Quelle: Politische Berichte Nr. 8, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

G20 in Hamburg

01 Bilderstrecke

02 Jan van Aken, 12. Juli 2017, 76 000 mal Hoffnung

03 Und jetzt ?

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01 Bilderstrecke

Abb. (PDF):„Massencornern“ am 4.7. In vielen Stadtteilen versammeln sich Tausende an Straßenecken und auf Plätzen zu Gesprächen oder um Musik zu hören. Der „Arrivati-Park“ am Rande des Schanzenviertels ist die ganze Protestwoche über ein Ort der Kommunikation, der Kultur und des Abb. (PDF):Protestes.

Abb. (PDF):Hier wird das „Massencornern“ am 4.7. abends durch einen unprovozierten Polizeieinsatz gewaltsam aufgelöst.

Abb. (PDF):Über 10 000 Menschen zogen am 5.7. ravend durch die Innenstadt: „Lieber tanz ich als G 20“

Abb. (PDF):Die sogenannte „Welcome to Hell“-Demonstration am 6.7., dem Vorabend des Gipfels, wird nach wenigen Metern von der Polizei angehalten, weil sich einige hundert Menschen im „Schwarzen Block“ vermummt hatten. Obwohl ein größerer Teil die Vermummung abnimmt, gehen starke Polizeikräfte mit Wasserwerfern und Knüppeln in die Demonstration, um den „Schwarzen Block“ abzutrennen. Der Ort war gewählt, weil sich dort zur Hafenseite eine Flutmauer befindet, die ein Entkommen verhindern sollte – ein gefährlicher Plan, denn da auch nach vorne und hinten niemand vor Pfefferspray und Knüppeln flüchten konnte, war die Gefahr einer Massenpanik groß. Wider Erwarten sind viele Menschen Dank Unterstützung der auf der Flutmauer Stehenden entkommen. Dennoch gibt es viele Verletzte, auch Schwerverletzte.

Abb.Am 7.7. versuchten an den verschiedensten Punkten der Stadt viele tausend Menschen, die sogenannten Transferstrecken der Gipfelteilnehmer friedlich zu blockieren. Die Polizei war oft völlig überfordert und ging – auch deshalb – teilweise mit großer Härte vor. Doch es gab auch Einsatzleiter vor Ort, die immer wieder auf Deeskalation bedacht waren.

Abb. (PDF):Die Mitglieder der Bürgerschaftsfraktion der Linken war eine Woche lang tagtäglich viele Stunden lang als „Parlamentarische BeobachterInnen“ unterwegs, immer ansprechbar, oft deeskalierend. Wir haben dafür sehr viel Anerkennung erfahren.

Abb,. Ein vom Verwaltungsgericht genehmigtes Camp in Entenwerder wird von der Polizei verhindert, die bis dahin elf aufgestellten Schlafzelte bei einem nächtlichen Einsatz von mehreren Hundertschaften abgeräumt. Von Anfang an ging es dem Senat darum, Camps und andere Schlafmöglichkeiten für Auswärtige zu verhindern. Kirchen ließen kleine Camps zu, Schrebergärten öffneten die Gartentore, das Schauspielhaus seine Pforten für einige hundert Übernachtende.

Links:

Christiane Schneider, Beitrag in der Debatte der hamburger Bürgerschaft, Videomittmschnitt. https://www.youtube.com/watch?v=5GGUqNp92rE

Dr. Christian Ernst, „Schatz, haben wir noch eine Perspektive?“ Die Polarisierung von Versammlungen – und ein möglicher Ausweg. http://www.juwiss.de/82-2017/

Prof. Feltes, Kriminologe und Polizeiwissenschaftler an der Ruhr-Universität, Radiointerview. http://www.ardmediathek.de/radio/Leute/Prof-Dr-Thomas-Feltes/SWR1-Baden-Württemberg/Video?bcastId=447702&documentId=44547186

Die Fotos mit Untertitel erhielten wir von Christiane Schneider, sie war die ganze Woche als Mitglied der Bürgerschaftsfraktion der Linken mit den „Parlamentarische BeobachterInnen“ unterwegs.

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02 Jan van Aken, 12. Juli 2017 – 76 000 mal Hoffnung

Auch wenn aktuell die hirnlosen Plünderungen und Zerstörungen die Debatte bestimmen – die G 20-Woche war mehr, viel mehr. Ich war von Sonntag bis Sonntag täglich unterwegs, mal als Parlamentarischer Beobachter der Linken-Bundestagsfraktion, mal als Teil des Protestes. Hier der Versuch einer zusammenfassenden Einschätzung.

1. Eine großartige Demonstration zum Abschluss

Es ist ein großer Erfolg, dass am Samstag, noch während die G 20 in den Messehallen tagten, 76 000 Menschen friedlich, fröhlich und lautstark auf die Straße gegangen sind. Und das trotz der furchtbaren Bilder vom Vorabend, trotz der wochenlangen Panikmache, trotz der Demonstrationsverbote. 76 000 Menschen, die für eine gerechtere Globalisierung, gegen Ausbeutung und Umweltverschmutzung, für eine friedlichere Welt auf die Straße gegangen sind. Es war die größte Demonstration in Hamburg seit über 30 Jahren, und darauf können wir alle stolz sein.

Wir haben von Anfang an gesagt, dass von dieser Demonstration keine Eskalation ausgehen wird, dass keine Angriffe auf Sachen oder Menschen stattfinden werden, und dass alle am Bündnis Beteiligten – wozu auch die Autonomen gehörten – in ihren Blöcken die Verantwortung dafür übernehmen, dass das auch so klappt. Wenn jetzt behauptet wird, wir hätten uns nicht eindeutig von Gewalt distanziert, dann ist das schlichtweg gelogen, im Gegenteil: Seit November haben wir das immer wieder klar gemacht. Nur das Wort ‚Gewalt‘ kommt mir in diesem Zusammenhang nur ungern über die Lippen, aus einem simplen Grund: Wenn ich mich nachts in einer dunklen Gasse einer Frau in den Weg stelle, dann ist das verachtenswerte Gewalt. Wenn ich mich aber einem Castor-Transport in den Weg stelle, dann finde ich das richtig! Auch wenn das in gewissen – ethischen oder juristischen – Kategorien sicherlich auch Gewalt genannt werden kann. Deswegen habe ich immer auf den Gewaltbegriff verzichtet und lieber ganz konkret gesagt, was wir wollen und was wir nicht wollen: Keine Eskalation, keine Angriffe, gemeinsam mit Rollstühlen und Kinderwagen die Demo bis zum Ende gehen. Das war und ist unzweideutig, und genauso ist es dann auch gekommen: Es blieb ‚friedlich‘, um es im Polizeijargon zu sagen.

Dass es am Ende so geklappt hat, lag natürlich auch an der Polizeiführung, die – anders als am Donnerstagabend – nicht auf volle Konfrontation gesetzt hat. Wobei ein Vorfall nicht unerwähnt bleiben darf, weil er so gut zum gesamten Verlauf der Woche passt: Während der Abschlusskundgebung kam es zu einer kleinen Reiberei mit der Polizei, die Stimmung heizte sich auf. Wir sind mit mehreren von der Demoleitung dort hingegangen, haben uns zwischen Polizei und DemonstratInnen gestellt und versucht, die Situation zu beruhigen – was auch gut gelungen ist. Obwohl sich die Lage dann etwas entspannte und in der Situation ganz sicher keinerlei Angriffe Richtung Polizei stattfanden, bekam ich dann doch noch eine volle Ladung Wasserwerfer in den Rücken. Direkt danach hat die Polizeiführung noch einen Trupp von zehn Polizisten mitten durch die Demo geschickt, einfach nur einmal im Kreis mitten durch die noch sehr erboste Stimmung. Das hatte nur einen einzigen Grund: Provokation. Möglicherweise die Hoffnung, jetzt doch noch Rangeleien zu provozieren und damit auch diese Demonstration als gewaltsam brandmarken zu können. Es ist ihnen nicht gelungen, und das ist einzig und allein der Besonnenheit der DemoteilnehmerInnen geschuldet.

Die Demonstration war der sichtbare Gegenpol zum offiziellen G 20-Gipfel, der auf der ganzen Linie gescheitert ist. Ich denke, wir haben unseren Beitrag dazu geleistet, dass das Modell G 20 in den nächsten Jahren überdacht wird. Unser Gegenmodell ist die Generalversammlung der Vereinten Nationen – und es ist eine gute Idee, wenn viele Staatschefs im September schon ein paar Tage früher nach New York reisen, um dann in wechselnden informellen Gruppen die Entscheidungen der Generalversammlung vorbereiten. Denn reden hilft immer. Nur entscheiden sollten eben nicht kleine Kreise von reichen Ländern, sondern nur die Gesamtheit aller Länder gemeinsam.

2. Die Gewalt im Schanzenviertel am Freitagabend

Die Wucht der brutalen Ereignisse vom Freitagabend im Schanzenviertel hat uns alle geschockt. Diese Gewaltexzesse gegen Anwohner, Journalisten und Polizisten, diese Zerstörungswut sind durch nichts, aber auch gar nichts zu entschuldigen. Es ist nicht klar, wer hinter der Randale stand, sicherlich waren auch Eventjugendliche aus den Vorstädten dabei, die einfach mal die Gelegenheit zum Plündern genutzt haben. Aber es waren offensichtlich auch einzelne kleinere organisierte Gruppen aus verschiedenen Ländern dabei, die das als Protestform begreifen – was ich komplett ablehne und falsch finde. Es hat nichts Revolutionäres an sich, einen ganzen Straßenzug in Schutt und Asche zu legen. Auch Stellungnahmen, dass diese Gewalt vielleicht im ‚eigenen Viertel‘ falsch sei, aber in den reicheren Quartieren doch in Ordnung, kann ich gar nichts abgewinnen. Ich glaube, wir müssen uns, als Gesellschaft, in den nächsten Wochen und Monaten damit auseinandersetzen, was Menschen dazu bringt, so zu handeln. Monokausale Erklärungen und einseitige Schuldzuweisungen von beiden Seiten führen nur zu einer weiteren Eskalation und sollen von der eigenen Verantwortung ablenken.

Es gibt jetzt Vorwürfe, dass die Polizeiführung bewusst die Randale im Schanzenviertel über mehrere Stunden hat wüten lassen, damit sie sich nicht über den Rest der Stadt ausbreitet. Das halte ich für Spekulation. Ausschließen kann das niemand, und alle bislang von der Polizeiführung vorgebrachten Argumente, warum sie nicht im Schanzenviertel eingegriffen haben, sind an den Haaren herbeigezogen. Aber das ist am Ende auch nicht meine Frage. Denn der Hauptfehler der Einsatzleitung und des Senates in diesen Tagen war ein anderer: der Angriff auf die Versammlungsfreiheit und die massive Eskalation in den Tagen zuvor.

Die Polizei hat selbst gesagt, dass in der gesamten Zeit ihre Priorität die Staatsgäste waren. Im Klartext heißt das: Lieber ein paar BlockiererInnen von der Straße zu fegen, damit der Gipfel pünktlich beginnen kann, als die Brandstiftungen an Privatautos zu unterbinden. Es war wichtiger, dass die Könige in Ruhe der Musik lauschen und feist schlemmen konnten, als die AnwohnerInnen zu schützen. So ein Prinzip darf in einer Demokratie nicht gelten.

3. Angriffe auf die Versammlungsfreiheit – Yes we camp!

Über Monate gab es verschiedenste Versuche, in Hamburg ein Camp für die vielen Tausend Protestierenden aus ganz Europa aufzubauen. Die Linie des Senats war knallhart: kein Camp! Die offizielle Begründung: da könnten sich auch Gewaltbereite untermischen, denen wollen man keine Rückzugsmöglichkeiten geben. Dazu hat Sven Brux, der Sicherheitschef vom FC St. Pauli treffend gesagt, dass jeder Mensch ein potentieller Gewalttäter sei und damit jedes Hotel auch an potentielle Gewalttäter vermietet. Wenn man dem Argument folgt, müsste die Hamburger S-Bahn auch schließen, weil ja einige Leute schwarzfahren.

Ich denke, hinter dem Camp-Verbot stand vielmehr der Versuch, so viele Menschen wie möglich davon abzuhalten, nach Hamburg zu kommen. So wie der Hamburger Senat alle nur erdenklichen Mittel eingesetzt hat, die Proteste so klein wie möglich zu halten, bis hin zur Organisation einer eigenen „Hamburg zeigt Haltung“-Demo am Samstag, den 8.7., angeschoben und mitfinanziert von den Bürgerschaftsfraktionen von SPD und Grünen, um die große Abschlussdemonstration zu spalten. Damit sind sie grandios gescheitert.

Selbst nachdem sich die Camps vor den Verwaltungsgerichten durchgesetzt hatten, ging die Polizeiführung weiter massiv gegen jeden Versuch vor, in Hamburg zu campen. Das ging so weit, dass ein Einsatzführer der Polizei beim Camp Entenwerder zu einer unserer Bürgerschaftsabgeordneten sagte: „Mir ist völlig egal, was das Gericht sagt!“ Das ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung, denn in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung entscheiden immer noch Gerichte darüber, was erlaubt und was verboten ist. Und nicht die Polizei.

Dazu kam eine 38 Quadratkilometer große Zone, in der für zwei Tage alle Demonstrationen verboten waren. So etwas gab es noch nie in der Geschichte der Hansestadt. Dazu kam auch ein Bericht des Verfassungsschutzes, der im Prinzip dazu aufrief, nicht auf unsere Demonstration am 8. Juli zu gehen. Man kann vom Verfassungsschutz ja halten, was man will – aber es ist ganz sicher nicht seine Rolle und eine unerhörte Mandatsübertretung, sich gegen Demonstrationen zu äußern und zu demobilisieren.

Ermutigend war die Antwort der Zivilgesellschaft auf diese Angriffe auf die Demokratie. Am Dienstag (4. Juli) traten fast 20 Menschen aus Kultur, Kirche, Politik und Umweltorganisationen auf dem Rathausmarkt an die Öffentlichkeit und mahnten eine Achtung des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit an. Damit war die monatelang vorbereitete Spaltungsstrategie des Senates über Nacht zusammengebrochen, Hamburg hat an diesem Tag wirklich Haltung gezeigt und danach ging es in der Woche nicht mehr nur um den G 20, sondern auch um unsere Demokratie. Die Solidarität wurde auch praktisch: So haben das Schauspielhaus und der FC St. Pauli Räume für Übernachtungen angeboten, Kirchen haben Zeltlager auf ihrem Gelände geduldet. Das war ganz groß!

4. Cornern, Nachttanzen und Blockaden

Nach der ersten Demo am Sonntag gingen die Proteste schon am Dienstag massenhaft weiter. Für den Dienstagabend war in St. Pauli zum so genannten „cornern“ eingeladen – mit den NachbarInnen gemeinsam vor der Tür stehen, über den G 20 reden, von einer gerechteren Welt träumen, Bier trinken. Es war ein lauer Abend und eine ganz wunderbare Stimmung, bis dann plötzlich mehrere Wasserwerfer am Pferdemarkt auffuhren und die Straßenkreuzung absperrten. Als dann die Menschen auch auf der – nun abgesperrten – Straße standen und ihr Bier tranken, wurden sie mit eben diesen Wasserwerfern abgeräumt. Das Gute in dieser Situation: Es ließ sich wirklich niemand provozieren, die Stimmung war weiter gut und die Menschen tranken weiter ihr Bier. Aber die Strategie der Polizeiführung wurde schon in dieser Situation deutlich: Völlig unnötig und ohne Anlass die Eskalation suchen.

An dieser Stelle eine Anmerkung: Ich schreibe bewusst immer von der „Polizeiführung“ und nicht von „Polizei“, weil ich hier nicht alle PolizistInnen in einen Topf werfen möchte. Ich habe auch Einsätze gesehen, die zurückhaltend und verhältnismäßig waren – leider viel zu selten. Die Nachttanzdemo am Mittwoch war einer dieser Einsätze, da zogen über 20 000 junge Leute zu Musik (oder das, was die so Musik nennen – für sowas bin ich einfach zu alt…) durch die Stadt, es war einfach eine richtig gute Stimmung.

Völlig untergegangen ist in den Medien der Blockade-Tag am Freitag, als 3-5 000 Menschen versucht haben, in die verbotene blaue Zone einzudringen, um die Konvois der Staatschefs zu stoppen – was ihnen auch mehrfach gelungen ist. Zwischenzeitlich hieß es innerhalb der Polizei, sie habe die Kontrolle verloren und brauche dringend weitere Verstärkung aus anderen Bundesländern. Diese Blockaden wurden natürlich jeweils rasch aufgelöst, aber es entwickelten sich dort keine militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Und genau dort wurde z.B. umgesetzt, was ich mit bewussten Regelverstößen meine. Ziviler Ungehorsam, der in bestimmten Situationen politisch sinnvoll sein kann – so wie ihn Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Greenpeace oft und erfolgreich eingesetzt haben. Aber die Polizeiführung hat ja dann wie erwartet die mitgenommenen Luftmatratzen und aufblasbaren Gummitiere als Waffen deklariert (weil mensch sich damit gegen Schlagstöcke schützen kann) und zum Teil hemmungslos Gewalt angewendet.

5. Welcome to hell – Gezielte Eskalation bei der Demonstration des „Schwarzen Blocks“

Nach den unfassbaren Gewaltbildern aus dem Schanzenviertel lässt sich heute kaum noch über die tatsächlichen Vorgänge am Donnerstagabend während der „Welcome to hell“-Demonstration diskutieren, weil jegliche Eskalation in der letzten Woche natürlich dem so genannten Schwarzen Block in die Schuhe geschoben wird. Welcome to hell war (ziemlich großkotzig, wie ich finde) als „größter Schwarzer Block in der Geschichte“ angekündigt worden. Tatsächlich waren dann zwar ca. 10 000 Menschen am Fischmarkt und nahmen stundenlang in gelöster aber unterschwellig nervöser Stimmung an der Kundgebung teil. Dann formierten sich gerade mal ca. 500 Menschen in den vorderen Reihen als Schwarzer Block, inklusive Vermummung und kompakter Aufstellung. Daraufhin stoppte die Polizei den Block und forderte die TeilnehmerInnen auf, die Vermummung abzunehmen.

Was dann geschah, wird von vielen Journalisten, die direkt dabei waren, ähnlich geschildert. Auch ich stand zu der Zeit genau zwischen dem Schwarzen Block und den Polizeiketten, als Parlamentarischer Beobachter. Fast alle im Block nahmen ihre Vermummung herunter, am Ende waren vielleicht noch 10-20% vermummt, maximal. Und es gab, trotz der sehr aufgeheizten Stimmung, keinerlei Angriffe aus dem Block gegen die Polizei, da flog kein Stein und keine Flasche. In dieser Situation hätte eine verantwortungsvolle Polizeiführung die Demonstration laufen lassen müssen. Der Angriff auf den Schwarzen Block in dieser Situation war vollkommen unnötig und aus meiner Sicht eine bewusste, politisch gewollte Eskalation. Ich glaube, dass der Senat hier genau die Gewaltbilder provozieren wollte, die sie wochenlang an die Wand gemalt hatte – nicht zuletzt, um ihre ganzen Camp- und Demonstrationsverbote im Nachhinein rechtfertigen zu können.

6. Die Reaktionen – „Law and order“ als Wahlkampfthema

Der Hamburger Senat und die Polizeiführung haben auf der ganzen Linie versagt. Erst hebeln sie das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus, dann belagern sie die Stadt, eskalieren an allen Fronten und schaffen es trotzdem nicht, die Gewalt am Freitagabend einzudämmen. Olaf Scholz geht es jetzt nicht nur um die eigene Haut, jetzt versucht die SPD sich nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ als härteste Law-and-order-Partei zu profilieren, mit Blick auf die Bundestagswahl im September. Forderungen nach Schließung der Roten Flora, der unsägliche Vorschlag eines „Rock gegen links“ (übrigens ein Lied der rechtsextremen Band Freikorps) oder die Forderung einer europaweiten Linksextremen-Datei haben nun so gar nichts mit den Krawallen im Schanzenviertel zu tun, sie sind die hilflosen Versuche der SPD, noch ein paar Prozentpunkte zu retten. Schämt euch!

7. Ausblick

Ich glaube, das Hamburg der Anfang vom Ende der G 20 in der jetzigen Form war, vor allem aus zwei Gründen, die gar nichts mit den Protesten oder der Krawallnacht zu tun haben: Zum einen war der offizielle Gipfel ein Misserfolg auf der ganzen Linie. Zum zweiten waren die Auswirkungen auf die Bevölkerung auch jenseits Krawalle katastrophal. Ab Donnerstag ging in Hamburg gar nichts mehr, Menschen standen stundenlang im Stau und kamen nicht nach Hause, am Freitag war die gesamte Achse zwischen Elbe und Alster wegen des Konzerts in der Elbphilharmonie komplett gesperrt, da kam niemand mehr durch, auch nicht zu Fuß. Für drei Tage das komplette Leben in einer Großstadt derart lahmzulegen wird sich auf Dauer nicht rechtfertigen lassen – vor allem nicht, wenn diese Gipfel überhaupt gar kein Ergebnis bringen.

Hinweis d. Autors: Interessante Lektüre rund um die G 20-Proteste:

NTV-Interview mit einem Protestforscher: Die Polizeiführung hat völlig versagt. www.n-tv.de/politik/Die-Polizeifuehrung-hat-voellig-versagt-article19930264.html

• Ein Pastor über das Protestcamp auf seinem Gelände. hauptkirche-altona.de/in-hamburg-ist-g20-und-wir-sind-mitten-drin

• Der Leserbrief eines Professors an einer Polizeihochschule in der SZ. www.sueddeutsche.de/kolumne/g-gipfel-eine-harte-linie-gebiert-eskalation-1.3577711

• Tagesschau zum Cornern am Pferdemarkt. www.tagesschau.de/inland/g20-protest-137.html

• ZEIT über die Abschlussdemonstration (von der ich übrigens „76 000 mal Hoffnung“ geklaut habe). www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/g20-gipfel-hamburg-grenzenlose-solidaritaet-hans-christian-stroebele

• Spiegel online mit vier Lehren aus G 20. www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/g20-in-hamburg-der-gescheiterte-gipfel-vier-lehren-aus-g20-a-1156840.html

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03 Und jetzt ?

Nach den G 20-Ereignissen ist gewiss, dass Hamburg eine ganze Zeitlang als Veranstaltungsort für repräsentative Staatsakte ausfällt. Obwohl, zwei Wochen später melden die Medien: „Prinz William und Herzogin Kate bringen Hamburg wieder zum Strahlen“. Der britische Besuch diente der Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen der Insel und dem Festland, Offizielle und Publikum klatschen Beifall. Die G 20-Konferenz repräsentiert Machtansprüche und tatsächliche Macht gegenüber dem Rest der Welt. Sie muss sich den empörenden Zustand der wirtschaftlich verschränkten und kommunikativ vernetzten Welt vorhalten lassen.

Unter Empörung bezeichnen wir heute eine individuelle Gemütslage. Im früheren Sprachgebrauch bedeutete das Wort auch Aufruhr, Krawall, Unruhen – Massenaktionen politisch Rechtloser. In entwickelten Demokratien fallen solche Ereignisse vor, wenn schreiende Missstände oder Fehlentscheidungen trotz Wahlen und Abstimmungen andauern. Schroffe Ablehnung erfahren dann nicht nur die Regierenden, auch die Opposition erfährt Verachtung, weil sie es nicht schafft, die Kritik der Öffentlichkeit politisch wirksam aufzugreifen. Auch die in der rechtlich geordneten Demokratie gesicherten Verfahren – Meinungsäußerung, Demonstration, politische Mobilisierung – verfallen dem Desinteresse, hilft ja doch nix! Aber Blockaden, Besetzungen, Barrikadenfeuer und, ja, sogar der scheinbar ziellose Krawall beeindrucken die Öffentlichkeit.

Der Gesellschaft, die nicht hören will, muss fühlen, dass sie zerfällt, wenn Mitmenschen die Lebensgrundlage verweigert oder entzogen wird. Das kann mit subtilen Mitteln etwa des Regietheaters, der Kunstaktion, der phantasievollen Demonstration, der gewaltlosen Blockade erfolgen. Darüber kann die Öffentlichkeit hinwegsehen. Wenn Sachen beschädigt oder gar Menschen angegriffen werden, kann der Protest nicht mehr ignoriert werden. Das politische Echo auf Krawalle ist, man muss schon sagen überall und regelmäßig, der Schrei nach strengeren Gesetzen und härterem staatlichen Durchgreifen. Die sozialen und politischen Missstände, der Anlass des Aufruhrs interessieren kaum noch. So war es auch in Hamburg. Die große Demonstration, die eine Chance war, politische Ziele zu präzisieren, fand kaum noch Beachtung. Auf mittlere Frist setzt trotzdem ein öffentliches Nachdenken über Ursachen und Hintergründe ein. Ist deswegen, um auf geflügelte Worte zurückzugreifen, die Rebellion gerechtfertigt, nicht legal, aber legitim usw.?

Die Geschichte Nachkriegsdeutschlands hat durch Demonstrationen und Aktionen ganz erheblich Anstöße erfahren. Außerhalb des politischen Betriebs hatten sich notwendige Kritiken entwickelt, die nur auf diesem Wege in die Öffentlichkeit fanden. Die Stationen dieses Wegs können heroisch-episch dargestellt werden. Der zeitliche Ablauf etwa in Sachen Ökologie oder Diskriminierung belegt jedoch, dass diese Themen Durchschlagskraft entwickelten, nachdem und indem die kritischen Strömungen Forderung und Aktionsform so an das parlamentarische System adressierten, dass Parteibildung und Wahlerfolge eintraten. Schon die in den Sechzigern von Dutschke formulierte Devise vom „Langen Marsch durch die Institutionen“ brachte Gesellschaftskritik und Funktionsträgerschaft begrifflich unter einen Hut, in den Siebzigern ermöglichte der knappe Normenkatalog „ökologisch, gewaltfrei, basisdemokratisch“ die Bildung einer Partei und Einfluss auf Gesetzgebung und Regierungsbildung.

Verändernde Politik braucht politische Strategien, die von Vielen aufgegriffen werden können. Die Idee des heroischen Handelns fasziniert die empörten Einzelnen, sie können sofort handeln, Aufmerksamkeit erzwingen. Die politisch motivierte Grenzüberschreitung untergräbt jedoch demokratische Kultur. Die Avantgarde geht voraus, will Schwankende mitreißen, übt aus innerer Überzeugung Willkür, und untergräbt damit die demokratische Kritik an der Willkür der Mächtigen.

In der Demonstrations- und Aktionsgeschichte der Nachkriegszeit hat sich der gute Brauch entwickelt, über Mittel und Wege eines Protestgeschehens Einvernehmen der Beteiligten zu suchen. Dabei werden individuelle Empörung und Entrüstung in diskursiven Verfahren legitimiert und inhaltlich präzisiert. Sie können dann als beglaubigte Meinung vieler den Weg in den politischen Willensbildungsprozess aller antreten. Die politische Wirkung von Verständigung kann durch keine noch so heroische und exponierte Aktion Einzelner oder auch geheim verabredeter Kleingruppen ersetzt werden. Das lehrt die Erfahrung, und solange der Protest den Weg an die Öffentlichkeit offen hat, findet man am Ende oft nervtötender Gespräche einen Weg. Dann muss das Ereignis angemeldet werden, und da zeigt sich dann, ob die Versammlungsbehörde den Gebrauch des Demonstrationsrechts als wichtige Quelle politischer Ideen und Bereicherung der zivilen Gesellschaft versteht, oder ob sie den Vorgang als eine letztlich durch Polizeipräsenz und -einsatz kleinzuhaltende Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung begreift. Trifft das empörte Gefühl auf die Gleichgültigkeit des Publikums, ist das bitter genug. Wird den Leuten aber von Staats wegen der Zugang zur Öffentlichkeit abgeschnitten oder empfindlich behindert, wird Meinungsäußerung zum Delikt und Staatshandeln manifeste Missachtung der Bürgerrechte.

Hatten die Proteste anlässlich des G 20 ausreichend Zugang zur Öffentlichkeit? Das wird ein Ausschuss der Bürgerschaft, des Parlaments des Stadtstaates nun untersuchen. Wird das Gremium nicht bevollmächtigt, Akten der Behörden und der Polizei einzusehen und Amtsträger vorzuladen, wird das schwierig bis unmöglich. Das würde bestehende Gefühle von Ohnmacht und Vergeblichkeit politischen Engagements weiter anfachen. Die genaue Darstellung von Vorlauf und Ablauf der Ereignisse kann Hinweise geben, wie es zur Krawall und Entgrenzung kam, und vielleicht auch, was sich an den Einrichtungen und den eindressierten Verfahren von Polizei und Behörden verändern sollte.

Andere Fragen müssen in dem Spektrum der Linken geklärt werden. Eine davon wäre die Haltung zur Demokratie, – im Umgang miteinander, mit der Öffentlichkeit, den Andersdenkenden und dem Staat. Eine andere das Missverhältnis von breiter Kritik und parteipolitisch-parlamentarischer Strategiebildung. Stichwort Afrika. Welchen Entwicklungen kann zivilgesellschaftliche Initiative weiterhelfen? Welche Veränderungen der internationalen Rahmenbedingungen wären förderlich? Was leisten die Vereinten Nationen? Welche Schwerpunkte setzt linke Parlamentspolitik im Bund und in Europa?

Sicherlich werden die Ereignisse die Hamburger Innenpolitik zur Klärung bürgerrechtlicher Fragen drängen. Hoffentlich werden die breiten Proteste gegen die empörenden Zustände an den Grenzen zwischen Afrika und Europa die Strategiediskussion antreiben, so dass die links stehenden Parteien sich den emanzipativen Bewegungen nützlich machen können. Martin Fochler, München