Quelle: Politische Berichte Nr. 11, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Neuwahlen nicht auszuschließen

Der verwickelte Verlauf der Regierungsbildung aus CDU, CSU, FDP und Grünen löst verschiedenste Fragestellungen aus. Eine Koalition als Ergebnis scheint möglich, weil und soweit alle Beteiligten davon ausgehen, dass Erwerbstrieb und Naturschutz nicht als einander ausschließende Gegensätze gehandhabt werden müssen, sondern als Versöhnung von Ökonomie und Ökologie durch die Politik zu einem gut laufenden Gesamtgeschäft kombiniert werden können. SPD und Linke hätten dann in der Opposition als Sprecher der sozialen Belange und der Bürgerrechte eine schöne Rolle zu spielen. Da die SPD, aber auch die Linke, in der Kommunal- und Landespolitik vielerorts in der Verantwortung stehen, sind sie auf die Rolle nicht reduziert, es könnte eine erfahrungsgestützte Strategie linker Reformpolitik entwickelt werden. In einem solchen Szenario würde sich zeigen, was aus der AfD wird bzw. nicht wird.

Es kann aber auch ganz anders kommen. Die FDP kann die Verhandlungen mit dem Argument platzen lassen, dass die grünen Forderungen die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft unverantwortlich schwächen würden. Die Grünen, weil sie die Gefährdung des Weltklimas wegen Profitmargen nicht verantworten wollen. Die CSU, weil sie sich in die Idee einer staatlich definierten und durchzusetzenden Leitkultur so verbissen hat, dass sie nicht in der Lage ist, den Problemkreis von Flucht und Migration unter den vernünftigen Normen übergeordneter Menschenrechte zu behandeln.

Ein Blick auf die Wahlergebnisse der Sozialdemokratie in den Ländern Europas bzw. der EU macht klar, dass sich die sozialdemokratischen Strategien verbraucht haben und eine Neuformulierung von Reformpolitik aus der Opposition unumgänglich ist.

Dementsprechend fällt in der öffentlichen Diskussion immer häufiger das Stichwort Neuwahlen. Das zwingt zu einem Blick in die Verfassung.

Mit der konstituierenden Sitzung des 18. Bundestages endete am 22. Oktober auch die Amtszeit der Bundeskanzlerin und der Minister. Seither hat die BRD eine geschäftsführende Regierung gemäß Art. 69 GG: „Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler, auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.“ Eine Beschränkung der Kompetenzen einer solchen Regierung sieht das Grundgesetz ebenso wenig vor wie eine Beschränkung der Zeitdauer. Allerdings kann eine geschäftsführende Regierung weder die Vertrauensfrage stellen noch durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Die Möglichkeit von Neuwahlen ergibt sich, wenn die für das Kanzleramt vorgeschlagene Person zwar die meisten Stimmen erhält, nicht aber von der Mehrheit des Bundestags gewählt wird.

Das Verfahren kreist um die Kanzlerwahl im Bundestag. Zusätzlich zu den sachlichen Differenzen kommt, dass die Devise „Merkel muss weg“ zwar nur für die AfD programmatisch ist, aber auch bei CSU, CDU und FDP Anhänger hat. Wenn Lindner jetzt sagt, die FDP fürchte sich nicht vor Neuwahlen, geht es auch darum.

Einstweilen findet die breite Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die Mitgliedschaft der verschiedenen Parteien und wohl auch die überwiegende Zahl der frischgebackenen Bundestagsabgeordneten die Idee von Neuwahlen abschreckend, und der Druck der Öffentlichkeit vor allen auf die kleineren Parteien-Verhandler (nicht kompromissfähig!) ist groß. Kommt es zu einer echten Verhandlungskrise, wird sich das ändern. Dann wird der harte, wenn man will unsachliche Kern der Koalitionsverhandlungen sichtbar: Frau Merkel hat dann keine Mehrheit für ihre erneute Kandidatur finden können. Zeigt sich im Parlament keine personelle Alternative, kommt es zu Neuwahlen. Bei diesen Neuwahlen würden nicht nur die Mehrheitsverhältnisse neu bestimmt. In den Parteien würden die Listen neu aufgestellt, das würden nicht überall dieselben Leute werden.

Die Kräfte in der Union, namentlich in der Jungen Union und vor allem in Bayern, die auf diese Reise gehen wollen, rechnen mit einer Verschiebung der politischen Grundströmungen, weg von der Suche nach dem beiderseitigen Vorteil hin zu „Deutschland zuerst“, weg von der Bindung staatlichen Handelns an Menschenrechte hin zum autoritären Staat, weg von dem Kriterium nachhaltigen Wirtschaftens hin zum schnell abgreifbaren Vorteil.

Neuwahlen würden eine Links-Rechts-Konfrontation aufrufen; die Linke, Partei und gesellschaftliche Strömung, ist darauf nicht vorbereitet, ein weiterer Anreiz für FDP und den rechten Flügel der CSU, die Verhandlungen platzen zu lassen. Martin Fochler, München

Abb. (nur im PDF): Die Junge Union München-West veröffentlicht dieses Bild mit Markus Söder auf einer ihrer Veranstaltungen.