Politische Berichte Nr.6/2021 (PDF)28
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

Der Krieg in Afghanistan ist noch nicht zu Ende

Cem Sey, Berlin

Erst vor vier Monaten sahen wir die Fernsehbilder, die zeigten, wie Afghan*innen den Flughafen Kabul belagerten, um sich vor Taliban in Sicherheit zu bringen, und waren schockiert. Heute, nach der Bundestagswahl und Machtwechsel in Berlin, denkt kaum jemand mehr über Afghanistan nach. Doch trotz der irrigen Annahme, mit dem Abzug westlicher Armeen würde er enden, ist der Krieg in Afghanistan noch nicht vorbei. Weiterhin explodieren Autobomben in afghanischen Städten, zahlreiche Menschen sterben im Kugelhagel. Die Opfer sind nicht nur die religiösen und ethnischen Minderheiten, sondern diesmal auch die Taliban selbst. Wie es auf dem Land aussieht, weiß, dank Taliban-Zensur, niemand so genau.

Mehrere Gruppierungen bekämpfen das Taliban-Regime. Zum einen führt der IS einen erbarmungslosen Kampf gegen die Taliban und die schiitischen Hazara. Aber auch die Nationale Widerstandsfront, in der sich einige politische Gruppen zusammenschlossen, die bis vor einigen Monaten die Macht in Kabul teilten, hat den Kampf nicht aufgegeben, obwohl sie sich noch keine zuverlässigen Strukturen geben konnte.

Vor allem aber tobt der Krieg der Taliban gegen die eigene Bevölkerung. Es werden Menschen in Polizeigewahrsam gefoltert und getötet, ehemalige Polizisten und andere Mitarbeiter der gestürzten Regierung werden auf offener Straße niedergeschossen, zivilgesellschaftliche Akteure verfolgt und umgebracht.

Wie die vier Frauenrechtlerinnen, die vor einigen Wochen – „ganz überraschend für die Taliban“ – im Leichenschauhaus der nördlichen Stadt Masar-i Scharif auftauchten. Sie hatten zuvor ihre Häuser verlassen, um ins Ausland zu flüchten. Wurden sie von der Taliban getötet, sind sie Opfer von Schleuserbanden geworden, oder beides? Niemand weiß die Antwort. Fakt ist: der gewalttätigen Bande, die heute den Komfort von Ministersesseln in Kabul genießt, ist die Antwort egal. Die neuen Herrscher tun so, als ob die Morde die Taten Einzelner wären und mit ihnen nichts zu tun haben.

Auf europäischer Ebene laufen bereits Gespräche darüber, wie im Lichte der Erfahrungen aus Afghanistan weitere Auslandseinsätze konzipiert werden sollten. Daher muss der neu gewählte Bundestag den Afghanistan-Einsatz der Bundesrepublik gründlich untersuchen, analysieren und dabei nicht nur die 20 Jahre berücksichtigen, in denen die Bundeswehr vor Ort war, sondern das gesamte „Afghanistan-Problem“ mit ihrer Geschichte und dessen regionalen Rahmen. Sonst ist eine Fehlanalyse programmiert.

„Krieg gegen den Terror“

In unseren Köpfen ist Afghanistan zu Recht mit dem Begriff „Krieg gegen den Terror“ verbunden. Heute wird oft vergessen, dass die USA vor dem 11. September an Kriegsplänen gegen den Irak schmiedete. Nur die europäischen Verbündeten winkten ab. Auch im eigenen Land konnte das Weiße Haus nicht mit einer begeisterten Unterstützung für den Sturz Saddam Husseins rechnen.

Der brutale Angriff auf die Twin Towers in New York kam der damaligen US-Administration daher sehr gelegen. Die Unterstützung der eigenen Wähler war gesichert, die Verbündeten konnten sich kaum noch widersetzen. US-Präsident George W. Bush taufte den Waffengang „Krieg gegen den Terror“. Es war ein praktischer Name. So musste der Krieg nicht unbedingt mit der Eroberung Kabuls enden.

Europäer, auch die damalige Bundesregierung, zeigten sich einerseits solidarisch mit den USA. Andererseits bezweifelten sie, dass eine militärische Intervention allein das Problem lösen könnte. Außenminister Fischer und andere wollten die Ursache des Problems bekämpfen. Sie plädierten für den Aufbau eines neuen Staates in Afghanistan und wollten demokratische Strukturen installieren. Selbst Russland und China, aber auch der mit den USA verfeindete Iran begrüßten und unterstützten dieses Vorgehen.

Petersberger Konferenz

Die Idee des Aufbaus hat sich bei der Petersberger Konferenz durchgesetzt. Nach der Entmachtung der Taliban sollte eine Übergangsregierung gegründet, eine neue und demokratische Verfassung ausgearbeitet werden. Danach waren freie Wahlen vorgesehen.

Der Plan hörte sich gut an, ignorierte aber die afghanische Realität. Denn, obwohl es aus einer westlichen Perspektive nicht ersichtlich ist, gibt es auch in Afghanistan eine Innenpolitik, traditionsreiche politische Parteien und Entwicklungsstrategien für das eigene Land, die zu berücksichtigen wären.

Afghanistans politische Landschaft gleicht einem fluiden Mosaik, das mit häufig wechselnden Koalitionen kaum zur Ruhe kommt. Die rivalisierende Vorherrschaft der Paschtunen und der Tadschiken verkompliziert die Lage, weil keine der beiden die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht. Hinzu kommen zahlreiche weitere Volksgruppen, wie die Hazaras, Usbeken und Turkmenen. Sie alle, allen voran Paschtunen, gliedern sich auf in miteinander rivalisierende Stämme.

Diese ethnische Vielfalt bestimmt Afghanistans politische Machtverhältnisse sowie das politische Geschehen im Land. Die Interessen verschiedener Glaubensrichtungen innerhalb des Islams, verschiedener Klassen und sozialer Gruppen, allen voran der Frauen, werden ebenfalls entlang dieser ethnischen Grenzen vertreten und erschweren Problemlösungen zusätzlich.

Die Parteienlandschaft spiegelt diese Komplexität wider. Es gibt Monarchisten aus vor-sozialistischen Zeiten, die Muslimbrüder, tadschikisch dominierte Jamiat-i Islami, die Pandschiris – eine gemäßigt konservative Gruppe, die lokal begrenzt im Pandschirtal wirkt. Hinzu kommen Jumbish-i Islami der Usbeken und Hisb-i Wahdat der Hazaras. Selbst Sozialisten und säkulare Republikaner existieren weiterhin. Nicht zuletzt gibt es die von den USA unterstützten und eingesetzten Technokraten. Die Taliban vertreten hauptsächlich die Interessen des konservativsten Ulemas, der Religionslehrer.

In einem Land, in dem die politischen Interessen derart kompliziert sind, hilft am besten ein starkes Parlament, das ein Interessenausgleich durch demokratische Beratungen erlaubt. Doch US-Berater überstülpten Afghanistan ein starkes Präsidialsystem, wahrscheinlich weil es Washington ermöglichen würde, keine Zeit mit mehreren Gesprächspartnern zu verlieren. Ein Parlament existierte zwar, war aber sehr schwach. Ein schwerer Fehler: die gewollte Abwesenheit eines starken Parlamentes, in dem mit der Bevölkerung interagierende politische Parteien die Auseinandersetzungen führen und Kompromisse aushandeln, führte schließlich im Sommer 2021 zur Implosion des Staates, als eine militärische Niederlage drohte. Jede Gruppe ging ihren eigenen Weg. Deswegen wählten die afghanischen Soldaten sich zu ergeben, anstatt für einen vereinsamten Präsidenten zu kämpfen – nicht, weil sie zu feige waren oder mit den Taliban sympathisierten.

Die Stimmung kippt

Die afghanische Bevölkerung war in den anfänglichen Jahren dennoch sehr optimistisch und glaubte tatsächlich an eine demokratische Entwicklung. Als die Unterdrückung der Taliban beendet wurde, wurden viele Menschen aktiv. Es entstand eine lebendige, aber noch schwache Zivilgesellschaft, in der vor allen junge Menschen das Land zu verändern versuchten. Manche arbeiteten mit westlichen NGOs zusammen, aber bei weitem nicht alle.

Dieser Optimismus ließ nach den Parlamentswahlen 2006 allmählich nach. Denn einerseits fokussierte die USA ihre militärischen Operationen auf Drohnenangriffe, die keineswegs so präzise waren, wie es behauptet wurde. Die Zahl ziviler Opfer stieg rapide.

Andererseits gerieten die USA auch deshalb in Kritik, weil sie, um ihre Ziele zu erreichen, gemeinsame Sache mit Warlords machten. Dass die CIA US-Dollars in Plastiktüten durch das Land trug und die Loyalität alter Warlords kaufte, und sowohl der Präsident Ashraf Ghani als auch sein Vorgänger Hamid Karzai sich an diesen Geldern ebenfalls bedienten, war ein offenes Geheimnis.

Die Bezahlung der westlichen Berater war ein weiteres Thema. Die Billionen, über deren Höhe die westliche Öffentlichkeit sich zunehmend beschwerte, blieben kaum in Afghanistan, sondern wurden zum Teil in Form von Gehältern oder Beraterhonorare wieder in die Ursprungsländer zurückgebracht. Was von diesen Geldern doch noch im Land blieb, wurde oft von afghanischen Politikern in leitender Position eingesackt und außerhalb Afghanistans investiert.

Den letzten Tropfen, der den Fass zum Überlaufen brachte, bildeten die letzten zwei Präsidentschaftswahlen. Bis heute weiß niemand, wer diese Wahlen tatsächlich gewonnen hat. Am Ende diktierten jedes Mal US-Diplomaten den Wahlausgang. Der ehemalige Weltbank-Mitarbeiter Ashraf Ghani wurde Präsident, sein Widersacher Abdullah Abdullah der CEO – ein in der afghanischen Verfassung nichtexistierender Posten.

Die Wahl 2014 führte zur endgültigen Demoralisierung der afghanischen Bevölkerung. Sie merkten, dass nicht einmal die Grundregel der Demokratie, nämlich, dass die Wahl der Bevölkerung geachtet werden muss, respektiert wurde, und die westlichen Staaten das ohne Skrupel mitmachten. Als bei der Wahl 2019 das gleiche Spiel in Szene gesetzt wurde, ging die afghanische Bevölkerung ohnehin davon aus, dass derjenige die Macht erhalten würde, der den US-Interessen am besten diente, und nicht der, der gewählt wurde.

Der regionale Aspekt

Doch Afghanistans Probleme sind nicht nur innenpolitischer Natur, sie sind auch vielfältiger als viele ahnen. Es ist illusorisch zu glauben, es könnte lokal, ohne Einmischung vom Außen gelöst werden.

Afghanistan wurde in der Geschichte mehrmals besetzt, aber nie kolonialisiert. Denn es gibt dort nichts, was koloniale Mächte nehmen könnten.

Das Bodenreichtum, von dem heute viel gesprochen wird, ist nicht wirklich interessant. Schon in den 1980er Jahren hatten sowjetische Experten diese Rohstoffe ausfindig gemacht und verworfen, weil die Gewinnung der Rohstoffe nicht einmal mit den modernsten Technologien wirtschaftlich wäre.

Andererseits existiert Afghanistan als Land nur deshalb, weil es im 19. Jahrhundert als Pufferzone zwischen den russischen und britischen Reichen nützlich war. Aus dieser Pufferzonen-Charakter Afghanistans resultieren bis heute die eigentlichen Probleme am Hindukusch.

Umringt von vier Atommächten und einer, die noch am Werden ist (der Iran), ist jede Krise in Afghanistan ein Sicherheitsrisiko. Indien und Pakistan, China und Indien, Russland und der Westen führen dort seit Jahrhunderten ununterbrochen Stellvertreterkriege. Neu entstandene zentralasiatische Staaten sehen dort die Quelle ihrer Probleme mit illegalem Drogen- und Waffenhandel. Dass bis heute jeder Machthaber in Kabul die Anerkennung der pakistanischen Grenze verweigert, macht alles noch komplizierter.

Normalisierung?

Heute herrscht in Afghanistan vor allem Hunger. Nicht nur, weil die Taliban international isoliert sind, sondern weil sie kaum das Personal haben, um ein Land vernünftig regieren zu können. Hinzukommt die extreme Dürre, die das Land bereits seit zwei Jahren quält.

Die USA verhandeln mit den neuen Machthabern, genau so wie die EU und Deutschland. Es geht darum die diplomatischen Vertretungen wieder zu öffnen, um den Menschen eine Ausreise zu ermöglichen, denen eine Aufnahme zusagt wurden. Für die Taliban ist die Notlage dieser Menschen, die teilweise seit Monaten ohne Arbeit, ohne Geld und in Angst in irgendwelchen Kellern sitzen und auf Hilfe warten, der beste Trumpf in den Verhandlungen mit der Welt. Sie verlangen die diplomatische Anerkennung ihrer Regierung, um im Gegenzug den ausreisewilligen eigenen Bürger*innen die Ausreise überhaupt zu erlauben. Der Hunger-Notstand und die missliche Lage der verfolgten Menschen werden nun als Vorwand genutzt, um die Beziehungen zu Kabul und zu den Taliban zu normalisieren – so, wie vor 20 Jahren die Frauenrechte als Vorwand für den Krieg herhalten mussten.

Doch noch ist nichts normal in Afghanistan. Denn einerseits herrscht der Taliban-Terror und andererseits ist eine ganze Generation von Afghan*innen in 20 Jahre relativer Freiheit groß geworden. Sie hatten Träume, die sie von den Religionsfanatikern nicht kaputt machen lassen wollen. Frauen konnten arbeiten, es entstand ein Gesundheitssystem, ein Schulbetrieb. Es gab ein normales Leben und außer den Gewaltakten der Taliban hatten sie nicht viel zu befürchten. Diese Menschen haben den Eindruck, ihnen wird nun ihre Zukunft geklaut. Es entstehen ziviler Ungehorsam sowie offene Proteste, was die neuen Machthaber überrascht. Bisher versuchen die Taliban diesen Widerstand mit Gewalt zu brechen. Denn demokratische Verhältnisse kommen für sie aus ideologischen Gründen nicht in Frage. Das haben sie schon in den ersten Tagen ihrer Machtergreifung klargestellt.

Dennoch ist es auch für die Taliban eine vollkommen neue Situation, im Vergleich zu ihrer ersten Machtübernahme nach dem Bürgerkrieg, als alles in Schutt und Asche lag. Ob sie irgendwann lernen, mit der neuen Realität des Landes umzugehen, bleibt abzuwarten. Da hilft aber nur der internationale Druck.

Ein Hoffnungsschimmer ist, dass auch Russland und China für eine Normalisierung der Beziehungen die gleiche Vorbedingung stellen, wie der Westen: eine inklusive Regierung. Es sollen also auch andere ethnische und religiöse Minderheiten und deren politischen Vertreter an der Macht beteiligt werden, so wie es in den letzten 20 Jahren der Fall war. Noch geben die Taliban nicht nach, sie wissen aber, dass sie nur so die Isolation überwinden können.

Abb. (PDF): Normales Leben ...