Politische Berichte Nr.6/2021 (PDF)04
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Regierungsbildung – Stimmen aus Nachbarländern

01 El Pais, Spanien: Klare Botschaft an Europa Claus Seitz, San Sebastián.
02Großbritannien: Gute Stimmung für Scholz Linda Clarke, London.
03Le Monde, Frankreich: „historisch“! Matthias Paykowski, Karlsruhe.
04 Erste Reaktionen in Polen: Schlechter Beginn Jakub Kus, Warschau.
05 NRC Handelsblad, Belgien: Große Ambitionen, große Enttäuschungen Rolf Gehring, Brüssel.
06 Neue Zürcher Zeitung, Schweiz: Der Koalitionsvertrag überzeugt nicht Alfred Küstler, Stuttgart.

Der Koalitionsvertrag umfasst 177 Seiten. Erst in den nächsten Wochen wird sich herausstellen, welche Gesetzesvorhaben diese neue Koalition anpackt und zu welchem Zeitpunkt. Die neue Regierung wird noch mehr als jede bisherige in einem europäischen Umfeld handeln müssen. Wir haben uns deswegen bemüht, aktuelle Stimmen zur Regierungsbildung einzufangen. Allgemein startet die neue Regierung in einem innerhalb der EU, die nahen Nachbarn Schweiz und Großbritannien eingeschlossen, überwiegend freundlich-skeptischem Umfeld. Zu spüren ist namentlich in Polen eine erhebliche Abneigung zur Ausweitung der Kompetenzen der EU gegenüber den Einzelstaaten sowie erhebliche Zweifel am Realitätsgehalt der Energiewende-Pläne. Letztlich wird erwartet, dass die neue Regierung die Politik der Ära Merkel fortsetzen wird. – Die Redaktion bedankt sich für die Beiträge zu dieser ersten Übersicht.

01

El Pais, Spanien: Klare Botschaft an Europa

Claus Seitz, San Sebastián. „Das deutsche Beispiel“ titelt am 26.11.21 El Pais sein Editorial zur deutschen Regierungsbildung und schließt mit dem wohlwollenden Kommentar: „In seiner Gesamtheit sendet das Regierungsabkommen eine klare Botschaft an Europa über die Notwendigkeit, mit Effizienz zu handeln in einem Moment, in dem die antieuropäische radikale Rechte versucht aus der aus der Krise hervorgerufenen Unzufriedenheit Kapital zu schlagen und eine reaktionäre Vision der Werte der Union aufzuzwingen.“ Das Abkommen sei eine gute Nachricht für Deutschland und Europa. El Pais hat nachgezählt und gefunden, dass auf den 181 Seiten des Abkommens das Wort „Europa“ an 254 Stellen erwähnt wird – viel öfters als „Deutschland“.

Hervorgehoben wird, dass das Programm auf einen radikalen Umbau des Wirtschafts- und Produktivitätsystems zielt unter der Vorgabe, die schwächsten Bereiche der Gesellschaft nicht zu bestrafen. Als ambitionierteste Projekte werden das Ziel, bis 2030 80 % der Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen zu speisen, der beschleunigte Ausstieg aus dem Markt fossiler Brennstoffe und der Impuls, neue Energiequellen wie den grünen Wasserstoff zu erkunden, hervorgehoben.

Im Sozialbereich wird in der geplanten, starken Anhebung des Mindestlohns, dem Bau von jährlich 400 000 neuen Wohnungen, 100 000 davon im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, ein Paradigmenwechsel gegenüber der Merkel-Regierung gesehen.

Von der beabsichtigten Reform des Stabilitätspakts werden bedeutende Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten EU erwartet.

02

Großbritannien: Gute Stimmung für Scholz

Linda Clarke, London. Financial Times vom 25. November 21: „Die Koalition vereint eine grüne Partei, die sich für eine Lockerung der strengen Steuervorschriften und Milliardeninvestitionen in die Ökologisierung der Wirtschaft einsetzt, und eine FDP, die auf eine rasche Rückkehr zur wirtschaftlichen Orthodoxie vor der Pandemie besteht. Dass solche ideologischen Differenzen schnell überbrückt werden konnten, zeugt von Scholz‘ Verhandlungsgeschick.“ Scholz Biografie wird durchdekliniert, um ihn am Ende als erfahrenen, für das Amt des deutschen Kanzlers geeignete Personalie erscheinen zu lassen. Insbesondere seine Profilierung als Finanzminister in der Corona-Krise wird hervorgehoben.

Financial times today vom 27. November: Insbesondere die Pläne der neuen Koalition zur Stärkung der Rechte von LGBTQ+-Personen und zur Einwanderungssituation wird thematisiert, ebenso die geplante Abschaffung des § 219a. Hingewiesen wird auf Kritik seitens der Polizeigewerkschaften gegen die Legalisierung von Cannabis.

Der Guardian vom 26.11.21 verbreitet gute Stimmung für Scholz und zitiert ihn: der Name „Ampel“, stehe der Koalition gut zu Gesicht. „1924 wurde die erste Ampel der Welt auf dem Potsdamer Platz in Berlin aufgestellt. Sie galt als ungewöhnliche Technik, und man fragte sich: ‚Kann sie funktionieren?‘ Aber heute ist sie nicht mehr wegzudenken: Sie hilft uns, schnell und sicher ans Ziel zu kommen.“ Sein Ziel sei es, „dass diese Koalition ähnlich wegweisend für Deutschland ist“.

03

Le Monde, Frankreich: „historisch“!

Matthias Paykowski, Karlsruhe. „Der künftigen Regierung ist es gelungen, innerhalb von zwei Monaten große Kompromisse zu schließen, um den Klimaschutz zu einer ihrer Prioritäten zu machen, ohne dabei weder die von der Liberalen Partei geliebte Marktwirtschaft noch den von der SPD verteidigten Arbeitnehmerschutz aufzugeben. Der Koalitionsvertrag kann somit als historisch bezeichnet werden“. Le Monde erwartet allerdings keinen Bruch mit der bisherigen Politik: „Olaf Scholz … verspricht sogar mit einer für ihn untypischen Emphase „die größte Modernisierung der deutschen Industrie seit mehr als einem Jahrhundert“. „Bei genauerem Hinsehen dürfte die Regierung … jedoch nicht grundlegend mit der Politik von Angela Merkel brechen. Außer vielleicht auf gesellschaftlicher Ebene mit der Entscheidung, Cannabis zu legalisieren“. Auch in den internationalen Beziehungen erwartet Le Monde, „dass sich die Rolle Deutschlands auf der internationalen Bühne durch den Abgang von Angela Merkel nicht entscheidend verändern wird“. Für die europäische Politik merkt Le Monde aber an, Macron könne als „die treibende Kraft, wenn es um europäische Ambitionen ging“, von Scholz abgelöst werden: „Das Regierungsabkommen … enthält ein sehr ehrgeizigeres Projekt für ein föderalistischeres Europa, als es sich der französische Präsident jemals vorgestellt hat“. Frankreich übernimmt ab 1. Januar die europäische Ratspräsidentschaft für die nächsten sechs Monate. In diese Periode fallen auch die französischen Präsidentschaftswahlen. Mal sehen, wem die Koalitionäre Wahlhilfe leisten!

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04

Erste Reaktionen in Polen: Schlechter Beginn

Jakub Kus, Warschau. Die Reaktionen polnischer Kommentatoren, aber auch der polnischen Regierung nach dem Abschluss des neuen Koalitionsvertrags in Deutschland, waren zunächst sehr ausgewogen und betrafen vor allem Arbeitsmarkt-, Klima- und Wirtschaftsfragen.

„Ich erwarte von der neuen deutschen Regierung, dass sie alles tut, um sicherzustellen, dass Nord Stream 2 kein Instrument im Arsenal von Präsident Putin ist“, sagte der polnische Premierminister Morawiecki in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Das Thema Nord Stream 2 nimmt in den polnisch-deutschen Beziehungen stets einen sehr wichtigen Platz ein. Die Hoffnungen ruhen auf der Tatsache, dass die Grünen, die Nord Stream 2 skeptisch gegenüberstehen, in die deutsche Regierungskoalition eingetreten sind.

Doch nicht alles gefällt der polnischen Regierung. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht ein Passus, der besagt, dass sich Berlin „für die Abschaltung gefährlicher Atomreaktoren“ an den Grenzen einsetzen wird (Portal https://www.energetyka24.com). Polen plant den Bau von Kernkraftwerken. Es ist bezeichnend, dass sich die meisten politischen Gruppierungen und sogar einige Umweltgruppen in dieser Frage einig sind. Dies könnte ein Grund für künftige Streitigkeiten sein.

Kommentatoren betonen auch, dass der deutsche Arbeitsmarkt ebenso wie der polnische unter einem Fachkräftemangel leidet, weshalb eine weitere Öffnung für die Zuwanderung von Arbeitskräften geplant ist. Darüber hinaus hat die neue Regierung Lohnerhöhungen, einschließlich eines Mindestlohns, angekündigt. „Das ist (…) eine gute Nachricht für polnische Arbeitnehmer, die in Deutschland arbeiten wollen, aber eine sehr schlechte Nachricht für unsere Wirtschaft“, betont das Meinungsbildungsportal https://www.money.pl.

Die oppositionelle Gazeta Wyborcza (https://wyborcza.pl) schreibt über die künftigen deutsch-polnischen Beziehungen: „Das Abkommen lässt auch die meisten polnisch-deutschen Institutionen außen vor. Die Rolle des Weimarer Dreiecks – das Format, in dem sich die Staats- und Regierungschefs früher trafen – wurde auf „Projekte“ reduziert. Dies ist ein Zeichen dafür, dass Polen für die Regierungen von SPD, Grünen und FDP nicht mehr die Rolle spielt, die es unter Angela Merkel gespielt hat. Und dass sie ihre Illusionen aufgegeben haben“. Er weist auch darauf hin, dass der Koalitionsvertrag den Satz enthält: „Wir wollen die Partnerschaft mit Polen, aber wir werden bei der Rechtsstaatlichkeit nicht nachgeben…“

Die polnische Ausgabe der Newsweek wiederum schreibt: „Die neue deutsche Bundesregierung hat ehrgeizige Pläne. Er wird keine Zeit haben, sich mit Polen zu befassen“.

Festgestellt wurden auch Veränderungen bei den Schwerpunkten der deutschen Europapolitik. Das Portal https://www.euractiv.pl stellt fest: „Laut der am Mittwoch vorgestellten Vereinbarung will die Koalition die laufende Konferenz über die Zukunft Europas als Ausgangspunkt für eine EU-Reform nutzen. In dem Dokument heißt es, die Konferenz solle zu einem Verfassungsprozess und schließlich zu einem europäischen Bundesstaat führen.“ Im Titel des rechtsgerichteten Portals https://wpolityce.pl: „Was bereitet die neue Regierung in Berlin für uns vor? Eine erschreckende Vision von Europa. Sie kündigt den Aufbau eines neuen Imperiums an – unter dem Deckmantel der Fürsorge“.

In einem Kommentar sagt der ehemalige polnische Außenminister: – In dieser Programmankündigung zeigt sich die Verwirklichung der Idee eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“, wenn es Länder gibt, die sich nicht für den Prozess der Föderalisierung der Europäischen Union aussprechen.

Die Reaktionen waren relativ ruhig, aber das änderte sich schnell. Auf einer Sitzung des parlamentarischen Clubs der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit sagte Jaroslaw Kaczynski: „Deutschland hat seine Karten auf den Tisch gelegt und will das Vierte Reich errichten“. Der für seine mangelnden diplomatischen Fähigkeiten und sein Desinteresse an internationalen Fragen bekannte Vorsitzende von Recht und Gerechtigkeit wollte sich zu den föderalistischen Absichten der neuen deutschen Regierung äußern. Und obwohl dies bei der Opposition – wegen der historischen Assoziationen – eine scharfe Reaktion hervorrief, muss man ehrlich sagen, dass die Befürworter des Föderalismus in Europa auch auf Seiten der Opposition in der Minderheit sind. Es sollte auch klar gesagt werden, dass die Medienberichterstattung über die neuen deutsch-polnischen Beziehungen nicht schlechter hätte beginnen können… Bislang gibt es auf polnischer Seite kein Konzept für diese Beziehungen. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, denn seit mehreren Jahren gibt es in Polen keine koordinierte Außenpolitik mehr.

(Übersetzung: deepl/rog)

05

NRC Handelsblad, Belgien: Große Ambitionen, große Enttäuschungen

Rolf Gehring, Brüssel. Die drei Parteien der „Ampelkoalition“ haben mehr versprochen, als sie halten können, analysiert Hanco Jürgens. „… mit ihren großen Ambitionen haben die neuen Koalitionsparteien der kommenden Regierung auch gleich eine schwere Bürde auferlegt. Schon jetzt ist klar, dass alle drei Parteien übertriebene Versprechungen gemacht haben, für die sie später verurteilt werden.

Die FDP … hat sowohl einen ausgeglichenen Haushalt als auch Steuersenkungen versprochen. Angesichts der ehrgeizigen Pläne des Kabinetts für eine neue digitale Infrastruktur, die Klimapolitik und die Sozialpolitik wird dies eine schwierige Aufgabe sein.

Auch die Grünen haben große Versprechungen gemacht, in ihrem Fall zur Klima- und Außenpolitik.

Auf dem Gebiet der Außenpolitik werden sicherlich Enttäuschungen folgen. So wird beispielsweise allgemein angenommen, dass das Kabinett Merkel in der europäischen Flüchtlingspolitik zu wenig getan hat. Es ist nicht so, dass mit einem neuen deutschen Kabinett plötzlich alle EU-Länder, auch Österreich und die Niederlande, sich in diesem Bereich bewegen werden.

Ein ähnliches Problem stellt sich bei der Eröffnung der russisch-deutschen Gaspipeline Nordstream II. Die neue Außenministerin Baerbock ist dafür, die Öffnung dieser Pipeline von der russischen Menschenrechtspolitik abhängig zu machen. Das hört sich gut an, aber nächstes Jahr werden die letzten sechs Kernkraftwerke geschlossen. Bleibt die Pipeline geschlossen, wird Deutschland noch länger von Braun- und Steinkohle abhängig sein und die Energiewende, der wichtigste Programmpunkt der Grünen, ist in Gefahr.

Die interessanteste Frage ist, ob die Sozialdemokraten ihren Ambitionen gerecht werden können. Olaf Scholz hat die wichtigsten Bücher über die Kluft in der Gesellschaft gelesen. In diesen Büchern geht es um die Betonung des individuellen Erfolgs in unserer Gesellschaft, die große Gruppen von Menschen desillusioniert, die nicht mithalten können. Sie glauben nicht mehr an die Möglichkeit eines besseren Lebens und verlieren das Vertrauen in die Politik. Scholz‘ Ziel ist es, genau diesen Menschen eine Antwort zu geben. Das Versprechen, den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben, 400 000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, wird ebenfalls zur Vertrauensbildung beitragen. Doch um den verlorenen Söhnen und Töchtern der deutschen (und europäischen) Sozialdemokratie den Glauben an die Politik zurückzugeben, ist mehr Überzeugungsarbeit nötig.

06

Neue Zürcher Zeitung, Schweiz: Der Koalitionsvertrag überzeugt nicht

Alfred Küstler, Stuttgart. Es war die Stunde des Eigenlobs: SPD, Grüne und FDP konnten am Mittwoch gar nicht oft genug wiederholen, wie stimmig ihr Koalitionsvertrag sei. Ziemlich flott und ohne Drama haben die drei Parteien ein gemeinsames Regierungsprogramm geformt, das teilweise wirklich Lob verdient: So soll zum Beispiel die sogenannte Schuldenbremse eingehalten werden, das Pflegepersonal eine Bonuszahlung von insgesamt einer Milliarde Euro erhalten und Cannabis unter strengen Vorgaben legalisiert werden. „Mehr Fortschritt wagen“, lautet die Überschrift des Vertrags, in dem mehr als zweihundert Mal das Wort „stärken“ vorkommt. Dass Deutschland einen stärkeren Klimaschutz, stabile Finanzen oder eine solide Migrationspolitik braucht, würde kaum jemand bestreiten. Nicht nur bei diesen drei Themen fragt man sich aber, ob das mit den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag funktionieren kann. So zieht es sich durch: Die Koalitionäre erkennen die drängenden Probleme im Land, auf dem Weg zur Lösung verlaufen sie sich aber immer wieder im Unterholz. Das mag an weltanschaulichen Differenzen liegen oder auch am fehlenden Mut, die richtig dicken Bretter zu bohren. Aber vielleicht geht es auch eine Nummer kleiner: Der Grünen-Chef Robert Habeck sagte am Mittwoch einen wichtigen Satz: Er versprach „ein Deutschland, das schlichtweg funktioniert“. Gerade in der Pandemie hat nicht viel geklappt, daher werden SPD, Grüne und FDP schon genug zu tun haben, um nur diesen Anspruch zu erfüllen. Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Partner läuft erstaunlich geräuscharm. Die Harmonie scheint jedoch mit Kompromissen erkauft zu sein, die eher dem Bündnis zugutekommen als dem Land.

Abb. (PDF): Kampagnenlogos gegen Atomwaffen. Letzte Meldung. Die Mitgliederbefragung hat bei den Grünen 86% Zustimmung zum Koalitionsvertrag ergeben. Unklar ist, wie die Partei die in diesem Vertrag gegebene Zustimmung zur sog. „atomare n Teilhabe“ mit ihrer pazifistischen Tradition zusammenbringen will. Es geht ja nicht nur um die Stationierung von Atomwaffen in der BRD, sondern auch um die Bereitstellung eines Trägersystems und die „Teilhabe“ am Einsatz. Dazu kommt noch, dass die USA und die anderen Nato-Atommächte sich weigern, wenigstens einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen in militärischen Konflikten auszusprechen.