macht es für Angehörige, Freunde und Anwält*innen fast unmöglich, sie zu besuchen und ihnen zu helfen.

Die vergleichsweise liberale Regelung der drei norddeutschen Länder für den Abschiebeknast in Glückstadt ist demgegenüber für die Betroffenen günstiger. So konnte der dieser politische Beschluss Schlimmeres verhindern.

01

Kasten: Abschiebungshaft. Geregelt in § 62 Aufenthaltsgesetz. Haft kann verhängt werden:

Wenn jemand „ohne alles“ (ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Beschäftigungserlaubnis) angetroffen wird. Landläufig heißen diese Personen „Illegale“, Behörden sprechen meistens von „Overstayers“.

Wenn jemand zur Ausreise verpflichtet ist, aber die Ausländerbehörde Anhaltspunkte dafür hat, die Person oder die Personen wollten sich dem entziehen, also untertauchen.

Wenn jemand in einem anderen Mitgliedsstaat der EU einen Asylantrag gestellt, aber diesen Staat verlassen hat, ohne das Ergebnis abzuwarten.

Wichtig ist, was nicht im Gesetz steht:

Abschiebungshaft ist für niemanden ausgeschlossen. Es gibt kein „Mindestalter“, auch Neugeborene können unter Abschiebungshaft fallen, ebenso Ehepaare und Familien mit Kindern. Es sind aber mehrere Punkte gerichtlich zuprüfen, bevor ein Haftbefehl für normalerweise drei Monate erlassen wird. Zum Beispiel: falls die Ausländerbehörde anführt, dass ein Untertauchen befürchtet wird. Gibt es dafür wirklich erkennbare Anhaltspunkte? Oder kam nur mal Post zurück oder es wurde auf Klingeln nicht geöffnet? Ausdrücklich ist es auch möglich, ein Mitglied einer Familie einzusperren, um die anderen am Untertauchen zu hindern.

Wird die Abschiebung wirklich betrieben? Die Ausländerbehörde muss die Abschiebung nicht nur wollen, sondern auch konkret planen und belegen, dass sie in absehbarer Zeit möglich ist.

Abb. (PDF): Foto Abschiebungsgefängnis.