Aus Politische Berichte Nr. 6/2018, S. 03c • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Krise in Italien: Einige Bemerkungen zu einer Situation, wie es sie noch nie gegeben hat

Paola Giaculli, Berlin, 28. Mai 2018, ergänzt am 3. Juni 2018

28.5.18 Keine Regierungsbildung möglich

Staatspräsident Mattarella hätte berechtigte Gründe gegen die Entstehung der 5-Sterne-Lega-Regierung gehabt, insbesondere die verfassungsbedenkliche Infragestellung der Steuerprogression und die Errichtung einer Art Sozialstaat als exklusives Privileg für italienische Staatsangehörige nach dem Lega-Motto „Italiener zuerst“ (kostenlose Kita für italienische Familien, Bürgergeld von 780 Euro als Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit und Armut NUR für Italiener*innen). Laut Umfragen unterstützten 60 Prozent der Befragten den Koalitionsvertrag, der unter anderem die partielle Rücknahme der inhumanen Rentenreform von 2011 und eine Mindestrente von 780 Euro, Maßnahmen gegen die Korruption, die Umsetzung der EU-Umweltpolitik (Kreislaufwirtschaft) und die Rekommunalisierung des Wassers vorsieht. Wegen der absurd anmutenden Mischung aus „sozialen“ und unsolidarischen, fremdenfeindlichen Inhalten sowie versprochenen Steuersenkungen hätte der Vertrag (gefährlich) populär werden können.

Aber Mattarella hat ausgerechnet wegen der auch aus linker Sicht als berechtigt angesehenen Kritik an der EU-Währungs- und Fiskalpolitik seine Zustimmung verweigert, angeblich um die Ersparnisse der italienischen Familien vor einem möglichen Euro-Austritt in Schutz zu nehmen. Er hat sich dabei auf die Reaktionen der Märkte und Investoren in seiner gestrigen (27.5.) Erklärung bezogen.

Pro oder contra Europa – es geht rund

Insbesondere galt seine Kritik dem Ökonomen Paolo Savona, der bereits in den 90er Jahren Minister einer „Experten-Regierung“ (1993–94 unter Ministerpräsident Ciampi, ehemals Präsident der italienischen Zentralbank) und einer Berlusconi-Regierung (2005–06) war. In den letzten Jahren war Savona heftiger Kritiker der Euro-Konstruktion geworden. Kehrtwende am 27.2.: da hatte sich der Ökonom nicht nur zum Koalitionsvertrag, der keinen Euro-Austritt vorsieht, bekannt, sondern sogar eine „vollständige Umsetzung der Ziele des Maastrichter Vertrages und des Lissaboner Vertrages (z. B. wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt der EU)“ mit geeigneten Instrumenten „angesichts der in den letzten Jahren entstandenen Probleme“ gefordert. Dazu gehöre die Übernahme der Rolle einer Zentralbank durch die EZB zwecks Errichtung einer Währungsunion, die „unter Berücksichtigung der geopolitischen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte die Ziele der wirtschaftlichen Union verfolgt“.

Laut 5-Sterne-Chef Di Maio seien auch andere Ministervorschläge als Savona gemacht worden, die aber ebenfalls abgelehnt wurden. Salvini von der Lega soll sich andererseits gegen die Ernennung des institutionell bewanderten und pragmatischen Lega-Abgeordneten Giancarlo Giorgetti (früherer und aktueller Fraktionschef) als Finanzminister gewehrt und auf Savona bestanden haben. Laut Stefano Feltri in der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano sei Savona trotz seiner scharfen Töne gegen Deutschland in der Vergangenheit nicht so radikal wie viele andere Lega-Vertreter gewesen. Immerhin sei er Teil des Establishments und kein Amateur. Übrigens sei er aus anderen Gründen zu kritisieren (z.B. seiner Tätigkeit in Konzernen, die öffentliche Aufträge ohne Ausschreibung erhalten haben).

Der Koalitionsvertrag zu Europa

Nach Durchsickern eines ersten Entwurfs des Koalitionsvertrags war schlechte Stimmung wegen der Spekulationen zum Euro-Austritt. (Man erinnere sich nur an den Aufschrei allerorten: „Europafeindliche Koalition in Italien!“). Aber: die 5-Sterne haben in ihrem Wahlkampf und auch danach ausdrücklich einen Euro-Austritt immer wieder ausgeschlossen! Andererseits sprachen andere in der Lega weiterhin davon. In der endgültigen Fassung waren der Euro-Austritt und die Tilgung von 250 Milliarden Schulden kein Thema mehr. So steht im EU-Kapitel weiter: „Mit dem Willen zu einer Rückkehr zum ursprünglichen Ansatz, nach dem die europäischen Staaten für Frieden, Brüderlichkeit, Kooperation und Solidarität standen, halten wir es für notwendig, gemeinsam mit den EU-Partnern die Grundlagen der Wirtschafts- und Finanz-Governance zu revidieren (Währungspolitik, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Fiskalpakt, EMS, Verfahren gegen übermäßige makroökonomische Entwicklungen)“.

Wer profitiert?

Salvini scheint auf Neuwahlen gesetzt zu haben, um die Stimmen der Mitte-Rechts-Wählerschaft auf sich zu konzentrieren. Di Maios Regierungsfähigkeit wurde in Frage gestellt, wobei dieser tatsächlich ein echtes Problem hat: einerseits seine Bereitschaft, mit der Lega zu paktieren, andererseits weil er – anders als Salvini – die Amtsenthebung des Staatspräsidenten gefordert hat.

Matarellas Entscheidung könnte vor allem die Lega stärken und Ressentiments weiter schüren. Die Lega scheint die einzige Gewinnerin der Krise zu sein. Matarellas Warnung vor der Reaktion der Märkte, käme Salvini als Wirtschaftsminister zum Zuge, wurde von der Lega so umgedeutet, dass nicht die italienische Wählerschaft, sondern die Finanzmärkte über die Zukunft Italiens entscheiden würden. Der britische Politologe Jan Zielonka warnt, dass dies ein Todesurteil für die Demokratie sei, „ganz egal unter welcher politischen Fahne es ausgesprochen wird“. Nicht nur andere Politiker seien notwendig, sondern eine andere Politik.

Noch ist es nicht abzusehen, was nach einer erneuten, nicht gewählten, „Technokraten-Regierung“ passieren wird. Ein ehemaliger Regierungsberater, Carlo Cottarelli, der so genannte „Sparkommissar“ und ehemaliger Exekutivdirektor des IWF, hat am 28.5. den Auftrag von Mattarella erhalten, entweder eine parlamentarische Mehrheit für das Haushaltsgesetz bis Herbst zu finden (das hieße Neuwahlen Anfang 2019), oder im Fall fehlender Mehrheiten eine geschäftsführende Regierung bis zu Neuwahlen im Herbst zu führen.

3. Juni 2018: Erneuter Versuch

Nach einer abenteuerlichen Wendung hat sich Di Maio beim Staatspräsidenten wegen seiner Forderung nach dessen Amtsenthebung entschuldigt und Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dann kam es wieder zu einer Vereinbarung mit Salvini, der eigentlich bereits Neuwahlen gefordert hatte. Innerhalb weniger Stunden wurde eine politische Regierung präsentiert. Cottarelli soll bereits eine Ministerliste in der Tasche gehabt haben, aber keine Fraktion, die seine mögliche Regierung unterstützt hätte. Mattarella zeigte sich zufrieden, dass der vorgeschlagene Finanzminister jetzt nicht mehr Savona hieße, sondern Giovanni Tria, der zwar kritisch gegenüber der EU-Finanzpolitik und Euro-Konstruktion ist, aber moderater auftritt als Savona. Cottarelli gab also nach, und Mattarella designierte den Juristen Giuseppe Conte als Regierungschef zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen. Am 1. Juni wurde die erste „populistische“ Regierung „des Wandels“ in Italien vereidigt. Paradoxerweise fallen insbesondere „Establishment-Minister“ an wichtigen Posten auf. Der Ökonom Tria, der Finanzminister, arbeitete an einem früheren Wirtschaftsprogramm der Berlusconi-Partei Forza Italia mit, unterstützt Steuersenkungen und Mehrwertsteuererhöhung. Außenminister Moavero Milanesi war bereits zweimal EU-Minister in der Regierung Monti und Letta und gilt als Garantie für Staatspräsidenten Mattarella. Deswegen hat dieser vielleicht nichts gegen Savona als EU-Minister (ohne Befugnisse) gehabt, obwohl der Vorgang eigentlich schon erstaunlich ist. Es gibt zwei Vize-Premiers: Salvini (Innenminister) und Di Maio (Arbeits- und Wirtschaftsminister). Zu vermuten ist es, dass Premier Conte „der Diener zweier Herren“ (The Economist) sein wird. Besonders beklemmend ist Salvini als Innenminister und sein Parteifreund Fontana – ein Politiker identitärer Prägung – als Familien-und-Behinderten-Minister. Leider hatte bereits Salvinis Vorgänger Minniti (PD) das Asylrecht verfassungsbedenklich verschärft, Maßnahmen gegen Rettungsorganisationen beschlossen, gegen den Rechtsextremismus kaum gehandelt. Außerdem hat er die libysche Küstenwache und dubiose Milizen ausgerüstet, damit die Flüchtlinge zurück in die Lager zurückgebracht werden bzw. nicht daraus fliehen können. Der Partito democratico (PD) hat gegen die Regierung der „neuen Barbaren“ gewettert, aber nicht nur nichts dagegen unternommen, sondern durch ihre Weigerung, mit den 5 Sternen zusammenzuarbeiten und in der Pattsituation nach den Wahlen politisch Initiative zu ergreifen, mit beigetragen zur aktuellen Lage.

Die neue Regierung in Italien hat keine bedeutende, keine glaubwürdige Opposition. Neuwahlen hätten vermutlich Salvini gestärkt. In einer Umfrage vom 2. Juni liegt die Lega bei 28,5 Prozent (4. März: 17,5) und die 5 Sterne auf 30,1 (von 32,5). Die linksorientierte 5-Sterne-Wählerschaft scheint eher paralysiert und hilflos zu sein.