Politische Berichte Nr.5/2021 (PDF)32
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

„Left Diversity zwischen Tradition und Zukunft“ – VSA-Verlag, September 2021

Eva Detscher, Karlsruhe

Dieser Buchempfehlung liegen zwei Präsentationen durch C. Hildebrandt sowie die Lektüre des Vorworts und der Beiträge aus Frankreich, Niederlande, Griechenland, Deutschland und Großbritannien zugrunde. Es können hier nur wenige Gesichtspunkte angesprochen werden.

Das große Spektrum an linken Parteienprojekten in Europa wird von 26 Autorinnen und Autoren in spannenden Einzelberichten für den Zeitraum von 2010 bis 2020 (teilweise bis in 2021 hinein) für ihre jeweiligen Länder aufgefächert. Hierbei wird unter dem Begriff der radikalen Linken eine Differenz bezeichnet. Die drei Herausgeberinnen Cornelia Hildebrandt, Danai Koltsida und Amieke Bouma definieren folgendermaßen: „… radikale Linke … sind die Parteien und Organisationen links von der Sozialdemokratie, die sich von den Grünen unterscheiden.“ Auf einer Art politischem Strahl wird länderspezifisch der Ort definiert, wo sich die radikale Linke in Bezug auf andere dem linken Spektrum zugeordneten Parteien findet. „Im Nordwesten und Westen Europas hat sich die Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten in die Mitte bewegt, so dass die radikale Linke in einigen Ländern Positionen einnimmt, die früher zur sozialdemokratischen Tradition gehörten.“ (S. 10) In den postsozialistischen Ländern hingegen „wird die radikale Linke oft mit den Erfahrungen des Staatssozialismus in Verbindung gebracht, während sozialdemokratische Parteien oft ihre Wurzeln in den ehemals herrschenden kommunistischen Staatsparteien haben“. Die Herausgeberinnen nehmen „die Unschärfe des Konzepts der radikalen Linken in Kauf, um eine Vielfalt von Ansichten und Organisationen vertreten zu können. Vielfalt ist ein Kernmerkmal der großen Konstellation linksradikaler Parteien und Organisationen.“

Es geraten auch (Protest-)Bewegungen in dieses Spektrum, deren Kern zumindest umstritten ist und wo fraglich ist, ob deren Wirkung auf die Gesellschaft als Ganzes wirklich progressiv im Sinne linker Politik zu bewerten ist, d.h. wie sie auf die Kommunikationen der unterschiedlichen Systeme, auf den Ton der Auseinandersetzungen und auf die rechtsstaatliche Anlage der politischen Systeme (parlamentarische Demokratie) in diesen Ländern rückwirken.

„Schließlich versuchen Linksparteien auch, breitere Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich an Aktionen der unabhängigen Linken und Protestbewegungen beteiligen. Giuseppe Cugnata beschreibt, wie in Frankreich linke Parteien versuchten, von den sozialen Mobilisierungen der Jahre 2018 und 2019 zu profitieren.“ (S. 25)

Mélanchon links? Bewegung gegen TTIP links? … Diese Verortung auf der linken Seite der politischen Kräfte wird von vielen, die an der Bewegung teilgenommen haben, von sich selbst so gesehen und beansprucht – aber die Frage bleibt: ist die effektive Richtung solcher Bewegungen wirklich links? Da werden durch die Texte einige Fässer aufgemacht, über die auch gestritten werden muss. Die ins EU-Parlament gewählten Vertreter der France Insoumise (Mélanchon) haben sich der Fraktion der Linken im EP angeschlossen – also spätestens in diesem Kontext werden solche Fragen relevant. Sind wirklich alle Bewegungen, auch wenn sie Massen auf die Straße bringen, Projektionsflächen und Möglichkeiten für linke Politik?

Zur EU: Da gibt es seit den fünfziger Jahren das Projekt der europäischen staatenübergreifenden Union – und die radikale Linke überlegt immer noch, wie sie dazu steht. Sofern sie es überhaupt als relevante Frage behandelt. Soll man die EU mit einem Federstrich – oder einer Machtposition – einfach auslöschen oder neu erfinden? „Wir treten aus“ als politische Position, das schreiben die Herausgeberinnen im Vorwort, ist seltener geworden als Parole. Aber die Einschätzung, als hätte das Ganze nichts mit einem zu tun, sondern wäre irgendwie weit weg und ein Projekt des Gegners, und man könne auch leicht ohne das auskommen oder sich in einer Position der EU-kritischen Haltung einrichten – das zieht sich in unterschiedlicher Ausprägung doch quer durch die politische Landschaft der radikale Linke. „Das dänische Rot-Grüne-Bündnis, das ursprünglich einen Austritt aus der EU befürwortete, scheint sich nun auf eine EU-kritische Position zuzubewegen und den Standpunkten der meisten Parteien der europäischen Linken näherzukommen.“ (S. 26)

Wer sich für die Verhältnisse in den besprochenen Ländern interessiert, findet hier viele Fakten und Informationen. Übergreifende Probleme wie die Fragmentierung, die Dynamik von rechts, das Auf und Ab bei der Zustimmung durch die Adressaten und bei Wahlen, die Ost-West-Herausforderung, die Entwicklung der sozialen Strukturen und nicht zuletzt die unterschiedliche Positionierung zur EU sind übergreifend strittige offene Flanken in der radikale Linke. Der subjektive Blick der Autorinnen und Autoren auf die konkrete Situation in ihrem jeweiligen Land, ihr Wunsch nach Änderung der Rolle linker Politik bietet sich nicht in schlauen Antworten, sondern in klugen Fragen und auf der Basis wissenschaftlicher Erarbeitung. Die Einzelberichte erhalten durch den gleichzeitigen Blick auf die anderen Länder eine doppelte Relevanz: als Beobachter von außen, als Berichterstatter von innen. Nicht nur kann dies die Entwicklungen in den einzelnen Ländern befördern, sondern auch – das wünschen sich jedenfalls die Herausgeberinnen – „die Suche nach gemeinsamen europäischen Projekten voranbringen“ (Buchdeckel). Eine überaus lesenswerte und spannende Lektüre, und auch als Basis für ernsthaftes Bemühen um den Kurs der Linken dringend zu empfehlen.

Einleitung von Amieke Bouma, Cornelia Hildebrandt und Danai Koltsida FRANKREICH (Giuseppe Cugnata) Die Neuausrichtung der radikalen Linken (2017–2020) DEUTSCHLAND (Cornelia Hildebrandt) DIE LINKE: strategische Stärke und die Herausforderungen, über die Städte hinaus zu wirken ÖSTERREICH (Barbara Steiner) Mit frischem Wind aus der Sackgasse LUXEMBURG (Adrien Thomas) Ein Seiltanz zwischen politischer Vereinnahmung und Marginalisierung BELGIEN (Nico Biver) Der Aufstieg der außergewöhnlichen Arbeiterpartei NIEDERLANDE (Amieke Bouma) Eine traditionelle Linke: Die Sozialistische Partei in den Niederlanden IRLAND (Stephen Hopkins) Die Linke im heutigen Irland (2011–2020) GROSSBRITANNIEN (Kate Hudson) Die radikale Linke im vergangenen Jahrzehnt DÄNEMARK (Eva Milsted Enoksen und Ulrik Kohl) Die Rot-Grüne Einheitsliste: Links der Mitte-Links-Regierung SCHWEDEN (Henning Süssner Rubin) Linkes Dilemma FINNLAND (Jukka Pietiläinen) Das Linksbündnis von der oppositionellen Außenseiterin zur erneuerten linksgrünen Partei ESTLAND (Jukka Pietiläinen) Von einer marginalen linken Partei zur marginalen Partei einer nationalen Minderheit LETTLAND (Nils Derums) Die Linke in Lettland LITAUEN (Andrius Bielskis) Über die Schwäche der politischen Linken POLEN (Piotr Janiszewski) Die polnische Linke drei Jahrzehnte nach der Wende TSCHECHIEN (Matěj Metelec) Das Ende des Antikommunismus und die unsichere Zukunft der Linken SLOWAKEI (Michael Augustín) Zehn Jahre radikale Linke und linke Milieus on UNGARN (Zoltán Pogátsa) Die politische Linke in Ungarn RUMÄNIEN (Florin Poenaru) Der kuriose Fall der Sozialdemokratischen Partei Rumäniens BULGARIEN (Jana Tsoneva) Zwischen Stillstand, Aufbrüchen und akademischen Kämpfen SÜDOSTEUROPA (Krunoslav Stojaković) Die neue Linke zwischen Dynamik und Stagnation GRIECHENLAND (Danai Koltsida) Die Linksparteien in einem turbulenten Jahrzehnt (2010–2020) ZYPERN (Yiannos Katsourides) Die AKEL – reformkommunistische Agenda oder Pragmatismus? ITALIEN (Paolo Chiocchetti) Die anhaltende Krise der radikalen Linken SPANIEN (Marga Ferré) Der kontroverse Weg von der Straße in die Regierung PORTUGAL (André Freire) Von der linken Mehrheit zur »Zwinker-Regierung« (2015–2020) • Übersicht linker Parteien Europas • Abkürzungen, Akronyme Parteien und Organisationen • Die Autor:innen

Abb. (PDF): Cover. Cornelia Hildebrandt/Danai Koltsida/Amieke Bouma (Hrsg.)Left Diversity zwischen Tradition und Zukunft – Linke Parteienprojekte in Europa und ihre Potenziale. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung 400 Seiten | 2021 | EUR 19.80 ISBN 978-3-96488-079-6