Politische Berichte Nr. 2/2021 (PDF)06
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Deutschland und EU halten Erdogan den Rücken frei

01 Dok: Hamburger Abgeordnete aus Grünen, SPD, CDU und Linken verurteilen HDP-Verbotsverfahren

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Ohne Rücksicht auf Verluste geht der türkische Präsident Erdogan und seine AKP-MHP-Regierung weiter auf dem Weg der Unterdrückung und Beseitigung jeglicher Opposition. Für den Machterhalt ist ihnen jedes Mittel recht. Von Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie bleibt auf diesem Kurs nicht viel übrig.

Jüngste Beispiele sind der Verbotsantrag gegen die HDP, der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention, die Festnahme von Parlamentariern, Menschenrechtlern und Oppositionellen. Das löst höchstens laue Statements auf Seiten der Bundesregierung oder der EU aus, von ihnen hat Erdogan keine Konsequenzen zu befürchten.

Vielmehr diskutieren hier Medien und Regierungen, dass beim Besuch von den EU-Repräsentanten in Ankara von der Leyen keinen Platz neben Erdogan bekam und sich weit entfernt auf ein Sofa setzen musste. Der italienische Premier Draghi bezeichnete Erdogan daraufhin als „Diktator“. Der Türkei-Berichterstatter im EU-Parlament, Nacho Sanchez Amor, meldete sich am 8. April dazu zu Wort. Er finde die „Sofa-Gate“-Affäre bedauerlich. „Die Sitze in der Türkei, um die ich mir wirklich Sorgen mache, sind die verlorenen der HDP-Abgeordneten und Bürgermeister.“ Zudem sorge er sich um die leeren Sitze in „Zeitungsredaktionen und Klassenzimmern“. (ANF, 9.4.2021) Zuvor hatten mehr als 30 EU-Abgeordnete gegenüber dem Besuch in Ankara verlangt, dass die Einhaltung von Menschenrechten, Lehrfreiheit an Universitäten und ein Gegenkurs zur nationalistisch, patriarchalisch und homophoben Türkei ganz oben stehen muss.

Drei Abgeordneten der HDP sind in der jetzigen Legislaturperiode das Mandat aberkannt worden: Leyla Güven, Musa Farisogullari und Ömer Faruk Gergerlioglu. Die HDP ist damit noch aktuell mit 56 Parlamentariern die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei. Gegen diese liegen aber ebenfalls Anträge zur Aufhebung der Immunität vor. Von den ursprünglich 67 Bürgermeister*innen ist seit 2019 der größte Teil abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt worden. 37 von ihnen waren unter „Terrorvorwürfen“ festgenommen worden, mehr als ein Dutzend ist noch inhaftiert.

Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise

Die Popularität der AKP und Erdogans beruhte im Wesentlichen auf der Wirtschaftspolitik aus den ersten Jahren der Regierung. Die Unterstützung der Klein- und Mittelbetriebe hatte zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse in den klerikal und konservativ geprägten ländlichen Regionen geführt. Dieser Aufschwung wurde aber mit Milliardenschulden aus dem Ausland und Leistungsbilanzdefiziten erreicht. Die Wirtschaftspolitik Erdogans heizt die Inflation an und verhindert eine Stabilisierung der türkischen Lira (TL), die nach der Entlassung des dritten Notenbankchefs seit 2019 im März um weitere 14 Prozent gegenüber dem Dollar einbrach. Damit hat die Lira seit 2018 rund die Hälfte ihres Werts gegenüber dem Dollar verloren.

Die Wirtschaftskrise hat viele kleinere und mittlere Firmen in den Konkurs gestürzt. Es wird in diesem Jahr eine deutliche Zunahme erwartet. Die Arbeitslosenquote erreicht fast 30 Prozent, was ca. zehn Millionen Menschen sind. (Telepolis 23.3.2021, FAZ, 7.4.2021) Acht Millionen Menschen sind so arm, dass sie ihre Krankenversicherungsbeiträge nicht zahlen können. Das bedeutet, dass sie ein Einkommen haben, das nicht einmal ein Drittel des Mindestlohns ausmacht. (Versicherungsstatistik, ANF 28.12.2020) Der Mindestlohn wurde für 2021 auf 2825,90 TL festgelegt. Das entspricht derzeit etwa 303 Euro. Der Gewerkschaftsdachverband KESK kritisiert, dass das viel zu niedrig ist und unter der Hungergrenze liege. Durch die Inflation sind Grundnahrungsmittel und andere Güter dermaßen im Preis gestiegen, dass die Menschen sich vieles gar nicht mehr leisten können. An einem Beschäftigten hängen in der Türkei meist ganze Familien mit mehreren Kindern. Laut einer Studie der HDP erhalten 60 Prozent der Lohnabhängigen nur den Mindestlohn oder sogar noch weniger. Das führt dazu, dass staatliche Sozialhilfen an 35 Prozent der Bürger*innen der Türkei ausgezahlt werden. (ANF, 28.12.2020, FAZ 7.4.2021)

Erdogan und die AKP müssen Machtverlust befürchten

Nach den letzten Parlamentswahlen war die AKP schon auf die faschistische MHP als einen Koalitionspartner angewiesen. Nach den derzeitigen Wahlumfragen können sich Erdogan und AKP nicht mehr einer Regierungsmehrheit sicher sein. Sollte die Opposition sich auf einen gemeinsamen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen einigen, hätte Erdogan das Nachsehen. Bei den letzten Kommunalwahlen zeigte sich, dass in den großen Städten die Oppositionsparteien HDP bzw. CHP die Wahlen gewann. In den kurdischen Provinzen hatte die HDP trotz heftigster Repression die Mehrheit. Erdogan reagiert entsprechend mit einer Verschärfung der Repression.

Tausende HDP-Mitglieder sitzen mittlerweile im Gefängnis. Der Verbotsantrag gegen die HDP und ein fünfjähriges Politikverbot gegen 678 Politiker*innen der HDP soll mit einem Schlag die Opposition spalten und den linken Teil handlungsunfähig machen. Das Verfassungsgericht lehnte den ersten Verbotsantrag ab, zu schlampig war er zusammengestellt worden. Die HDP bezeichnet den Verbotsantrag als einen zivilen Putsch der Regierung. Die AKP-MHP-Koalition habe ihre demokratische Legitimität verloren und greife nur noch auf Gewalt und Repression zur Machterhaltung zurück.

Gegen die kemalistische CHP richtet sich die Inhaftierung von zehn ehemaligen Admiralen, die gemeinsam mit 104 ehemaligen Generalstabsoffizieren in einem offenen Brief Erdogans Plan, das Bosporus-Schifffahrtsabkommen Abkommen zu verlassen, kritisieren.

Mit dem Ausstieg aus der europäischen Frauenrechtsabkommen, der Istanbul-Konvention, will Erdogan die islamistischen Kreise befrieden. Den Austritt begründete Erdogan mit homophoben Argumenten. Damit werden die tagtäglichen Frauenmorde in der Türkei legalisiert. – In Syrien, im Irak, in Berg-Karabach, in Libyen und in den kurdischen Provinzen führt die Türkei Kriege. Diese kosten Milliarden – Geld, dass die Türkei eigentlich nicht hat und auf Pump beschaffen muss. Die türkischen Truppen haben besonders bei ihren Invasionen in Syrien und im Irak große Verluste.

Erdogan versucht mit einer nationalistisch-islamistisch geprägten Propaganda und den immer wieder herausgestellten neo-osmanischen Traum von der Vormachtstellung der Türkei im Nahen und Mittleren Osten zu mobilisieren. Die Feindbilder, die er dabei entwirft, sind Kurden und PKK, Armenier, Liberalismus, christliche Kirchen, Europa – alles stehe gegen die Erben des Osmanischen Reiches.

Deutschland und EU stützen Erdogan

Im März sprachen sich die 27 Staats- und Regierungschefs der EU für weitere Milliarden Finanzhilfen zur Versorgung der syrischen Geflüchteten aus. Weiter wurden für eine Verlängerung des Flüchtlingsdeals der Türkei eine Ausweitung der Zollunion mit der EU und Visafreiheit für türkischen Staatsbürger in Aussicht gestellt. Dafür soll es auf unterer Ebene Gespräche zwischen der Türkei und Griechenland zur Beilegung des Gasstreits im Mittelmer geben. Ungeachtet der Missachtung von Menschenrechten und der Verschärfung des türkischen Kriegskurses in Syrien, Irak und Libyen reisten die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und EU-Ratspräsident Michel zu Verhandlungen nach Ankara in Erdogans Palast.

Zuvor hatte der deutsche Außenminister Maas bei seiner lauen Kritik am HDP-Verbotsantrag die HDP zu einer Distanzierung von der PKK aufgefordert. Damit übernahm Maas die Argumentation aus dem Verbotsantrag.

Zu wichtig ist Deutschland und der EU die Türkei als Außengrenze und Auffanglager für Geflüchtete und geostrategisch als Partner im Nahen und Mittleren Osten. Die Drohung Erdogans mit einer Kehrtwende nach Russland und China bewirkt weiteres.

In Deutschland werden die Proteste der türkischen und kurdischen Oppositionellen kaum wahrgenommen. Verfolgt werden weiter kurdische und türkische Linke, Stichwort Terrorismus, PKK und Paragrafen 129 und 129a.

Die Geschichte kann aber auch anders erzählt werden. In Köln finden seit drei Jahren jeden Montag Mahnwachen und Kundgebungen gegen die Verfolgung der Opposition in der Türkei und die Inhaftierung vieler statt. Damals ausgelöst durch die Inhaftierung und Anklage gegen zwei Kölner*innen in Istanbul: den freien Mitarbeiter einer linken Nachrichtenagentur Adil Demirci und die Sängerin, Filmemacherin und HDP-Unterstützerin Hozan Cane. Diese Mahnwachen haben bis heute große Unterstützung aus allen demokratischen Parteien und der Oberbürgermeisterin erhalten. Oder aber in Karlsruhe. Hier stellt sich der Oberbürgermeister öffentlich hinter die abgesetzten Amtskolleg*innen aus der Partnerstadt Van, wird keinerlei Beziehungen zu den Zwangsverwaltern aufnehmen und verlangt von der Bundesregierung Schritte gegen die Absetzung.

Abb. (PDF): Hunderttausende feierten Newroz 2021 und demonstrierten damit, was sie von einem Parteiverbot der HDP halten. Bild aus Van.

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Dok: Hamburger Abgeordnete aus Grünen, SPD, CDU und Linken verurteilen HDP-Verbotsverfahren

In der von Miriam Block (Die Grünen), Cansu Özdemir (Die Linke) und Ali Simsek (SPD) initiierten gemeinsamen Erklärung heißt es unter der Überschrift „71 Hamburger Abgeordnete fordern: Türkei muss zur Istanbul-Konvention zurückkehren! Abgeordnete gehören in Parlamente und nicht in Gefängnisse“:

„In den vergangenen Tagen wurden wir Zeugen dramatischer Ereignisse, die zu einer zugespitzten Entwicklung in der Türkei geführt haben. Am Samstagabend (20.3.2021) ist der türkische Präsident Erdogan per Dekret mit homophober Begründung aus der Istanbul-Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ausgetreten. Damit umging er das türkische Parlament, das die von Präsident Erdogan unterzeichnete Konvention im Jahr 2011 einstimmig (!) angenommen hatte. Zuvor wurde die Immunität des bekannten Menschenrechtsaktivisten und HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu aufgehoben. Daraufhin wurde er im Parlament auf dem Weg zum Morgengebet auf entwürdigende Weise verhaftet.

Am selben Tag wurde ein Verfahren zum Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei des Landes (HDP) eingeleitet … In mehreren Städten wurden erneut Oppositionelle verhaftet. Wir (Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft) stehen solidarisch an der Seite der Frauenbewegung in der Türkei und fordern Präsident Erdogan auf, zur Istanbul-Konvention zurückzukehren und sie vollständig umzusetzen. Wir verurteilen das HDP-Verbotsverfahren und fordern dessen sofortige Einstellung und die Freilassung der aus politischen Gründen Inhaftierten. Als Unterzeichnende stehen wir an der Seite der demokratischen Kräfte in der Türkei.“