Politische Berichte Nr. 4/2020 (PDF)12
Aus Kommunen und Ländern

Quartiersentwicklung „von oben“: Die Bochumer Straße in Gelsenkirchen

01 dok:* Eine zentrale Zukunftsaufgabe: Revitalisierung des Quartiers im Stadtsüden.

02 dok:* Kreativ.Quartier Ückendorf: Kulturarbeit – Stadtentwicklung – Wirtschaftsförderung

03 dok:* Quartiersentwicklung „von oben“: Die Bochumer Straße in Gelsenkirchen

Thorsten Jannoff, Gelsenkirchen

Die Bochumer Straße in Gelsenkirchen ist eine „Problemstraße“, wie sie in ähnlicher Form in vielen deutschen Großstädten vorkommt, gerade im Ruhrgebiet. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg galt sie als Einkaufs- und „Prachtstraße Gelsenkirchens“.Das änderte sich schleichend mit dem Niedergang der Kohle- und Montanindustrie und dem damit verbundenen Verlust von Einkommen und Kaufkraft. Heute gehört der Stadtteil Ückendorf, in den die Bochumer Straße eingebettet ist, zu den ärmeren Stadtteilen in einer ohnehin schon armen Stadt.

Hinzu kommt ein ungünstiger Querschnitt. Die Bochumer Straße ist sehr schmal und muss zudem noch die Straßenbahnlinie 302 verkraften, die die beiden Gelsenkirchener Zentren Buer und Alt-Gelsenkirchen mit den Innenstädten von Wattenscheid und Bochum verbindet. Diese Verbindungsfunktion der Straße sorgt auch für einen hohen Autoverkehr und Lärm. Die meisten der alten Gründerzeithäuser befinden sich in einem schlechten baulichen Zustand und es gibt starke Leerstände. Ein Anteil von über 50 Prozent an Einzeleigentümern, die oft kaum erreichbar sind, hat es erschwert, dass EU-Programme wie die „Soziale Stadt Südost“ von 2003 bis 2013 greifen konnten. Es ist zu einer Abwanderung von höherwertigerem Einzelhandel und einer starken sozialen Entmischung rund um das gesamte Gebiet der Bochumer Straße gekommen.

Die Bochumer Straße hat aber auch einige Pluspunkte zu bieten. Sie ist verkehrstechnisch gut angeschlossen, befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof und der Innenstadt sowie von Grünflächen mit guter Anbindung an große regionale Grünzüge. Es gibt günstigen Wohnraum und in den Hinterhöfen viel Platz für Gewerbe. Außerdem befindet sich am Beginn der Bochumer Straße seit 25 Jahren auf dem Gelände eines alten Gussstahlwerks der Wissenschaftspark Gelsenkirchen, ein Wissens- und Technologiepark. Der Wissenschaftspark war ein Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) in den neunziger Jahren und gilt als erfolgreiches Symbol für den Strukturwandel. Direkt gegenüber gibt es seit einem Jahr eine Aufwertung des Bereichs durch den abgeschlossenen Neubau eines Justizgebäudes.

Strategischer Masterplan und Gründung einer Stadterneuerungsgesellschaft

Um die Strukturprobleme rund um die Bochumer Straße in den Griff zu bekommen, haben die Stadtplaner 2013 einen strategischen Masterplan auf den Weg gebracht, mit dem Leitbild eines lebendigen, multikulturellen und kreativen Zukunftsquartiers. Bereits zwei Jahre zuvor wurde die städtische Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen (SEG) gegründet, die vor allem für die Immobilienentwicklung dort zuständig ist. Mit dem Erwerb und der Entwicklung von Schlüsselimmobilien sollen andere Hauseigentümer motiviert werden, ihre Immobilien ebenfalls zu sanieren. Über die entsprechenden Fördermöglichkeiten können sie sich im Stadtteilbüro beraten lassen. Mittlerweile hat die SEG 25 Immobilien im Quartier erworben. Möglich ist das durch eine Sanierungssatzung, die der Stadt ein Vorkaufsrecht sichert. Die Häuser werden zum Teil günstig an Familien weiterverkauft, die sich dazu verpflichten, diese zu sanieren und für eine bestimmte Zeit dort wohnen zu bleiben. Die Finanzierung erfolgt durch die Vermarktung von Grundstücken am Buerschen Waldbogen, die die Stadt mit Billigung der Bezirksregierung Münster der SEG überschreiben und so verhindern konnte, dass die Erlöse im Haushaltsloch verschwinden. Auf dem Filetgrundstück am Rande des Stadtwaldes befand sich einst die Kinderklinik, die wegen der Fusion mit dem Bergmannsheil an einen anderen Standort im Stadtgebiet verlagert wurde. Mittlerweile sind dort mehr als 120 Grundstücke für den Bau von hochpreisigen Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen verkauft und zu einem großen Teil bebaut worden. Der Bebauungsplan beschränkt sich nicht auf das bereits verdichtete Gebiet der ehemaligen Kinderklinik, sondern bezieht auch eine landwirtschaftliche Nutzfläche mit ein. Vor einigen Jahren kam es deshalb in der linken Ratsfraktion in Gelsenkirchen zu einem uneinheitlichen Abstimmungsverhalten, weil ein Teil der Fraktion die ausgedehntere Flächennutzung nicht mittragen wollte. Auch eine Online-Petition auf change.org sammelte 456 Unterschriften gegen die Bebauung, die ansonsten wegen der Verknüpfung mit der Stadtentwicklung im Quartier Bochumer Straße einen breiten politischen Rückhalt fand.

Kommt jetzt die Gentrifizierung?

Durch die Stadtentwicklungsmaßnahmen und der Stärkung der lokalen Ökonomie mit Unterstützung der europäischen Ebene hat sich mittlerweile eine nicht mehr ganz kleine kreative Szene entwickelt, Leerstände werden wieder sinnvoll genutzt. Das Erscheinungsbild wandelt sich langsam und wird sich mit den nächsten beiden großen Projekten, dem Umbau der Heilig-Kreuz-Kirche als zentraler Veranstaltungsort und dem Umbau der Bochumer Straße (s. Kästen) noch einmal deutlich verbessern. Die Revitalisierung des Quartiers wird als Modellprojekt für die zukünftige Stadtentwicklung in ähnlichen Quartieren dienen, sind sich die Gelsenkirchener Stadtplaner sicher. Tatsächlich wird aus anderen Städten beobachtet, was sich dort tut, denn es geht um die Frage, inwieweit sich Quartiere „von oben“, als top-down-Projekt, entwickeln lassen. Das ist zwar immer so, denn Stadtplanung ist ohne administrative Maßnahmen undenkbar, aber wie sich ein Quartier mit Leben füllt, ist eine ganz andere Sache. Es braucht das Zusammenspiel vieler gesellschaftlicher Gruppen und Menschen „von unten“, damit sich ein Quartier mit eigenem Charakter entwickeln kann. Bisher läuft es eher gut an der Bochumer Straße und vieles ist besser als vorher, aber wie nachhaltig das Ganze ist, dazu ist insbesondere seit Corona keine Prognose möglich.

Von der berühmt-berüchtigten Gentrifizierung, wie es teilweise in der Linken befürchtet wird, mit all seinen positiven und negativen Folgen, ist das Quartier jedenfalls weit entfernt und es ist fraglich, ob es überhaupt so weit kommen wird. Dazu sind die Probleme im gesamten Stadtteil Ückendorf zu groß. Kritiker bemängeln deshalb auch die kleinteilige Konzentration auf das Quartier Bochumer Straße. Denn die zweite große Verkehrsachse im Stadtteil, die nur einige hundert Meter weiter parallel verlaufende Ückendorfer Straße, befindet sich in einem ähnlich schlechten Zustand. Allerdings sind die Mittel begrenzt und ohne dass sich die Ressourcen für die ganze Stadt Gelsenkirchen spürbar verbessern, wie etwa durch eine Altschuldenregelung, bleibt es generell schwierig. Obwohl seit 2007 in Gelsenkirchen rund 10 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze neu entstanden sind, ist die Armutsquote im selben Zeitraum von 21 auf 26 Prozent gestiegen. Das kann durch eine noch so gute Stadtentwicklungspolitik nicht aufgefangen werden.

Abb. (PDF): Blick auf die Bochumer Straße

Abb. (PDF): Lageplan

01

dok:* Eine zentrale Zukunftsaufgabe: Revitalisierung des Quartiers im Stadtsüden.

Mit der Revitalisierung des Quartiers rund um die Bochumer Straße leistet die Stadt Gelsenkirchen erneut Pionierarbeit: Die hier realisierte Stadterneuerung wird als Modellprojekt für die zukünftige Stadtentwicklung in vergleichbaren Quartieren dienen. Leitidee: Kultur, Wissenschaft und Bildung. Die Maßnahmen der Erneuerung konzentrieren sich auf den Kernbereich eines Gebiets von rund 30 Hektar entlang der Bochumer Straße … Hier leben heute rund 2800 Einwohnerinnen und Einwohner aus 35 Nationen. Die städtebaulich-räumliche Planung wird hier mit sozialen und ökonomischen Bausteinen verknüpft; das zugehörige Handlungsprogramm ist auf eine Laufzeit von rund 15 Jahren angelegt … Um die komplexen Aufgaben der Erneuerung vor Ort überhaupt bewältigen zu können, war es notwendig, altbewährte Mittel der Stadterneuerung, wie die städtebauliche Sanierungsmaßnahme nach dem Baugesetzbuch, durch passgenaue und innovative Instrumente wie den strategischen Masterplan und die eigens gegründete Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen (SEG) zu ergänzen.

02

dok:* Kreativ.Quartier Ückendorf: Kulturarbeit – Stadtentwicklung – Wirtschaftsförderung

Vom Halfmannshof im Westen bis zur Ückendorfer Straße und vom Junkerweg bis zur Gesamtschule Ückendorf dehnt sich das Kreativ.Quartier Ückendorf aus … Künstlerinnen, Künstler und Kreative aus aller Herren Länder entdecken das Quartier als Wohn- und Arbeitsort. Der neue Veranstaltungsort der Heilig-Kreuz-Kirche, der bis zu 700 Menschen Platz bieten wird, wird die neue Mitte des Quartiers – ergänzt durch die Unterbringung von sozialen und nachbarschaftlichen Angeboten und Projekten im Flügelbau der Heilig-Kreuz-Kirche. Zusätzlich schaffen der Wissenschaftspark sowie einige Immobilien der Stadterneuerungsgesellschaft SEG im Quartier Raum für junge Start-Up-Unternehmen.

International vernetzt: Internationale Vernetzung ist ein großes Thema für das Kreativ.Quartier Ückendorf. Gelsenkirchen ist hier ein aktives Mitglied bei ecce (european centre for creative economy), einem Produkt der Nachhaltigkeitsstrategien von Ruhr2010, ebenso wie bei n.i.c.e. (Network for Innovations in Culture and Creativity in Europe), einem europaweiten Verbund.

03

dok:* Das Projekt „Förderung der lokalen Ökonomie“ an der Bochumer Straße

soll die wirtschaftliche Entwicklung des Quartiers stärken. Im Fokus stehen die Beratung und Begleitung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, um stabile und nachhaltige Unternehmensentwicklungen im Stadtteil zu unterstützen. Aber auch die Ansiedlung von neuen Unternehmen und Selbstständigen im Stadtteil wird gefördert. Davon profitierten beispielsweise bereits die beiden IT-Start-Ups XignSys und Aware7, als sie sich im Sommer 2019 im Quartier ansiedelten. Des Weiteren werden in dem Projekt neue Immobiliennutzungen mit interessierten Nutzerinnen und Nutzern entwickelt.

Im Kreativ.Quartier Ückendorf kommt dabei der Erschließung und Ausgestaltung von Räumen für individuelle und kreative Nutzungsideen eine besondere Bedeutung zu, ebenso wie der Ansiedlung und Unterstützung von Unternehmen aus dem kreativ- und kulturwirtschaftlichen Bereich.

Abb. (PDF): dok:* Bei dem Abriss eines Wohnhauses an der Ecke Bochumer Straße/Virchowstraße wurde am 10. Mai eine geschichtsträchtige Fassade freigelegt. Der zum Vorschein gekommene Schriftzug, der in Anbetracht des Baujahres der niedergelegten Häuser ein Alter von mehr als 100 Jahren aufweist, bewirbt den Herrenausstatter Alexander, der sich ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes befand. Gleichzeitig ist die Wandreklame Zeugnis einer tragischen Familienbiografie aus Gelsenkirchen. Die jüdische Familie Alexander betrieb mehrere Bekleidungsgeschäfte, bis Vater Georg durch die Nationalsozialisten zur Geschäftsaufgabe gezwungen und inhaftiert wurde.

Abb. (PDF): dok:* Die Heilig-Kreuz-Kirche an der Bochumer Straße in Gelsenkirchen-Ückendorf wurde in den Jahren 1927-1929 nach Plänen des Architekten Josef Franke erbaut. Sie ist eines der spektakulärsten Kirchenbauwerke der frühen Moderne und als eines der Hauptwerke des Backsteinexpressionismus eines der Gelsenkirchener Baudenkmäler von überregionaler Bedeutung. Im August 2007 wurde sie außer Dienst gestellt.

* Die mit dok* gekennzeichneten Texte können über die folgende Webadresse der Stadt Gelsenkirchen erschlossen werden:

https://www.gelsenkirchen.de/de/infrastruktur/stadtplanung/stadterneuerung_gelsenkirchen/bochumer_strasse/