Politische Berichte Nr.6/2021 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Spanien: Halbzeit für linke Minderheitsregierung!?

01 Nationalistische baskische Linke: Entschuldigung bei ETA-Opfern

Claus Seitz, San Sebastián

Mit 188 Ja-Stimmen zu 159 Nein und einer Enthaltung hat die linke Minderheitsregierung am 25.11. die Abstimmung über den Staatshaushalt 2022 im spanischen Kongress (350 Abgeordnete) gewonnen. Elf Parteien (PSOE, Unidas Podemos, ERC, PNV, Bildu, PDeCAT, Más País, Nueva Canarias, Compromís, Teruel Existe y PRC) stimmten dafür.

Bei der Regierungsbildung am 7. Januar 2020 wurden noch 167 Ja-Stimmen erzielt. Vor allem die katalanische republikanische Linke (ERC) mit 13 Sitzen und die baskische radikale Linke (EH Bildu) mit fünf Sitzen haben sich seither von der Enthaltung zur Zustimmung bewegt.

Entgegen allen pessimistischen Vorhersagen einer instabilen linken Koalitionsregierung kann man zumindest im Parlament von einer schrittweisen Konsolidierung der Regierung sprechen.

Für die Zustimmung der ERC-Abgeordneten wurde neben Investitionen in Infrastrukturprojekte vereinbart, dass audiovisuelle Plattformen wie Netflix 20 % ihrer europäischen Produktionen in den regionalen Amtssprachen Katalanisch, Baskisch und Galizisch anzubieten haben. Die Regierung wird dies steuerpolitisch unterstützen, eh verfolgt man den Plan, Spanien zu einem großen Zentrum europäischer Filmproduktion zu machen.

Mit EH Bildu wurde u.a. vereinbart, einen Fonds zur Unterstützung von Asbestopfern zu schaffen, was gerade im Baskenland mit seiner traditionellen Schwerindustrie von Bedeutung ist.

Die mit ERC, EH Bildu und den weiteren sieben Parteien vereinbarten zusätzlichen Maßnahmen, um deren Unterstützung zu gewinnen, machen weniger als 0,9 % des Haushalts 2022 aus.

El Pais bewertet den Pakt mit ERC als ersten größeren Beitrag des katalanischen Nationalismus zur Regierbarkeit Spaniens nach der katalanischen Krise, als einen nicht geringzuschätzenden Beitrag für die Ermöglichung einer Regierung, die die wirtschaftlichen Folgeschäden der Covid-19-Pandemie zu bewältigen und die Zuschüsse aus den europäischen Restrukturierungsfonds zu verwalten hat, in einer Legislaturperiode mit einer komplexen Vielparteien-Architektur. Die Schritte zu einer Rückkehr zur Beteiligung an der politischen Szene in Spanien seien nicht mehr nur reine Gesten.

Katalonien selbst ist in eine neue, offene politische Phase eingetreten. Die Ablehnung des Unilateralismus hat sich verstärkt. Der Block der Unabhängigkeitsparteien ist zerbrochen. ERC, die führende Regierungspartei in Katalonien, hat die Forderung der linksradikalen CUP abgelehnt, innerhalb von zwei Jahren ein erneutes Referendum durchzuführen, und das Angebot der Comuns, einen Pakt zur Rettung des katalanischen Haushalts zu schließen, akzeptiert. Im Gegenzug wird ERC für den Haushalt der Stadt Barcelona, von Comuns und Sozialisten in Minderheit regiert, stimmen.

Haushaltsdebatte

Der Staatshaushalt 2022 sieht, gestützt auf 27,6 Mrd. aus den europäischen Fonds, Rekordinvestitionen vor: 13,3 Mrd. Euro in Wissenschaft und Forschung (+90 %), 11,3 Mrd. Euro für Industrie und Energie, 11,8 Mrd. Euro in Infrastruktur und dauerhafte Ökosysteme.

126,5 Mrd. Euro sollen an die autonomen Regionen, 23,4 Mrd. Euro an Städte und Gemeinden gehen. 240,4 Mrd. Euro (60 % des Staatshaushalts), ebenfalls eine Rekordsumme, werden in den Sozialhaushalt fließen.

Dennoch soll das Staatsdefizit von 11% im Jahr 2020, über 8,4 % in 2021 auf 5 % in 2022 gesenkt werden. Die spanische Regierung folgt damit den Empfehlungen der EU-Kommission, die wegen des gegebenen hohen Schuldenniveaus Spaniens empfahl, „eine kluge Finanzpolitik beizubehalten, um auf mittlere Sicht die öffentlichen Kassen dauerhaft abzusichern“.

„Die EU-Kommission verbürgt sich für den spanischen Staatshaushalt 2022, weil er die Basis setzt für eine gerechte Erholung, die europäischen Fonds einbezieht, um Investitionen und ausgeglichenes wirtschaftliches Wachstum anzuschieben und gleichzeitig ermöglicht, dass Spanien sein Defizit und seine Schulden weiter verringert“, so die spanische Finanzministerin Montero.

Die rechten Parteien PP, Vox und Ciudadanos sehen das völlig anders. Sie benutzten die seit Beginn der Legislaturperiode üblichen Abwertungen, um den Haushaltsentwurf auf Schärfste, zu kritisieren. Pablo Casados (PP): Der Staatshaushalt ist „überholt“, „totgeboren“, „ruinös“, „sozialkommunistisch“. „Spanien wird künstlich beatmet“. Der Staatshaushalt gleicht „einer Verschwendung der öffentlichen Kassen“, „einem Axthieb gegen alle, die Beschäftigung schaffen“, „verurteilt das Land, in den nächsten zehn Jahren 60 Mrd. auszugleichen“. Casados Rezept dagegen: Die Steuern um 10 Mrd. Euro kürzen. Überflüssige Ausgaben kürzen, was 60 Mrd. Euro / Jahr einsparen könnte. Die wirkliche Lösung sei aber, Schluss zu machen mit der Regierung Frankenstein und die Macht an die PP zurückzugeben. „Wieder einmal wird die PP Spanien aus dem Ruin retten müssen.“

Die Unterstützung durch EH Bildu, wurde zum Anlass der Skandalisierung genommen. Espinosa de los Monteros (Vox): „Dieser Staatshaushalt legitimiert das totalitäre Projekt, das im Baskenland weiterlebt. ETA kehrt zurück, um zu gewinnen“. „Die Regierung kniet vor ETA nieder.“ Guillermo Diaz, Fraktionssprecher von Ciudadanos, warf der Regierung vor, „die Erinnerung an ETA zu löschen, um in Ruhe mit EH Bildu paktieren zu können“.

Der sozialistische Abgeordnete Odon Elorza, der von 1991 bis 2011 Bürgermeister von San Sebastian war und in diesem Zeitraum viele von ETA ermordete Parteifreunde zu Grabe tragen musste, antwortete darauf: „Jetzt ist es gut, hören Sie auf die Opfer des Terrorismus zu benutzen, um die Linksregierung anzugreifen, einen Haushaltsentwurf in Verruf zu bringen. Seien sie nicht so armselig, lassen sie den ETA-Terror in Frieden. ETA ist verschwunden. ETA ist nicht hier, hier gibt es keine Terroristen.“

Die kalkulierte Strategie der Anspannung des politischen Klimas, der dauernden Konfrontation und der Verschärfung der politischen Auseinandersetzung entfaltet offensichtlich Wirkung. Nach einigen Meinungsumfragen würden die rechten Parteien bei Neuwahlen derzeit die Mehrheit im Parlament erringen. Bei einer schweren Niederlage der linken Regierungsparteien bei den 2022 anstehenden Regionalwahlen in der bevölkerungsreichsten spanischen Region Andalusien ließen sich eventuell vorzeitige Neuwahlen erzwingen.

Die Linksregierung setzt dagegen darauf, dass die geplanten wirtschaftlichen Projekte und politischen Reformen innerhalb der nächsten zwei Jahre zu wirtschaftlichem Aufschwung, zu sichtbarer Modernisierung der spanischen Wirtschaft und der Arbeitsbeziehungen führen. – Es wird sich zeigen, ob die Linksregierung die Kapazität hat, die geplanten Projekte im Rahmen der EU-Fonds gegen hartnäckige bürokratische Hindernisse in Kooperation mit autonomen Regionen, Städten, Unternehmen und Verbänden rasch und erfolgreich umzusetzen.

Ein Beispiel: Das seit Juni 2020 gültige garantierte Mindesteinkommen soll eigentlich 800 000 bedürftige Familien (mit ca. 2,3 Millionen Personen) vor schlimmster Armut schützen. Eineinhalb Jahre nach der Einführung ist es nur bei 377 000 Haushalten angekommen. Von den im Haushalt der Sozialversicherung für 2021 dafür vorgesehenen 2,73 Mrd. Euro ist bisher gerade mal die Hälfte ausgezahlt worden. 72,9% der behandelten 1,24 Millionen Anträge wurden aus unterschiedlichen Gründen erstmal abgelehnt, 60 % davon, weil Einkommens- oder Vermögensgrenzen überschritten werden.

Abb. (PDF): Bild: Vorstellung der geplanten Arbeitsreform durch das Arbeitsministerium bei der EU-Kommission in Brüssel. Auf Hochdruck laufen die Verhandlungen mit den Sozialpartnern über die Arbeitsreform, die bis Jahresende abgeschlossen werden muss. Regelungen zur Reduzierung der hohen Quoten befristeter Arbeitsverhältnisse, ein neues Kurzarbeitsgesetz und eine Neujustierung der Rahmenregelungen für kollektive Tarifverhandlungen stehen im Zentrum.

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Nationalistische baskische Linke: Entschuldigung bei ETA-Opfern

Am 18. Oktober, anlässlich des zehnten Jahrestags der Einstellung des bewaffneten Kampfs durch ETA, hat die nationalistische baskische Linke (EH Bildu, Sortu) gegenüber den ETA-Opfern eine lange geforderte Entschuldigung abgegeben:

„Heute möchten wir uns insbesondere an die Opfer der ETA-Gewalt wenden. Wir möchten Ihnen unser Beileid und unseren Schmerz für das Leid zum Ausdruck bringen, das sie ertragen mussten. Wir empfinden ihren Schmerz und möchten ihnen aufrichtig versichern, dass ihr Leid niemals hätte geschehen dürfen. Niemand darf mit dem Geschehenen zufrieden sein, nicht damit, dass es sich über einen so langen Zeitraum hinziehen konnte …

Leider gibt es keine Abhilfe für das Geschehene. Mit unseren Worten können wir das verursachte Leid nicht wiedergutmachen, aber wir sind davon überzeugt, dass ausgehend von Respekt, Achtung und Erinnerungsvermögen es möglich sein wird, es zumindest zu erleichtern. Von ganzem Herzen möchten wir ihnen versichern, dass wir ihr Leid in höchstem Maße bedauern, und dass wir uns verpflichten, es zu mildern, soweit es in unserer Macht steht. Dafür werden wir immer zur Verfügung stehen.“

Während die Erklärung von den linken Regierungsparteien positiv aufgenommen wurde, ging der Tenor bei den Rechtsparteien von „den Terroristen glaubt niemand“ bis „Abscheu“. Von Seiten der ETA-Opfer begrüßten einige den Schritt, andere beurteilten ihnen unzureichend. Während z.B. Vitoria Maria Jauregi, Tochter eines ermordeten Sozialisten und ehemaligen Zivilgouverneurs im Baskenland, die Erklärung als „Fortschritt“ beurteilte und forderte, dass von Seiten des Staates eine entsprechende Erklärung bezüglich der von den „antiterroristischen Befreiungsgruppen“ (GAL) ausgeübten Terrorakte fällig wäre, forderte Marta Buesa, Tochter eines ermordeten, ehemaligen Vize-Regierungschefs im Baskenland, von der nationalistischen baskischen Linke eine „Anerkennung der begangenen Ungerechtigkeit“ und eine Selbstkritik dafür, „dass ETA jahrzehntelang Deckung auf politischer Ebene“ gegeben wurde.

In der Erklärung selbst wurde weiter hervorgehoben, dass die Ankündigung der Aufgabe der Gewalt von Seiten ETA vollständig und einmütig umgesetzt wurde, und es im Nachhinein nicht zu schweren Problemen gekommen sei wie in anderen vergleichbaren Prozessen.

Es ginge nicht um taktisches Kalkül, sondern um eine strategische Entscheidung, um die Verpflichtung der Unabhängigkeitsbewegung auf ausschließlich friedliche und demokratische Wege, was ihrer tiefen ethischen und politischen Überzeugung entspreche und unveränderlich sei.

Die Erklärung und Schritte, die zwangsläufig daraus zu erfolgen haben, werden positive Auswirkungen auf den Versöhnungsprozess und das Zusammenleben im Baskenland und in ganz Spanien haben, insbesondere auch auf die Meinungsbildung unter Teilen der baskischen Jugend.