Quelle: Politische Berichte Nr. 11, 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

Zum Brexit: „Fröhlich der Unsicherheit entgegen“

Prof. Dr. Anthony Glees, u.a. Professor für Politik an der University of Buckingham und an der Brunel Universität, London, sagte Anfang 2016 bei den 20. Karlsruher Gesprächen1 folgenden (von der Autorin übersetzten) Satz: „Die EU ist ein Menü. Entweder sitzt Großbritannien am Tisch oder es steht auf dem Tisch.“ Joris Luyendijk2 stellt unter dem Titel „Britisches Armageddon“ fest: „Obwohl wir den Ausdruck immer noch benutzen, ist die EU schon lange nicht mehr nur ein ‚gemeinsamer Markt‘. Sie ist heute mehr und mehr eine ‚gemeinsame Volkswirtschaft‘.“ Er folgert: Nach dem Brexit verlassen entweder die Firmen, die in diese Volkswirtschaft eingebunden sind, Großbritannien, oder sie verlieren dieses Geschäft. „Das macht den Brexit so gefährlich: Er basiert nicht auf einer kühlen und rationalen Beurteilung der heutigen Welt. Die Brexit-Kampagne war eine Orgie aus Lügen und falschen Versprechungen, in deren Gefolge eine Mehrheit für eine Option stimmte, die gar nicht auf der Speisekarte stand: die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu behalten, ohne die zugehörigen Verpflichtungen zu erfüllen.“ Carolin Emcke von der „Süddeutschen Zeitung“ geht noch einen Schritt weiter: „In England und in Katalonien zeigen sich Variationen derselben eskapistischen Idee der Sezession, des Ausstiegs aus transregionalen oder internationalen Strukturen, und der Rückkehr in die überschaubare Provinzialität. So verschieden die kulturellen Bedingungen in den jeweiligen Ländern sein mögen, so verschiedenen auch die politischen Konstellationen, in denen sie diskutiert werden – hier die verhandelnde EU, dort der repressive spanische Staat –, die politischen Akteure ähneln sich in ihren erstaunlich planlosen Plänen einer freiwilligen Regression.“3 „The Economist“ stellt fest: „Entgegen der Erwartungen hielten sich die industriellen Investitionen gut seit der Brexit-Abstimmung.“ Der sieht kleinere britische Firmen unbeeindruckt vom Brexit, erkennt im Gegenteil Vorzüge für diejenigen, die nicht für den Export produzieren. Dass dies trägt, bezweifelt der „Economist“: „Die britische Wirtschaft marschiert fröhlich ins Ungewisse.“4 Dazu passt: Die Bank von England hat Anfang November erstmals seit zehn Jahren den Leitzins erhöht, die Abstimmung darüber war nicht einstimmig. Das Austrittsvotum im Sommer 2016 habe zu einem starken Wertverfall des britischen Pfunds geführt, in der Folge zu höheren Importpreisen und einem Inflationsschub. Die Arbeitslosenquote sei mit 4,3 % so niedrig wie seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr, die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten sei stark gesunken. (nach „FAZ“ vom 3.11.17).

Der oben schon zitierte Anthony Glees hoffte Anfang 2016 wie viele andere auch auf den anderen Ausgang des Referendums über den Brexit. Eigentlich ist er Fachmann für Sicherheitsfragen. Aus dieser Sachkenntnis heraus ist er recht verzweifelt über den Brexit, und zitiert Theresa May, „dass das Verlassen der EU nicht bedeutete, dass wir so sicher wären als wenn wir in der EU blieben. Außerhalb der EU haben wir keinen Zugang z.B. zum Europäischen Haftbefehl und zahlreichen anderen Regelungen, die Kooperation und Informationsaustausch ermöglichen.“5 Im aktuellen Stand der Verhandlung EU–Großbritannien ist die Gestaltung der zukünftigen Sicherheitspolitik einer der Punkte, die in der zweiten Phase angegangen werden sollten. Aber noch ist ein Ende der ersten Phase – eigentlich auf Mitte Dezember angedacht – nicht in Sicht. Das European Policy Center (EPC) schätzt die Lage bei den Verhandlungen in dieser Hinsicht so ein, dass beide Partner weiterhin eng zusammenarbeiten wollten, aber drei Unsicherheiten bestehen: „erstens die Positionierung Großbritanniens in globalen Angelegenheiten. Zweitens die Entwicklungen innerhalb der EU selbst. Drittens hänge alles an der Qualität der Trennung, ob gütlich oder unfreundlich.“

Die britische Regierung ist bei den Verhandlungen in einem echten Dilemma: „Ich glaube, die anderen 27 EU-Staaten wären geschockt, wenn sie realisierten, dass der von Boris Johnson angeführte Teil des Kabinetts noch nicht einmal wirklich verhandeln will“, meint Peter Mandelson, der ehemalige britische EU-Kommissar.6 Diese Spaltung innerhalb der konservativen Partei scheint das Hauptproblem für die wenig vorankommenden Verhandlungen zu sein. Die politische Opposition scheint im Moment keine wirkliche Stimme zu erheben – auch sie ist gespalten in der Trennungsfrage. Eva Detscher, Karlsruhe

[1] „Karlsruher Gespräche“, eine Veranstaltungsreihe des Zentrums für Angewandte Kulturwissenschaft (ZAK) am KIT, Karlsruhe

[2] FAZ vom 19.10.17: „Britisches Armageddon“

[3] Süddeutsche Zeitung vom 27.10.17: „Autonomie“

[4] The Economist, 9. September 2017: „Keeping calm and carrying on“

[5] Zitiert nach dem Aufsatz von A. Glees und J. Ridley-Jones: „Viewpoint: The Current Challenges to UK National Security and How They Might be Addressed“, Journal of the Australian Institute of Professional Intelligence Officers AIPIO | 2017 | Volume 25, Number 1

[6] FAZ vom 21.10.17: „Düstere Warnungen zum Brexit“