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Katalog-Titel:Fischer, Fritz. Griff nach der Weltmacht -Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18,1967
Vergebene Stichworte / Kategorien:{Lektuereliste-Epochenbruch}

  <einzug> Vorstellung des Autors:</einzug>Fritz Fischer (* 5. März 1908 in Ludwigsstadt; † 1. Dezember 1999 in Hamburg), Historiker, NSDAP-Mitglied, 1942 bewilligte Stelle als Extraordinarius an der Universität Hamburg, die er bis zur Emeritierung 1973 behielt.

 

<einzug>Das vorgestellte Buch – Weitere Veröffentlichungen:</einzug> Griff nach der Weltmacht -Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18 (hier: Nachdruck der Sonderausgabe von 1967 (1977 1. Auflage, 575 Seiten ); Krieg der Illusionen, Die deutsche Politik von 1911 bis 1914; Hitler war kein Betriebsunfall. Aufsätze TB 1992.

 

<einzug>Kurze Zusammenfassung des Inhalts:</einzug> Der Hamburger Geschichtsprofessor F. Fischer zeigte in seinem 1961 erstmals veröffentlichten Buch auf, dass das Deutsche Reich den 1. Weltkrieg lange vorbereitet hatte, ihn im Juli und August 1914 „vom Zaun brach“ und es hegemoniale Ziele verfolgte. Seine Forschungen legten den Schluss nahe, dass Hitler kein Betriebsunfall gewesen war, sondern es eine Kontinuität imperialer Politik seit dem Kaiserreich gegeben hatte, die erst 1945 ein vorläufiges Ende fand. In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit erregte Fischers Buch großes Aufsehen und löste die Fischer-Kontroverse aus, die auch den Bundestag beschäftigte.  
<einzug>Begründung für die Lektüre:</einzug> Es lohnt sich dieses Buch erneut zu lesen, da seit einiger Zeit - mal wieder - versucht wird, dieses Geschichtsbild zu revidieren. Wenn Deutschland seine heute dominierende Rolle in Europa weiter ausbauen will, möchte es nicht mit Verweisen auf seine Politik als Hauptstörenfried vor dem 1. Weltkrieg konfrontiert werden.  
<einzug>Bezug zum Stand der Diskussion:</einzug> Auch in linken Diskursen tauchen überwunden geglaubte Auffassungen auf, wie der Irrtum, dass „überforderte und rückwärtsgewandte Eliten“ blindlings in den Krieg stolperten und sich über die Tragweite ihres Handels nicht im Klaren waren.  
<einzug>Kontakt:</einzug> Andreas.Adrians@gmx.de

 
<einzug>Publikationsplan (Bearbeitungsstand):</einzug> Entwurf liegt vor.

 


Vom Zaun gebrochen – nicht hineingeschlittert“ (Fritz Fischer)

Junikrise und Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914 bis 1918

1961 veröffentlichte der Hamburger Geschichtsprofessor F. Fischer sein bahnbrechendes Buch „Griff nach der Weltmacht“. Fischer legte dar, dass das Deutsche Reich den 1. Weltkrieg lange vorbereitet hatte, ihn im Juli und August 1914 „vom Zaun brach“ und es hegemoniale Ziele verfolgte. Seine  Forschungen legten den Schluss nahe, dass Hitler kein Betriebsunfall gewesen war, sondern es eine Kontinuität  imperialer Politik seit dem Kaiserreich gegeben hatte, die erst 1945 ein vorläufiges Ende fand.  In der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit löste Fischers Buch einen Sturm der Entrüstung aus und beschäftigte den Bundestag.

Es lohnt sich heute wieder zu dem Buch zu greifen, da selbst in linken Diskursen längst überwunden geglaubte Auffassungen wieder auftauchen.

In den PB Nr.12 vom 8.12.2017 sprechen Pätzolt /Falkner von „überforderten und rückwärtsgewandten Eliten“, die den Krieg auslösten. An anderer Stelle rätselt Falkner „was sich in den Kanzleien, Amtsstuben und Kaminzimmern der damaligen Eliten“ vollzog und spricht vom „Versagen in der Verantwortung“ (PB Nr.4 12.4.1918).

Erhard Crome , ein Politologe, der u.a. für die Rosa Luxemburg Stiftung arbeitet, behauptete in seinem Vortrag „Weg in den Krieg 1914“ am 29.8.2014 in Potsdam, dass erst nach Ausbruch des Krieges eine „ausgreifende Kriegszieldebatte“ geführt wurde und „die Kriegsziele nicht wirklich klar“ waren. Und in einem Lektürebericht in den PB Nr.2 vom 15.2.2018 über das umstrittene Buch des Politologen Herfried Münkler „Der große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918“ wird unkommentiert dessen Position wiedergegeben, dass „die Deutschen Kriegsziele erfinden mussten“.

Was kann uns Fritz Fischer dazu sagen?

Zusammengefasst schon mal so viel: Politiker, Wirtschaftsführer und Professoren tappten vor dem Krieg keinesfalls überfordert durch irgendwelche Amtsstuben. Sie wollten den „Platz an der Sonne“!  Nach vorne blickende „Eliten“ arbeiteten zwei Jahrzehnte zielstrebig daran, eine Situation herbeizuführen, die das möglich machen sollte.  Als es dann im Juli 2014 soweit war, schlitterten sie nicht schlafwandelnd in den Krieg hinein, sondern brachen ihn bewusst vom Zaun.

 

In dem Vorwort zu einer Sonderausgabe seines Buches  im Frühjahr 1967 schrieb Fischer: „ Die Kontroverse (die sein Buch auslöste, A.A.) konzentrierte sich vornehmlich auf die folgenden Punkte:

1.       Auf den von mir herausgestellten Zusammenhang zwischen deutscher Politik im Zeitalter der ‚Weltpolitk‘ und den Kriegszielen deutscher Politik während des Krieges.

2.       Auf meine Neuinterpretation der deutschen Politik im Juli 1914, die den deutschen Anteil an der Auslösung des Ersten Weltkrieges stärker hervorhebt, als es in der traditionellen deutschen Anschauung geschieht.

3.       Auf die von mir betonte Kontinuität der deutschen Politik im Kriege und ihre Charakterisierung als Kriegszielpolitik und nicht als grundsätzliche Friedenspolitik.“

Und weiter:  „Die deutsche Geschichtswissenschaft war so auf die Kriegsschuldfrage  fixiert, die man glücklich abgeschlossen glaubte (alle seien hineingeschlittert, Anm. A.A. )  und die zum Tabu geworden war, dass in der Kontroverse um das Buch sein eigentlicher Gegenstand: die deutschen Kriegsziele in ihrer Verwurzelung in industrie-kapitalistischen, agrarischen und übersee-kommerziellen Interessen zusammengebunden mit den strategischen Forderungen von Heer und Marine, weit zurücktrat gegenüber der Diskussion über die deutsche Politik im Vorkrieg und in der Julikrise, die nur in den zwei ersten von 23 Kapiteln behandelt werden“.            

1969 veröffentlichte Fischer ein weiteres Buch mit dem Titel „Krieg der Illusionen – Die deutsche Politik von 1911 bis 1914“, eine auf 800 Seiten „erschöpfende Darstellung der deutschen Vorkriegspolitik“. In dem hier besprochenen „Griff nach der Weltmacht“ zeichnete er in den ersten beiden Kapiteln  „nur einige Linien“ dieser Vorkriegszeit.

Fischer stellte fest, dass der Weltmachtanspruch in engem Zusammenhang mit der Wirtschaftsexpansion stand. Er untersuchte in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Großbanken und ihre Verbindung mit der Großindustrie. Es entwickelten sich  Kapitalexport und Investitionen im Ausland, z.B. der Bau der Anatolischen Eisenbahn und der Bagdad-Bahn. Um von England unabhängig zu werden, baute das Deutsche Reich seine Handelsflotte auf und die Überseehäfen Hamburg und Bremen mitsamt ihrer Werften aus, eine Voraussetzung für den Bau von Kriegsschiffen. 

Der deutsche Weg zur „Weltpolitik“ wurde ab 1897/98 in aller Öffentlichkeit beschritten und war für jedermann offenkundig. Der Staatssekretär Bülow (von 1900-1909 Reichskanzler) sprach bereits 1897 von dem „Platz an der Sonne“, der dem Deutsche Reich zustände. 1898 wurde das 1. Flottengesetz beschlossen, eine Kampfansage an England. Es folgten koloniale Abenteuer und der „Panthersprung nach Agadir“. Als Kernpunkte deutscher Weltpolitik schälten sich heraus: Mitteleuropa, Mittelafrika und Kleinasien.

Als sich 1912 die Lage immer weiter zuspitzte forderte der Generalstab eine Vermehrung des 622.000 starken aktiven deutschen Heeres um 300.000 Mann, also um 50 Prozent. Der Reichstag,  einschließlich der Sozialdemokraten,  billigte nach monatelangen Verhandlungen im Frühjahr 1913 eine Vermehrung des Heeres um 132.000 Mann.

Fischer untersuchte auch die „Krise des deutschen Imperialismus“ Ende 1913/14, als die Kapitaldecke dünn geworden war. Anleihen auf dem Balkan und in der Türkei waren nicht mehr aufzubringen und die Türkei und Österreich-Ungarn begannen sich auf anderen Geldmärkten umzusehen. Fischer schrieb:    „ In Berlin konnte der ( griechische ) König  wohl den Marschallstab empfangen, aber die deutsche Kasse war leer“.  Der König reiste nach Paris weiter, wo eine Anleihe gezeichnet wurde.

 

Die Julikrise

Bevor dann der Krieg Anfang August 1914 überhaupt begann, begannen auch schon die Diskussionen, wer ihn zu verantworten habe. Niemand hatte ihn gewollt, nicht einmal der deutsche Kaiser.  Die deutsche Regierung legte am 4. August 1914 im Reichstag ein Weißbuch vor, in dem sie die russische Politik auf dem Balkan kritisierte, woraus sie das Recht ableitete, in das neutrale Belgien einzumarschieren.  Später einigte man sich darauf, dass alle Mächte in den Krieg hineingeschlittert seien.

Fischer dazu: Ich selbst habe noch auf dem Historikertag in Berlin im Oktober 1964 die Ansicht vertreten, Deutschland habe im Juli 1914 bewusst das Risiko eines großen europäischen Krieges auf sich genommen, weil ihm die Situation so günstig wie nie zuvor schien. In Verschärfung meiner damaligen Ausführungen stelle ich heute fest, gestützt auf allgemein zugängliches wie auch auf unveröffentlichtes Material: Deutschland hat im Juli 1914 nicht nur das Risiko eines eventuell über den österreichisch-serbischen Krieg ausbrechenden großen Krieges bejaht, sondern die deutsche Reichsleitung hat diesen großen Krieg gewollt, dementsprechend vorbereitet und herbeigeführt.

Die sich zunehmend verschärfende ungünstige außenpolitische Lage Deutschlands, die immer deutlicher werdende Unfähigkeit Deutschlands, seine expansiven wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ziele durch eine bloße Kriegsdrohung durchzusetzen, die von verschiedenen Direktoren der deutschen Großbanken in übereinstimmenden Gutachten vom Frühjahr 1914 konstatierte handelspolitische und konjunkturelle Krise, die von den herrschenden konservativen gesellschaftlichen Kräften als immer bedrohlicher empfundene innenpolitische Situation und schließlich die als entscheidende Bedrohung des deutschen Weltmachtstrebens angesehene Möglichkeit, dass Österreich-Ungarn sich dem härter werdenden Zugriff des „Bundesgenossen“ entziehen könnte – all diese Faktoren bestimmten die deutsche Reichsleitung, den „Durchbruch nach vorn“ zu wagen und durch einen Hegemonialkrieg Deutschlands Weltmachtstellung nach außen zu begründen, nach innen das konservative antiparlamentarische und antidemokratische System zu konservieren.“ (http://www.zeit.de/1965/36/vom-zaun-gebrochen-nicht-hineingeschlittert).  

Der Krieg war im Sommer 1914 militärisch, politisch, diplomatisch, wirtschaftlich und ideologisch vorbereitet. Es musste jetzt nur noch eine geeignete Situation entstehen, um ihn vom Zaun zu brechen. Der Mord an dem österreichisch-ungarischen Thronfolger, Erzherzog Franz-Ferdinand, bot dafür den idealen Anlass.            

Die beiden Bücher von Fischer „Griff nach der Weltmacht“ und „Krieg der Illusionen“ belegen dann detailliert die Vorgehensweise der deutschen Diplomatie – die alles andere als  ahnungslos und wirr war, sondern kalkuliert und eiskalt.  In einem Zeit-Artikel von 1965 fasste Fischer seine Forschungen zum Kriegsausbruch zusammen: „Es gibt nicht ein einziges Dokument in der Welt, das die zentrale Wahrheit entkräften könnte, dass im Juli 1914 ein Kriegswille einzig und allein auf deutscher Seite bestand und dass alle Verabredungen auf der Seite der Entente nur der defensiven Sicherung ihrer Allianz dienten.“

Kriegsziele

Die Kriegszielpolitik des Deutschen  Reiches ist das eigentliche Thema des hier besprochenen Buches. Viele Jahrzehnte lang war es in Deutschland vorherrschende Doktrin, dass das Deutsche Reich ab 1914 einen Verteidigungskrieg geführt hatte, ohne jegliche Absicht von Eroberungen. Damit war es der Regierung auch gelungen, die Fraktion der Sozialdemokratie im Reichstag dazu zu bringen, am 4. August den Kriegskrediten zuzustimmen.

In seinem Buch setzte sich Fischer mit dem Septemberprogramm von  Reichskanzler Bethmann Hollweg auseinander. Kern dieses Programms war die Herstellung eines  mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes „unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen (!) und ev. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren.“ Das Programm enthielt auch die Konzeption einer Zurückdrängung Rußlands, Vorstellungen über die Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes in Afrika, die Ankündigung sich französische Erzvorkommen einzuverleiben und  Belgien zu einem „Vasallenstaat“ zu machen.

Fischer dazu: “Die Durchsetzung dieses Programms hätte eine vollständige Umwälzung der staatlichen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Europa herbeigeführt“. Und weiter: „Das Programm stellte keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs“.

Hinzuzufügen wäre, dass die wichtigsten Vorstellungen, die dem Septemberprogramm zugrunde lagen (Mitteleuropa, Zurückdrängung Rußlands, Vorherrschaft auf dem Balkan durch den Erhalt Österreich-Ungarns, Mittelafrika) eine lange Vorgeschichte im kaiserlichen Deutschen Reich hatten. Es bleibt unerfindlich – jedenfalls wenn man die Geschichte zur Kenntnis nimmt -  wie man davon reden kann, dass im Deutschen Reich erst nach Ausbruch des Krieges über Kriegsziele debattiert wurde und diese „erfunden“ werden mussten. 

Vielleicht wird aber anders ein Schuh daraus, wenn wir uns fragen, warum heute mit großem Aufwand versucht wird, Fischers  Forschungsergebnisse aus den 60er-Jahren zu delegitimieren. Es gilt ein Geschichtsbild zu entsorgen, das auf der Erkenntnis beruht, dass der 1. Weltkrieg aus der Rivalität von Großmächten entstand und der Hauptstörenfried das Deutsche Reich war. Das wollte sich mit einer Nebenrolle nicht mehr abfinden, sondern Weltmacht werden. Wenn heute Deutschland seine dominierende Rolle in Europa weiter ausbauen will, möchte es nicht mit Verweisen auf seine verbrecherische Politik vor 100 Jahren konfrontiert werden. Es ist nützlich, sich noch einmal an die Ereignisse in Jugoslawien  in den 1990er-Jahren und die unrühmliche Rolle, die Deutschland dabei spielte, zu erinnern. Am 15. Januar 1992 schrieb dazu der Redakteur Mark Helprin im Wall Street Journal:  „Niemand mit auch nur einer Spur von geschichtlicher Erinnerung kann das deutsche Wiederhochkommen ohne Bestürzung betrachten. Was, wenn Deutschland eines Tages seinen Schutz auf die Ukraine ausdehnt, die in ihrer Rivalität mit Rußland einen starken Verbündeten brauchen wird? … Man kommt nicht umhin anzumerken, dass Deutschland sowohl Kroatien als auch die Ukraine bereits mehrmals aufgesucht hat“. 

Die geschichtliche Erinnerung an die Politik des Deutschen Reiches vor 1914 ist wichtig, um als Linke handlungsfähig zu bleiben. Eine Relativierung dieser Erfahrungen läuft am Ende auf ein erneutes Scheitern hinaus.



Publiziert am: 14. 02. 2019 Katalogisiert am: 14. 10. 2018

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