Politische Berichte Nr.3/2022 (PDF)24
Globale Debatten - UN Initiativen

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Russland: Wie es dazu kam …

Lutz Brangsch, Berlin

Russland wird meist als etwas beschrieben, was irgendwie von Gestern und unmodern sei.Betrachtet man aber die Entwicklung des Landes, wie auch der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeigt sich, dass diese Einschätzung letztlich aus der Selbsttäuschung des Westens über sich selbst resultiert. Auf eine fatale Weise überlagern sich in Russland die Imitation einer traditionellen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung mit einem lehrbuchmäßig durchgesetzten neoliberalen Kurs, einer reinen Friedmanschen Dystopie. Es gehört zu den großen Schwächen der Linken, die hier sichtbar werdende „Vielfalt der Kapitalismen“ nicht verstanden zu haben und bis heute die daraus resultierenden Konsequenzen, vor allem für sie selbst, beständig zu unterschätzen.

Die Herausbildung des politischen und wirtschaftlichen Systems Russlands kann nur sehr beschönigend mit dem Terminus „marktwirtschaftliche Reform“ beschrieben werden. Auch der Begriff der „Schocktherapie“ wird der Dramatik nur bedingt gerecht. Tatsächlich war es ein Raubzug von Teilen des alten Apparates und des kriminellen Untergrunds gegen die sowjetische Gesellschaft. Der Zusammenbruch weiter Teile der Volkswirtschaft und die soziale Krise auf der einen und der Rückfall in den Status eines Rohstofflieferanten auf dem Weltmarkt bei einer weit auseinander klaffenden Schere zwischen arm und reich als Ergebnis der ersten postsowjetischen Jahre prägen die Entwicklung des Landes bis heute.Der Zusammenbruch der 90er Jahre vollzog sich vor dem ideologische Hintergrund der Losung „Freiheit des Marktes“, die von westlichen Berater*innen verschiedenster Art (seien es Einzelpersonen, NGO oder Stiftungen) propagiert wurde. Weder ihre russländischen Partner*innen, noch sie selber stellten in Rechnung, dass das marktwirtschaftliche Modell des Westens bis in die 1970er Jahre auf dem relativen Gleichgewicht von Kapital und Arbeit beruhte. Von einem solchen Gleichgewicht konnte in Russland von vornherein nicht die Rede sein. Zwar konstituieren sich nach 1991 und dem Verbot der KPdSU verschiedene kommunistische und sozialdemokratische Parteien, die aber abgesehen von der KPRF kein politisches Gewicht erlangen konnten. In der „reinen“ Marktwirtschaft fehlte ihnen dazu einfach das Geld. Das sich als anarchistisch oder trotzkistisch definierende Spektrum mit hohem internationalistischem Anspruch blieb zersplittert und marginal. Ihre Partner*innen waren die entsprechenden ebenso marginalen Bewegungen im Westen. Die marxistisch-kommunistische Richtung kam nicht über ein akademisches Spektrum hinaus. Gleiches gilt für die sozialdemokratische, die schnell als politische Strömung jede Relevanz verlor. Zwar sitzt mit der Partei Gerechtes Russland eine sich sozialdemokratisch betrachtende Partei in der Duma, allerdings ohne in der Lage zu sein, wirksame Akzente setzen zu können. Die „Unabhängigen Gewerkschaften“ entwickelten sich auch aus dem alten Apparat heraus und wurden kein Gegengewicht zur entstehenden Oligarchie, sondern bestenfalls deren nur begrenzt wirksames Korrektiv. Zwar entstand eine Reihe kleiner kämpferischer Gewerkschaften, die aber nur lokale Bedeutung erlangen konnten. Ein Teil dieser Organisationen ist in dem zweitgrößten Gewerkschaftsbund Russland, der Konföderation der Arbeit (KTR), vereinigt. Die Größenverhältnisse machen aber auch das Problem deutlich: der systemverbundene Gewerkschaftsbund hat etwa 28 Millionen Mitglieder, die KTR hingegen 2 Millionen. Diese Schwäche der Gewerkschaftsbewegung und die Zersplitterung der Linken sind konstituierende Voraussetzungen für das heute in Russland bestehende politische System.

Im Jahr 1998 kam es zum Staatsbankrott. Eigentlich wäre das der Moment gewesen, die Linke zu vereinigen und als kämpferische Kraft in Erscheinung treten zu lassen – das gelang nicht. Es siegte der „starke Staat“, der die Willkür der Oligarchie bändigte und damit die Stabilität des Landes wahrte, ohne die ökonomischen Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Ausdruck dessen war das System Putin. Sein Ansehen beruht für die ältere Generation bis heute darauf, dass unter seiner Führung in Russland wieder so etwas wie Normalität einzog, wenn schon nicht das westliche Wohlfahrtsversprechen eingelöst werden konnte. Der in der Verfassung garantierte Sozialstaat war in dieser Lesart von vornherein ein paternalistischer, kein erkämpfter. Damit stieß Putin aber auch an eine Grenze. In den vergangenen 20 Jahren scheiterte er immer wieder mit Versuchen, eine Modernisierung der Wirtschaft durchzusetzen. Der starke Staat als Säule des Systems steht sich selbst im Wege, da jede durchgreifende Innovation das austarierte Gleichgewicht innerhalb der Oberschicht in Frage stellen würde. Gewichtige Teile des Unternehmer*innentums und des Staatsapparates haben kein Interesse an Veränderungen, da die Gewinne aus den Rohstoffexporten sicher scheinen. Die weltweite Anlage von Kapital bzw. der Abfluss desselben in den Luxuskonsum der Oberschicht begrenzt die Zugänglichkeit von Kapital für innovative inländische Unternehmen, die Träger der Modernisierung sein könnten. Die Stagnation ist so Bedrohung aber auch Stütze des Systems. Unter diesen Bedingungen muss die politische Repression gegen jede Opposition immer stärker werden, wie sich in den Reaktionen auf die Protestwellen der vergangenen Jahre, z.B. gegen die Rentenreform oder gegen Umweltverschmutzung, zeigte.Resultat dieser Konstellation sind z.B. das fatalistische Abfinden mit dem entstandenen „kriminellen Kapitalismus“ oder eine obskure Rückbesinnung auf die sowjetische Vergangenheit. Monarchistische und rechtsextreme Strömungen, die in der Sowjetunion im Untergrund weiterwirkten, traten nun wieder offen in Erscheinung. Nicht nur in der KPRF verbinden sich nationalistische mit stalinistischen Traditionen. Im Vorfeld der Duma-Wahlen 2021 gelang es der KPRF, einen „linkspatriotischen Block“ unter Einbeziehung von basisverbundenen Bewegungen zu bilden. Auf dieser Grundlage erreichte sie mit über 18 Prozent der Stimmen ihr zweitbestes Ergebnis seit dem Zerfall der UdSSR. Der Patriotismus (tatsächlich Nationalismus) wurde schon in den 90er Jahren als Hebel der sozialen Umwälzung propagiert. Dieses Narrativ integriert die Partei in die Machtstrukturen und hat sie zu einer konsequenten Befürworterin des Krieges gegen die Ukraine gemacht. Man meint, dass der Krieg in eine Situation führt, in der die Partei auf welchem Weg auch immer die Macht ergreifen und eine „Sowjetunion 2.0“ errichten könnte. Allerdings scheint die Kriegsbegeisterung der KPRF-Führung gerade zu einem Abwandern jüngerer und aktiver Anhänger*innen zu führen.

Soweit es die inneren Bedingungen betrifft, ist der Krieg gegen die Ukraine ein Versuch, die skizzierte Stagnation zu durchbrechen. Die Dynamik des zukünftigen Russland soll sich auf wirtschaftliche Autarkie und einen eigenen, konservativen Wertekanon stützen. Die Machtkonstellation, die durch die Zivilgesellschaft auf der einen und die Sabotage der Modernisierung auf der anderen Seite in Frage gestellt wird, soll gewahrt bleiben. Die Protestwellen in den vergangenen Jahren haben deutlich gemacht, dass die Akzeptanz des Akkumulationsregimes, auf das sich das gegenwärtige System stützt, mehr und mehr schwindet. Der Fatalismus und das Schweigen, das durch die immer härtere Repression erzwungen ist, hat, wie Boris Kagarlickij gerade schrieb, einen bedrohlichen Unterton.