Politische Berichte Nr.6/2021 (PDF)21
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

„Tagebuch der Gefühle“ – ein spannendes Projekt aus Halle

Am 21. Oktober hat die Stiftung Auschwitz-Komitee den mit insgesamt 5 000 Euro dotierten Hans-Frankenthal-Preis vergeben. Der Preis ging in diesem Jahr zu gleichen Teilen an die Projekte „Ort der Verbundenheit“ (Gedenkstätte Neuengamme), „Zwei Geschichtsreisen nach Serbien und Griechenland zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit“ (present:history, Wien) und „Tagebuch der Gefühle“ (Halle/Saale). Alle drei Projekte sind der Erkenntnis verpflichtet, dass die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland unmittelbar mit der NS-Vergangenheit zusammenhängen. Jedes von ihnen stellt eine besondere Verbindung her: zwischen den Generationen, zwischen Ländern und zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Milieus.– Foto (Christiane Schneider): Jugendliche betrachten Ausstellungsdokumente.

Christiane Schneider, Hamburg

Die außerschulische Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ aus Halle soll hier vorgestellt werden. Sie entstand 2011/12, gefördert vom DGB Halle-Dessau, und richtete sich zunächst an junge Gewerkschafter:innen mit und ohne Hauptschulabschluss, die ein Berufsvorbereitungsjahr absolvierten und in ihrer Schulzeit in der Regel nichts über das Nazi-Regime und seine Verbrechen gehört hatten. An einer ersten Studienreise nach Auschwitz nahmen neben dem engagierten Projektleiter elf Jugendliche teil. Auf dieser Reise entstand das erste „Tagebuch der Gefühle“ – „Tagebuch der Gefühle“, weil die Jugendlich noch während der Reise ungefiltert und unverstellt ihr Entsetzen, ihre Fassungslosigkeit und ihre Trauer zu Papier brachten. „Wir sind in einem Raum“, heißt es etwa im zweiten Tagebuch, das bei einem weiteren Auschwitz-Aufenthalt entstand, „wo es nur Menschenhaare gibt. Ich glaube, wir werden blöd, wir versprechen, heute, jetzt und hier diese schrecklichen Bilder mit nach Halle zu nehmen. Wir spüren nur Schmerz und Angst. So viele Menschenhaare haben wir noch nie gesehen. Meine Knie sind weich. Es ist unerträglich, es ist unerträglich.“ Ihre Gefühle niederzuschreiben, damit haben sich die Jugendlichen mit Unterstützung ihres engagierten Projektleiters einen Zugang zur Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit dem Faschismus und seinen Menschheitsverbrechen geschaffen. Dabei blieb es nicht. Nach der Reise hat die Gruppe eine rege Veranstaltungstätigkeit entfaltet, bis heute, nur unterbrochen und eingeschränkt durch die Corona-Pandemie. Sie geht in Klassen und Vereine, liest aus ihren „Tagebüchern“, berichtet von ihren Eindrücken und Erfahrungen und erreicht mit ihrem Ansatz viele Jugendliche, die sonst oft nur schwer zu erreichen sind.

In den letzten Jahren ist das Projekt gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Seit 2018 haben sich die Stiftung Bildung und Handwerk (SBH) – Südost GmbH und die Kooperative Gesamtschule Ulrich van Hutten sowie weitere fünf Bildungseinrichtungen als Träger und Unterstützer zusammengetan. 2021 zählt die Gruppe 39 Jugendliche. Diese offensichtlich stabile Kooperation von Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und mit unterschiedlichen Bildungswegen ist beispielgebend und für alle Beteiligten ein Gewinn.

Zwei weitere „Tagebücher“ sind entstanden, die den Entwicklungsprozess dokumentieren, den die Akteur:innen durch ihre Arbeit durchlaufen. Schon im ersten „Tagebuch“ von 2012 liest man: „Mike sagt, von mir wird es nie wieder einen dummen Nazispruch geben – ich denke jetzt und handle.“ Zunehmend spielt nun das „Handeln“ eine größere Rolle. Die Jugendlichen putzen Stolpersteine und spüren dem Leben von verfolgten und ermordeten Bürger:innen ihrer Stadt nach, an die die Stolpersteine erinnern. Dazu gehen sie ins Stadtarchiv, um ihre Geschichte zu recherchieren, besuchen die Stätten ihres Leidensweges, zum Beispiel das Zuchthaus Roter Ochse in Halle, das den Nazis ab 1942 als Hinrichtungsstätte diente, suchen sie im Museumsarchiv Auschwitz Birkenau im „Buch der Namen“ und sprechen mit Zeitzeug:innen. Sie besuchen den Jüdischen Friedhof in Halle, Außenlager des KZ Buchenwald und andere, auch weniger bekannte KZs in Sachsen-Anhalt. Sie fahren zur Gedenkstätte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, die 1940 zu einer der sechs zentralen Vernichtungsanstalten für Patient:innen aus psychiatrischen Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten wurde, zur Produktionsstätte von Zyklon B und an andere Orte.

Im Oktober 2018 besucht die Gruppe die Synagoge in Halle, um mit der jüdischen Gemeinde Schabbat zu feiern. Als ein Jahr später am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur am 9. Oktober der antisemitische Anschlag auf die Synagoge stattfindet und nur die stabile Tür ein Blutbad verhindert, veröffentlicht die Gruppe ein Video einer eindrucksvollen Aktion: „Jetzt erst recht Haltung zeigen! Wir sind eine bunte Gesellschaft, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und jegliche Form von Hass keinen Platz haben.“ Zur Gruppe stieß nach dem Anschlag Max, der mit dem vom rechtsterroristischen Attentäter ermordeten Kevin S. seinen Freund verloren hatte, in der Gruppe Halt findet und sich in und mit ihr gegen Antisemitismus und Rassismus engagiert.

Das dritte „Tagebuch“, das 2020 erschien, dokumentiert die weitere Spurensuche. Es trägt den Titel „Wir sind die neuen Zeitzeugen“, ein Titel, der zunächst irritieren mag, jedoch die Entwicklung und den Anspruch der Gruppe zum Ausdruck bringt. Nico, einer der Teilnehmer, drückt es in einem Interview mit dem MDR so aus: „Wir sind die neuen Zeitzeugen, indem wir die Geschichte weiter aufarbeiten, die geschehen ist, und wir sind die neuen Zeitzeugen für das, was heute hier und jetzt in Deutschland passiert.“ „Von Schüler*innen, für Schüler*innen,“ beschreiben sie ihren Anspruch auf ihrer Website. „Nicht Lehrer zum Schüler. Das Tagebuch ist in unserer Sprache geschrieben. Das Projekt hat Schnittstellen zur historischen Bildung, Erinnerungskultur und soll über die Themen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufklären und sensibilisieren, mit dem Ziel, Ausgrenzung vorzubeugen.“

Am ersten Jahrestag des Anschlags auf die Synagoge, am 9.10.2020, nahm die Gruppe die Arbeit an ihrem vierten „Tagebuch der Gefühle“ auf, das sich in vier Teilen mit der Entwicklung des Antisemitismus in der Zeit nach 1945 in Deutschland, der BRD und der DDR, befasst. Den ersten Teil stellten sie in einer Veranstaltung mit Film und Lesung am 9.10.2021 vor, der letzte Teil soll genau drei Jahre später vollendet sein.

Abb. (PDF): Zwei Fotos zur Ausstellung. Neben den Tagebüchern und den Lesungen wendet sich die jugendliche Gruppe über die sozialen Medien an die Öffentlichkeit. Sie ist auf Instagra#m aktiv (1) und hat eine inzwischen längere Reihe kurzer, prägnanter und professionell anmutender Videos produziert, die sie auf Youtube und ihrer Website (2) veröffentlicht. In den letzten Jahren hat die Gruppe einige Preise erhalten, zuletzt neben dem Hans-Frankenthal-Preis den Margot-Friedländer-Preis der Schwarzkopfstiftung.

1 Zu finden unter: tagebuchdergefuehle. 2 https://sites.google.com/view/tagebuch-der-gefuehle/startseite