Politische Berichte Nr.6/2021 (PDF)02a
Blick auf die Medien

EU-Kommissionsprogramm 2022

Rolf Gehring, Brüssel. Das am 19. Oktober veröffentliche Arbeitsprogramm der europäischen Kommission für das Jahr 2022 umfasst lediglich 15 Seiten in auch für ältere Personen gut lesbarer Schriftgröße. Die inhaltliche Tiefe des Textes ist daher naturgemäß begrenzt, es ist eher eine plakative Aneinanderreihung von Absichten. Dennoch ist in den Schwerpunktsetzungen und den gewählten Formulierungen einiges wahrnehmbar, an das positiv angeknüpft werden kann. Dies betrifft indirekte Hinweise auf die Situation in Polen und Ungarn, verbunden mit dem wiederholten Unterstreichen der europäischen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien, dem Schutz pluraler Lebenformen oder Aussagen zur Medienfreiheit. Interessant hier, ein europäischer Rechtsakt zur Medienfreiheit soll vorgelegt werden. Das SURE-Programm wird ausdrücklich gelobt (Vermeidung von Arbeitslosigkeit), zur wirtschaftspolitischen Steuerung soll im ersten Quartal ein neuer Rahmen vorgeschlagen werden. Schon vorher war in dem Papier die Außerkraftsetzung der Stabilitätsmechanismen gelobt worden, und die Kommission kündigt an, umlaufende Diskussionsbeiträge zu ihrer Reform aufzunehmen, soll heißen, dass eine Reform der Stabilitästkriterien wahrscheinlicher wird, die Eigenmittel der EU ausgebaut werden sollen. Raum für politische Initiativen dürfte sich auch in dem Feld der Jugendpolitik ergeben. Das Jahr 2022 soll zum Europäischen Jahr der Jugend ausgerufen werden. Mehrfach wird unterstrichen, dass die jungen, insbesondere die besonders Benachteiligten, besser einbezogen werden müssen. Handfester als das Arbeitsprogramm selbst sind die Anhänge, die insgesamt 144 legislative und nichtlegislative Initiativen vorstellen. Bezüglich der Kapitelüberschriften des Programms verteilen sich die initiativen wie folgt: Europäischer Grüner Deal (32), Ein Europa für das Digitale Zeitalter (32), Eine Wirtschaft im Dienst der Menschen (25), Ein starkes Europa in der Welt (5), Förderung unserer europäischen Lebensweise (25) und Neuer Schwung für die Demokratie in Europa (15).

Grüner Deal, Digitalisierung und eine widerstandsfähige Wirtschaft bleiben die Kernmarken des Kommissionsprogramms, die die großen Initiativen der letzten Jahre fortschreiben und teils operationalisieren. Diesbezüglich werden absehbar viele der proklamativen großen Versprechen relativ schnell zu Makulatur werden. Etwa ein Kernelement des European Green Deal, die energetische Gebäudesanierung. Plan war, dass jährlich etwa 3% des Gebäudebestandes renoviert werden. Geschafft werden etwa 1% und die Fachwelt vermutet, dass maximal 0,4% sogenannte deep renovation sind, also den Energieverbrauch in Richtung null bringen. Auch wird deutlich, dass europaweite (zentrale) Ansätze und direkte Vorgaben dysfunktional werden können. Etwa ein Forstmanagements, das geologische Bedingungen und Traditionen der Bewirtschaftung vernachlässigt, oder eine Biodiversitätsstrategie, die standardisierte Vorgaben für die Länder macht, dabei aber die Funktionen der Forstwirtschaft vergisst.

Viele der blumigen Programme und Versprechen werden an solchen Konstruktionsmängeln und den materiellen Bedingungen/Schwierigkeiten scheitern. Der Vorwurf allerdings, dass vieles in dem Programm window dressing, also Schau oder Augenwischerei sei, trifft nicht. Es sind einfach umstrittene Gegenstände, wie etwa aktuell das Lieferkettengesetz oder der Rechtsrahmen für Mindestlöhne. Hier geht es eher darum, was sich in der Programmatik der Parteienfamilien findet, und den Kampf um die öffentliche Meinung.