Quelle: Politische Berichte Nr. 3, März 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT

S.3, Türkei-Referendum.

01 Türkei: Demokratie vor dem Aus?

02 Die Türkei auf dem Weg zum Verfassungsreferendum

03 Wahlkampf international?

s04 Das Recht der Staaten ist nicht denkbar ohne das Recht des Einzelnen. Der Einzelne ist nicht allein. – Zum schwierigen Schutz der Opposition im Völkerrecht

01 Türkei: Demokratie vor dem Aus?

Im April findet in der Türkei die Volksabstimmung über eine tiefgehende Verfassungsänderung statt. Die AKP und Erdogan hatten im Parlament nicht die Zweidrittelmehrheit für den Weg in die Präsidialdiktatur gefunden. Mit dieser möglichen Verfassungsänderung wird die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative faktisch aufgehoben und durch ein Einmann-(Erdogan)-Regime ersetzt. Erdogan könnte dann so weiter herrschen, wie er es seit Verhängung des Ausnahmezustands tut – schalten und walten mit Dekreten, Anordnungen usw. – aber ohne noch Rücksicht auf ein Parlament, eine Gerichtsentscheidung oder gar eine Opposition nehmen zu müssen.

Es ist aber es ist doch nicht sicher, wie das Referendum ausgeht. In Umfragen liegt die Zustimmung meist nicht bei einer Mehrheit. So werden die Töne, die Erdogan und seine AKP-Gefolgsleute in der Regierung anschlagen, immer rauer. Gerade wurde eine Broschüre des Gesundheitsministeriums „Nein zum Rauchen“ eingestampft – ein öffentliches Nein geht nicht mehr, seitdem die Opposition von HDP und CHP in der Abstimmung über das Referendum für ein Nein werben (das war die offizielle Begründung). Die Neinsager werden weggesperrt: 13 Parlamentsabgeordnete der HDP sitzen in Haft, über 80 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus den kurdischen Gebieten ebenfalls, letzte Woche wurden 2000 HDP-Aktivisten verhaftet.

Kommt die Kritik aus dem Ausland, versuchen Erdogan und seine Minister das in eine nationalistische Mobilisierung zu wenden unter dem Motto „wir verteidigen die Türkei gegen die Feinde von Innen und Außen“. Es kann gut sein, dass Erdogan die Stimmen besonders aus Deutschland braucht, um mit dem Referendum durchzukommen.

Seine guten Beziehungen zu Barzani und der KDP im Nordirak versucht Erdogan zu nutzen: Bei einem Treffen vor wenigen Tagen sicherte Erdogan Barzani Unterstützung gegen die sich selbst organisierenden Jeziden im Nordirak zu. Im Gegenzug ruft Barzani die Kurden in der Türkei nun zum Fernbleiben von der Abstimmung auf. Ein dreckiges Geschäft.

In Freiburg, Karlsruhe und Heilbronn finden vom 14.3. bis 16.3. Veranstaltungen der Linksfraktion im Bundestag mit MdB Karin Binder, dem Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrum Karlsruhe, der Alevitischen Gemeinde Baden-Württemberg und DIDF Baden-Württemberg mit der HDP-Parlamentsabgeordneten Tugba Hezer und dem DBP-Bürgermeister Veysel Keser unter dem Titel „Türkei vor dem Referendum: Demokratie vor dem Aus? Hayir – Nein“ statt. Beide kommen aus der Region Van, einer Millionenstadt, mit der Karlsruhe seit letztem Jahr eine Partnerschaft eingegangen ist. Der Karlsruher OB Mentrup (SPD) wird ein Grußwort auf der Karlsruher Veranstaltung halten.

Im Folgenden dokumentieren wir eine Stellungnahme von Civaka Azad (Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, Berlin). Rudolf Bürgel, Karlsruhe

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02 Die Türkei auf dem Weg zum Verfassungsreferendum

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 23.2.2017

Wie bekannt, hat das türkische Parlament am 21. Januar dieses Jahres die aus 18 Artikeln bestehende geplante Verfassungsänderung abgesegnet. Mit 367 Stimmen, also einer Zweidrittelmehrheit, hätte das Parlament die Verfassungsänderung alleine verabschieden können. Doch dafür haben die gemeinsamen Stimmen der AKP- und MHP-Abgeordneten nicht ausgereicht. Da allerdings die Hürde von 330 Stimmen im Parlament genommen werden konnte, wird nun per Referendum über die Verfassungsänderung abgestimmt. Zuvor musste noch der türkische Staatspräsident Erdoğan seine Unterschrift unter die geplante Verfassungsänderung setzen, was er am 10. Februar tat. Und dann konnte der Tag des Referendums verkündet werden: Der 16. April 2017. (…)

Am Tag des Referendums werden die türkischen Staatsbürger nun mit der Frage konfrontiert sein, ob sie der neuen Verfassung zustimmen wollen oder eben nicht. Das Ergebnis dieser schlichten Ja-oder-Nein-Frage wird allerdings für die Türkei, für den Mittleren Osten und die gesamte Welt von großer Tragweite sein. Es geht nämlich um viel mehr als eine einfache Verfassungsänderung. Es geht um die Frage, ob in der Türkei eine Diktatur etabliert wird, oder ob es gelingt, die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Landes trotz aller Rückschläge noch am Leben zu halten. Eigentlich ist in der Türkei seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 das Thema Demokratie aufs Abstellgleis gestellt worden. Dasselbe gilt auch für die Menschenrechte im Land. Mit dem Verfassungsreferendum bietet sich nun womöglich die vorerst letzte Möglichkeit, das Gesicht der Türkei in Richtung Demokratie zu wenden. Hierfür bedarf es allerdings einer großen Kraftanstrengung. Und trotz aller Schikanen, Repressionen und Angriffe der AKP versucht die Opposition eine solche Kampagne für den Erhalt der Demokratie in die Wege zu leiten.

Auf der anderen Seite ist auch klar, dass bei einem Ja zum Referendum die Türkei vollends in die Ein-Mann-Diktatur geführt wird. Der Staatspräsident wird diejenigen Entscheidungen fällen können, die ihm belieben, und es wird in der Praxis keine Instanz geben, die ihn zu kontrollieren vermag. Welche Folgen das Ganze haben kann, das zeigen die Erfahrungen aus dem derzeitigen Ausnahmezustand. Auch hier regiert der Staatspräsident ungehindert. Er kann am Parlament vorbei mittels Dekreten das Land führen. Das Ergebnis dessen ist, dass selbst das Recht auf Leben mit Füßen getreten wird, wie wir es derzeit tagtäglich in Kurdistan sehen.

Ursprünglich war der Ausnahmezustand zum Zwecke des Kampfes gegen die Putschisten, insbesondere gegen die Gülen-Gemeinde ausgerufen worden. Doch in der Realität sind vor allem linke Kräfte und die Kurden nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 auf die Zielscheibe der AKP geraten. Ganze 102 000 Menschen wurden seitdem aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen. Es immer noch unklar, wie und durch wen diese umfangreiche Zusammenstellung an Namen von Personen angefertigt wurden, die wohl schon länger auf der Abschussliste standen. Unter den Entlassenen befinden sich Hunderte Akademiker, die allein wegen der Unterzeichnung einer Friedenserklärung die Stellung räumen mussten. Hinzu kommen unzählige Lehrer und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Nicht zu vergessen sind auch die Hunderte Radio- und Fernsehsender, Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Zeitschriften und Internetseiten, die geschlossen wurden.

Staatspräsident Erdoğan und seine AKP-Regierung verspüren mittlerweile noch nicht einmal das Bedürfnis, ihre Medienzensurpolitik zu verschleiern. Unter dem Label der „nationalen Sicherheit“ wird rabiat gegen Journalisten und Medien vorgegangen. Hinzu kommt der Entschluss der türkischen Medienaufsichtsbehörde RTÜK, die in ihrer Mehrheit aus AKP-Mitgliedern besteht, dass fortan Eilmeldungen über Terroranschläge in den Medien verboten sind. Bevor also eine Meldung über einen Anschlag in der Türkei an die Öffentlichkeit weitergegeben werden kann, muss diese durch RTÜK abgesegnet werden.

Bekämpfung der HDP als Teil der AKP-Referendumskampagne

Allein in der vergangenen Woche wurden in der Türkei mehr als 2000 Mitglieder der HDP festgenommen. Diese Festnahmewellen fallen mitten in eine Zeit, in der die Partei ihre Nein-Kampagne vorbereitet. Die Repressionen gegen die HDP und ihre Teilorganisationen sind allerdings keine neue Situation. So stehen derzeit 75 von insgesamt 103 Stadtverwaltungen der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der größten Teilorganisation der HDP, unter Zwangsverwaltung und werden von AKP-Bürokraten geleitet. In den übrigen Stadtverwaltungen, in denen die DBP bei den Kommunalwahlen 2014 die Mehrheit erlangt hatte, ist jede Entscheidung der Bürgermeister an das Einverständnis des Gouverneurs geknüpft, was de facto ebenfalls einer Zwangsverwaltung gleichkommt. Hinzu kommt, dass derzeit 13 Abgeordnete der HDP sich in Haft befinden. Allein die gegebene Situation reicht aus, um die Legitimität eines Verfassungsreferendums in Frage zu stellen.

Seit den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 ist die HDP einem enormen staatlichen Druck ausgesetzt. Ihr wird geradezu der Raum für die politische Betätigung entzogen. Zu den jüngsten Ergebnissen dieser Politik zählen die Aberkennung des Abgeordnetenmandats der inhaftierten HDP Co-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und die erneute Festnahme des HDP-Abgeordneten Idris Baluken. Es scheint, dass die AKP mittlerweile auch damit begonnen hat, ihre Repressionspolitik auf andere Kreise zu übertagen: So wurde Sera Kadigil, Mitglied des Vorstands der kemalistischen CHP, kurzzeitig festgenommen, nachdem sie zuvor in einer Fernsehsendung ausführlich die Auswirkungen der geplanten Verfassungsänderung geschildert hatte. Sie ist nun aufgrund von „Beleidigung des Präsidenten“ angeklagt worden und in politischen Fernsehsendungen ist sie auch kein gerngesehener Gast mehr. Bei der rechtsradikalen MHP hat unterdessen auch eine Säuberungswelle gegen all jene begonnen, die sich gegen die Einführung des Präsidialsystems stellen. Zahlreiche Mitglieder der Partei haben nun mit Ausschlussverfahren zu kämpfen. Eine Saalveranstaltung von über 1500 MHP-Mitgliedern, die sich gegen die Verfassungsänderung stellen, wurde am 18. Februar in Ankara zunächst von der Polizei belagert, bevor die Stromleitungen im Saal gekappt wurden. Mit Hüseyin Sözlü wurde zudem ein prominentes MHP-Mitglied, der zugleich Bürgermeister von Adana ist, und zum Lager der Nein-Sager innerhalb der MHP gehört, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Der Grund ist zwar offiziell eine Korruptionsaffäre, aber das überzeugt nicht wirklich jeden. Adana, immerhin die viertbevölkerungsreichste Stadt der Türkei, soll nun ebenfalls unter Zwangsverwaltung gestellt werden.

Mit dem Krieg gegen die Kurden das nationalistische Wählerpotential mobilisieren

Hatte der türkische Staat im vergangenen Jahr sich der Kriegsverbrechen in einer Vielzahl von kurdischen Städten schuldig gemacht, so hat sie nun ähnlich wie in den 1990er Jahren begonnen, die ländliche Bevölkerung Kurdistans zu terrorisieren. So tauchten in den letzten Tagen Bilder aus dem Dorf Xerabê Bava bei Nisêbîn in den sozialen Medien auf, die zeigen, wie Soldaten vor den Leichnamen von Menschen posieren, die offensichtlich zuvor gefoltert worden sind. Das Dorf ist weiterhin von der Öffentlichkeit abgekapselt. Und auch in anderen Dörfer in der Region herrscht eine strikte Ausgangssperre.

Neben dem Krieg des türkischen Staates in Nordkurdistan droht die Regierung in Ankara immer wieder auch den demokratischen Kräften Syriens und der Selbstverwaltung von Rojava. Auch hier wurden bereits mehrfach Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten durch das türkische Militär und den mit ihr verbündeten Gruppen beschossen und angegriffen. Das Ansteigen dieser Angriffe des türkischen Staates in der Zeit vor dem Referendum werten viele als den Versuch der AKP, durch die Bekämpfung der kurdischen Errungenschaften die Werbetrommel in nationalistischen Kreisen für ein Ja beim Referendum zu rühren. Die MHP Wählerschaft soll so von der Notwendigkeit eines „starken Mannes“ an der Spitze des türkischen Staates überzeugt werden.

In Kurdistan hat unterdessen die islamistische Hür Dava Partei (kurz Hüda-Par) bekannt gegeben, dass sie die Verfassungsänderung und somit das Präsidialsystem unterstützt. Die Anhängerschaft der Hüda-Par ist im Prinzip deckungsgleich mit den Unterstützern der islamistisch-kurdischen Organisation Hizbullah, die in den 90er Jahren gemeinsam mit den Strukturen des Tiefen Staates für unzählige Morde an kurdischen Aktivisten verantwortlich war. Die Nein-Front beim Referendum reicht hingegen von der HDP über die CHP und einen Teil der MHP-Wähler bis hin zur islamistischen Saadet Partei, aus deren Tradition ursprünglich auch Erdoğan und seine Gefolgschaft stammen, bevor sie die AKP gründeten.

Trotz der widrigen politischen Bedingungen, welche die Legitimität des gesamten Verfassungsreferendums in Frage stellen, ruft die Opposition im Land also zum größten Teil zu einem Nein beim Referendum auf. Doch es stellt sich vor dem Hintergrund der Situation in der Türkei auch die Frage, weshalb die Opposition nicht zu einem Boykott am 16. April aufruft? Die Antwort auf diese Frage liegt in der anfangs zur Sprache gebrachten Bedeutung des Verfassungsentscheids. Denn sollte sich die Mehrheit der Bevölkerung für ein Nein entscheiden, wird das den Grundstein für ein Ende der Erdoğan-Diktatur in der Türkei legen und die Hoffnungen auf eine Demokratisierung von Neuem erblühen lassen.

Doch wir dürfen nicht der Annahme verfallen, dass der türkische Staatspräsident bei einem Nein bis auf Weiteres seine Agenda begraben wird. Es scheint eher, dass Erdoğan in jedem Fall versuchen wird, sich an seinem Sessel festzukrallen. Viele Kreise gehen zudem davon aus, dass der Krieg gegen die Kurden sich auch bei einem Nein am Referendumstag weiter intensivieren wird. Bereits jetzt kündigen AKP-Vertreter an, dass ein mögliches Nein zu einem Bürgerkrieg in der Türkei führen wird. Dabei handelt es sich wohl um mehr als bloße Wahlkampfdrohungen, denn die AKP-Anhängerschaft hat bereits offen damit begonnen, sich zu bewaffnen. Das Ganze wirkt wie eine großangekündigte Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg.

Ein starkes Nein wird dennoch den Plänen für eine Erdoğan-Diktatur einen herben Schlag versetzen. Aus diesem Grund mobilisieren die verschiedenen Kreise, die sich gegen die Verfassungsänderung stellen, ihre eigene Anhängerschaft und versuchen den Einschüchterungsversuchen der AKP zu trotzen. Gelingt es der demokratischen Opposition aus diesen schwierigen Zeiten mit einem starken Nein hervorzutreten, wird das der Hoffnung auf bessere Zeiten in der Türkei in jedem Fall starken Auftrieb geben.

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03 Wahlkampf international?

Wahlen und Abstimmungen in anderen Staaten sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einer Sache mit Weltöffentlichkeit geworden. Die volkswirtschaftlichen Verflechtungen sind dafür der Grund, die internationalen Medien dazu das Mittel. Die weltweite Migration hat Staaten veranlasst, im Ausland lebenden Staatsbürgern die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen zu erleichtern, die selbstverständlich dem Hauptstrom der öffentlichen Meinung an ihrem Lebensort ausgesetzt sind. War die öffentliche Meinung der BRD im Fall der Trump-Wahl neutral? Wie im Fall der Brexit-Entscheidung? Wie in Sachen der österreichischen Wahlwiederholung? Wie gegenüber Marie Le Pens Ambitionen? Und wie gegenüber dem Türkei-Referendum? Die Intensität der Meinungsbildung in all diesen Fällen ist nicht selten mit dem Ruf nach Konsequenzen auf staatlicher Ebene verbunden, und ziemlich klare Äußerungen von Mandatsträgern der Parteien und auch der Bundesregierung sind nicht selten. Diese Situation führt zu innen- und außenpolitische Verwicklungen, die mit dem strengen Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten nicht befriedet werden können. So kann sich die öffentliche Meinung in der BRD eine Auseinandersetzung mit dem Marsch der Erdogan-Regierung in eine Diktatur nicht ersparen, die Abstimmung ist Sache der türkischen Staatsbürger, der Wahlkampf für ein Nein Sache der Demokratie.

Die Staatsbürger der Türkischen Republik genießen das Recht auf Bildung einer legalen Opposition nicht. Das belegen Parteienverbote, Repressalien gegen Abgeordnete sowie die Repression gegen die Presse und Sanktionen gegen Beamte und Richter. Das Referendum soll diesen Zustand verfestigen. Es dient der Ermächtigung. Aus der weitgehenden Illegalität heraus hat die Opposition den Kampf für ein Nein aufgenommen. Schon jetzt ist sicher, dass ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler nicht bereit sein werden, den Weg in die Diktatur zu legitimieren. Vielleicht sogar verfehlt das Regime die Mehrheit, die Macht wird es darüber aber nicht verlieren. Der Kampf für Demokratie in der Türkischen Republik ist langwierig, und in diesem Kampf ist die Bewegungsfreiheit der Opposition außerhalb der Staatsgrenzen der Türkei eine tragende Säule.

Jahrzehntelang konnten sich autoritäre Regierungen der Türkei darauf verlassen, dass ihnen auswärtige Regierungen, nicht zuletzt die BRD, bei der Verfolgung vor allem der kurdischen Opposition zur Hand gingen. Gerade weil der Referendumswahlkampf sich zum internationalen Meinungskampf entwickelt hat, erodiert diese Kollaboration. Entscheidend dazu beigetragen haben die Versuche des Regimes, im Ausland lebende Staatsbürger für Spitzel- und Zuträgerdienste zu missbrauchen. Angesichts dessen fehlt es nicht an Stimmen, dem Regime den Wahlkampf auf dem Staatsgebiet der BRD zu untersagen. Es ist aber nicht so, dass die alltäglichen konsularischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten des Regimes irgendwie besser wären als eine Wahlkampfrede, die immerhin an die Öffentlichkeit dringt.

Es ist in den letzten Wochen viel darüber spekuliert worden, ob türkische Staatsvertreter ein Recht auf Auftritte in der BRD hätten; sie haben es nicht. Anders schaut es mit den Rechten deutscher Staatsbürger aus, sich jemanden einzuladen, für deutsche Staatsbürger ein stark geschütztes Grundrecht, das für Einwohner ohne deutschen Pass, wenn auch abgeschwächt, ebenso gilt. Die Auseinandersetzung mit dem von Erdogan geführten AKP-Regime darf nicht so angelegt werden, dass diese Rechte beschädigt werden. Das würde letztlich die demokratische Opposition am härtesten treffen. Andererseits bietet das Versammlungsrecht viele Möglichkeiten, zu verhindern, dass das AKP-Regime seine Repression über die eigenen Staatsgrenzen hinausträgt. So hat, um in einer ernsten Sache ironisch zu sprechen, die deutsche Justiz viele und waghalsige Konstruktionen erfunden, um die Meinungsäußerung in Sachen Menschenrechte und Demokratie für die Kurden einzuschränken. Und es wäre der Mühe wert, Anhänger Erdogans darauf hinzuweisen, was an Werbung für Spitzeldienste, Volksverhetzung usw. auf einer solchen Veranstaltung zu unterbleiben hat.

Weniger erfolgversprechend scheint, angesichts des heute gegebenen Grades an internationaler Verflechtung und dauerhaften oder auch zeitweiligen Wohnsitzwechseln den ehrwürdigen Grundsatz der gegenseitigen Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten heranzuziehen, der z.B. greifen würde, wenn Frau Merkel nach Südtirol führe, nicht um dort zu wandern, sondern um eine Los-von-Rom-Bewegung zu inspirieren.

Besser kann die faktisch entstandene und wahrscheinlich unumkehrbare Internationalität innerstaatlicher Entscheidungen moderiert werden, wenn alle Akteure das Recht auf Opposition achten und wechselseitig auf dessen Einhaltung drängen. Martin Fochler, München

04 Das Recht der Staaten ist nicht denkbar ohne das Recht des Einzelnen. Der Einzelne ist nicht allein. – Zum schwierigen Schutz der Opposition im Völkerrecht

In der traditionellen Sichtweise regelt das Völkerrecht den Umgang zwischen den Völkerrechtssubjekten, also zwischen den Staaten und vereinzelten nichtstaatlichen, als Völkerrechtssubjekt anerkannten Organisationen, am prominentesten der Heilige Stuhl und das Internationale Rote Kreuz. Der Einzelne kommt in dieser Betrachtungsweise nicht vor, er hat insbesondere keine einklagbaren Rechte. Entstanden in einer Zeit, in der der Staat als das typische Völkerrechtssubjekt noch keineswegs seine klar umrissene Form hatte, namentlich nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, bei dem bei den beteiligten Kräften keineswegs die heute für die Definition eines Staates notwendigen Kriterien: ein fest umrissenes Staatsgebiet, ein zumindest bestimmbares Staatsvolk sowie eine halbwegs funktionierende Machtausübung über beide besonders ausgeprägt waren. Vielmehr entwickelt sich erst in den westfälischen Verhandlungen die Idee einer territorialen Souveränität, in die von außen, anders als im Mittelalter mit seinen sich personal und territorial überlagernden Rechtskreisen, nicht eingegriffen werden kann. Ausgerechnet in der Phase der höchstmöglichen Totalität staatlicher Machtausübung wird deutlich, dass das Recht zwischen den Staaten das Recht in den Staaten nicht vollständig ignorieren kann. Die Verknüpfung zwischen Massenvernichtung und Angriffskrieg durch den deutschen Faschismus ist zu eng, die hervorgerufenen Auswirkungen, etwa durch Flüchtlinge, zu global spürbar, um nicht zu erkennen, dass die Macht des Staates nicht nur nach außen sondern auch nach innen eine Eingrenzung braucht, um das Verhältnis zwischen den Staaten friedlich zu halten. Die Menschenrechte, bislang nur Verfassungsrecht einzelner Staaten, werden in der Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte global gültiges, zwischenstaatliches Recht. Aus der abstrakten Formulierung der Menschenrechte entwickelt sich mit der Zeit ein immer dichteres Netz sowohl an Normen wie auch an Kooperationen, die diese ausgestalten.

Allerdings: sind die Rechte des Einzelnen erst einmal anerkannt, so ist es kein weiter Weg zu den Rechten der Vielen. Der Einzelne ist einzeln, aber nun einmal nicht allein: Die Koalitionsfreiheit nutzt wenig, wenn es keine Gewerkschaften gibt, das Grundrecht auf Familie allein auszuüben, macht besonders wenig Spaß und auch für die Religionsfreiheit muss man schon einer sehr verinnerlichten Spiritualität fähig sein, um ohne Kirche oder zumindest Gottesdienst auszukommen. Besonders bei den Rechten, deren Bezeichnung als Bürger-Rechte ihre Qualität als Menschenrechte nicht reduziert, ist der kollektive Bezug immanent. Besteht eine Opposition aus einem Einzelnen liegt der Verdacht auf eine Verirrung nahe, eine Opposition braucht Medien, Versammlungen, Organisationen.

Der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR)“*, von der UN-Vollversammlung im Dezember 1966 verabschiedet und mittlerweile von 168 Staaten, darunter Deutschland und seit 2003 der Türkei, ratifiziert, ist einer der Ansätze, die individuellen Menschenrechte mit dem Völkerrecht zu verbinden und auch ihre kollektive Ausübung zwischenstaatlich zu schützen. Er teilt die Schwäche aller Völkerrechtsnormen: Es fehlt das vollstreckende Organ. Anders als im nationalen Recht, in welchem das Gericht Recht spricht und der Gerichtsvollzieher es durchsetzt, lebt das Völkerrecht von der Äquivalenz: Ich halte mich an Normen, weil ich davon abhängig bin, dass sich auch der andere an Normen hält. Dieser allgemeine Geltungsgrund von Recht hat im Völkerrecht durch dessen besondere Katastrophenanfälligkeit im Konfliktfall eine überragende Bedeutung. Sie verknüpft aber auch das Schicksal der Menschenrechte, sprich: der politischen Opposition, in einem Land unauflöslich mit der eigenen Rechtsordnung. Eben diese Äquivalenz wird gestört, wenn eine Partei Rechte nicht beachtet, aber für sich einfordert. Dieses Missverhältnis macht es schwierig, wenn die Türkei für ihre Repräsentanten etwas einfordert, was sie „ihrer“ Opposition nicht gewährt. Johannes Kakoures, München

* Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.Dezember 1966, (BGBl. 1973 II 1553), (vgl.: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICCPR/iccpr_de.pdf )

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