Politische Berichte Nr. 2/2021 (PDF)27b
Diskussion – Dokumentation

Wer findet Gefallen an Wolkenkratzern?

Anmerkungen zur Hochhaus-Debatte in München

Hans Waschkau, München

Bereits in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift wurde darüber berichtet, dass derzeit in München über die zulässige Höhe von Hochhäusern gestritten wird.1 2004 hatte ein Bürgerentscheid Hochhäuser über 100 Meter untersagt und damit Pläne von Siemens und dem Süddeutschen Verlag für solche überhohen Bauten gestoppt. Die Mehrheit für die Höhenbegrenzung war allerdings recht knapp. Obwohl der Entscheid nur ein Jahr lang rechtlich bindend war, wurde er anschließend doch bei allen Bauvorhaben respektiert. Von der Stadtverwaltung und den großen Parteien in München ist das Ergebnis des Bürgerentscheids allerdings nie akzeptiert worden. Sie wollen nach wie vor, dass die Skyline von München mit Wolkenkratzern angereichert wird. Damit ihr Wunsch endlich umgesetzt wird, hat das Referat für Stadtplanung und Bauordnung eine Studie in Auftrag gegeben, die untersuchen sollte welche Standorte in München für Hochhäuser geeignet sind. Diese wurde als Entwurf im Januar 2020 vorgelegt.2 Die Hochhausstudie – immerhin über hundert Seiten lang – ist im Wesentlichen dem Auftrag auch nachgekommen. In Anbetracht des Bürgerentscheids hielten die Autoren es aber für erforderlich darzulegen, warum er aus ihrer Sicht nicht relevant sei. Dies ermöglicht Einblicke in die Gedankenwelt der Hochhaus-Befürworter, die Sachargumenten erstaunlich schwer zugänglich sind.

In dem Beitrag „Stadt und Land nicht entkoppeln!“ von Martin Fochler, der im Online-Magazin „Standpunkte“ 6./7.2020 des „MÜNCHNER FORUMs“ erschienen ist,3 hat der Autor darauf aufmerksam gemacht, dass die Hochhausstudie den Fokus weitgehend auf den Geschmack legt. Mag man Hochhäuser als vertikale Zeichen in der Stadt-Silhouette? Dürfen Investoren ihre Persönlichkeit frei entfalten durch Bauwerke, die ihrem Ego schmeicheln und die zugleich eine hohe Rendite versprechen? Oder fühlt man sich durch überragende Bauten erschlagen und hält sie für eine Verschandelung des Stadtbildes? Die Autoren der Studie und offensichtlich auch deren Auftraggeber vertreten den ersten Standpunkt und bezeichnen den Geschmack ihrer Gegner als Polemik. Martin Fochler bemerkt treffend: „Über Geschmack lässt sich streiten, aber nicht diskutieren.“ Er fordert zurecht dazu auf sachlich zu diskutieren, welche Bauten München und der Siedlungsverbund mit dem Umland benötigt.

Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf den Geschmack zu werfen. Denn der Geschmack entscheidet, wie sich ein Mensch sein Leben einrichtet, welchen Lebensstil sie oder er verfolgt. Dabei geht es um Merkmale wie das Haus oder die Wohnung, in der die Menschen leben. Mit welchen Möbeln ist der Wohnraum eingerichtet? Welche Gemälde oder Bilder hängen dort an der Wand? Wie ist man oder frau gekleidet? Welche typischen Merkmale zeigen sich bei der Sprechweise? Welche Auto-Marke oder auch welches Fahrrad wird gefahren? Welche Sport- und welche Musikvorlieben existieren? Es gibt noch viele derartiger Merkmale.

Von dem französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu (1930-2002) stammt die Entdeckung, dass die Gesellschaft in verschiedene Milieus aufgeteilt ist, die jeweils über einen gemeinsamen Lebensstil miteinander verbunden sind.4 Obwohl das Leben individuell ganz unterschiedlich ausgestaltet werden kann, erkennen sich die Mitglieder eines Milieus untereinander, weil sie sich in der Lebensauffassung und in der durch den Geschmack erzeugten Lebensweise ähneln. Allerdings sind die Grenzen zwischen den Milieus fließend. Und es ist auch möglich, dass die Mitglieder von verschiedenen Milieus Gefallen an der gleichen Sache finden.

Während sich die Mitglieder eines Milieus untereinander am gleichen Lebensstil erkennen, grenzen die verschiedenen Milieus sich über den Geschmack voneinander ab, mitunter stehen sie sich sogar feindselig gegenüber. Eine hohe soziale Position kann durch Statussymbole wie Designer-Uhr oder SUV demonstriert werden. Und zu solchen Statussymbolen gehören auch Hochhäuser, z.B. der Besitz einer Wohnung ganz oben oder das Gefühl, der Erbauer zu sein. Aber auch ohne eine persönliche Beziehung können Leute, die Hochhäuser cool finden, sich an dem Gefühl berauschen, selber so groß und bedeutungsvoll wie diese Häuser zu sein.

Die Hochhausstudie zeigt, dass in München mit dem Wunsch nach überragenden Bauten die Vorstellung verbunden ist, in einer sehr bedeutenden Stadt zu leben. Sie behauptet: „München wächst. Die Stadt prosperiert. Sie hat sich als eines der wichtigsten Wirtschaftszentren Europas etabliert.“5 Leider stimmen Gefühl und Realität nicht immer überein. In Deutschland gibt es keines der wichtigsten Wirtschaftszentren von Europa. Berlin hat die Chance durch die deutsche Teilung verpasst. Das Ruhrgebiet hat diese Bedeutung durch das Ende der Kohle-Förderung und dem Niedergang der Stahlindustrie verloren. Da im Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen (bis 1806) der Zentralstaat schwach und die Teilstaaten stark waren, haben sich mehrere wirtschaftsstarke Metropolen entwickeln können, von denen aber keine dominierend ist. Gerade das macht die ökonomische Stärke Deutschlands aus, da die verschiedenen Regionen sich viel gleichmäßiger entwickelt konnten als in Ländern mit einer übermächtigen Hauptstadt.

Wie albern die Mär von München als eines der wichtigsten Wirtschaftszentren Europas ist, zeigt die Behauptung in der Hochhausstudie, Sydney und Rio de Janeiro seien „internationalen Konkurrenten“ von München.6 Konkurrenz setzt voraus, dass es Menschen gibt, die sich überlegen, ob sie etwas lieber in der einen oder in der anderen Stadt machen wollen. Was denn sollte das bei Sydney und München sein? Bei Rio und München fallen einem immerhin der Karneval und das Oktoberfest ein. Event-gesteuerte Menschen sehen das aber wohl eher als Ergänzung, da der zeitliche Abstand erheblich ist. Hätte die Studie Paris, London oder Moskau als Konkurrenten genannt, wäre das einfach nur lächerlich und hätte den Blick auf die tatsächliche Größe Münchens gelenkt.

Immerhin deutet der Vergleich von München mit Sydney und Rio de Janeiro darauf hin, was da in den Köpfen abläuft. Die Hochhausstudie richtet sich an Menschen aus Milieus, denen durch die Globalisierung die ganze Welt offensteht. Bei ihnen richtet sich die eigene, selbst wahrgenommene Bedeutung nach der Größe der Welt, in der sie Einfluss nehmen können. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die hohe Bezahlung von Arbeit im Ausland. Drei Jahre Einsatz in China sind bereits ein großer Schritt zu einer Eigentumswohnung. Imponierende Hochhäuser in der Heimatstadt sind für diese Milieus ein Signal an die Welt: Wir hier in München sind in der globalisierten Welt angekommen und wollen auch das große Rad drehen.

Leider nutzt die Globalisierung nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft. Auch in diesem Spiel gibt es bekanntlich Gewinner und Verlierer. Und gegenüber den Verlierern bedeutet der Geschmack an Hochhäusern eine klare Ansage: Wir sind groß und mächtig! Ihr seid klein und unbedeutend! Extrem große Hochhäuser wirken damit polarisierend. Wohin es führen kann, wenn sich die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer der Globalisierung verfestigt, hat die Wahl von Trump in den USA oder auch die Wahl zwischen van der Bellen und Hofer in Österreich gezeigt.

Gewinner wollen alles nehmen

Die Hochhausstudie zeigt deutlich, dass sich in München innerhalb der Gewinner-Milieus die Auffassung durchgesetzt hat, die Meinung der Verlierer spiele keine Rolle. Das ist für die Demokratie in der Stadt bedenklich. In Anbetracht des Bürgerentscheids von 2004, der Hochhäuser mit mehr als 100 Metern untersagt hat, wäre es nahliegend gewesen zu untersuchen, ob sich an der damaligen Situation etwas geändert hat, was zu einem Umdenken führen könnte. Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt ignoriert aber den Willen der damaligen und nach Umfragen wohl auch der heutigen Mehrheit. Es ist schon dreist, eine Studie in Auftrag zu gegeben die vorschlagen soll, wo denn in München am besten Hochhäuser gebaut werden könnten.

Um sich über die Meinung der mutmaßlichen Mehrheit hinwegsetzen zu können, setzt die Hochhausstudie auf Management-Methode „Vermittlung und Kommunikation“:7 „Der nun vorliegende Entwurf der Hochhausstudie sollte genutzt werden, um das Hochhaus durch geeignete Vermittlung und Kommunikation wieder zu einem objektiv diskutierten Element der städtebaulichen Weiterentwicklung Münchens machen.“ Da sich die Autoren der Hochhaustudie im Besitz der objektiven Wahrheit wähnen, muss dabei natürlich ihre Meinung durchgesetzt werden. „Der Bautyp Hochhaus kann dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln gesehen werden, etwa im Bewusstsein des allgemeinen Stadtwachstums von München, als Chance für Innovation und neue Identifikationsorte, als Beitrag zum Stadtimage oder als selbstverständlicher Stadtbaustein.“

Für die genaue Ausgestaltung soll sogar ein „Diskussions- und Beteiligungsprozess“ unter Einbeziehung der breiten Stadtöffentlichkeit stattfinden. Dabei wird darauf gesetzt, dass jemand der mitgestalten kann, sich mit dem Ergebnis identifiziert, auch wenn sie oder er eigentlich dagegen war. Diese Methode ist aber risikoreich, da nicht ganz sicher ist, ob wirklich das gewünschte Ergebnis dabei herauskommt. Deshalb muss die öffentliche Debatte vorgeformt werden: „Für die Information der Stadtgesellschaft und für die Möglichkeit zur Mitgestaltung sollten bewährte Ansätze der Öffentlichkeitsarbeit durch eine koordinierte PR, inkl. Einbezug neuer Kanäle, wie soziale Medien unterstützt werden.“

Und wenn XXL-Hochhäuser erst einmal da sind, werden sich die Leute schon dran gewöhnen: „Hochhäuser können nur funktionieren und akzeptiert werden, wenn sie ein alltäglicher Teil der Stadt werden. Bereits heute gibt es eine große Zahl an Hochhäusern in München, meist im näheren Wohn- und Arbeitsumfeld jedes Stadtbewohners. Diese Hochhäuser werden als selbstverständlicher Teil der Stadt wahrgenommen.“8

Nachbargemeinden

Extreme Hochhäuser sind nicht nur gegenüber den Einwohnern Münchens, sondern auch noch in einer anderen Richtung eine klare Ansage. Dem Umland von München wird signalisiert: Wir sind Weltstadt! Mit der Provinz wollen wir nichts zu tun haben! In der Hochhausstudie kommen die Nachbargemeinden praktisch nicht vor, was symptomatisch für das Verhältnis der Landeshauptstadt zu ihrem Umland ist. „Als kleine Residenzstadt angelegt, wird sich München weiter verändern müssen, um für die zunehmende Zahl an Einwohnern genügend Wohn- und Arbeitsraum zur Verfügung stellen zu können. Es wird notwendig sein, den bestehenden Stadtraum dichter zu nutzen …“9 Dabei müssen die Wachstumsprobleme Münchens gemeinsam in und mit der gesamten Metropolregion gelöst werden, wenn die Lebensqualität in der Landeshauptstadt nicht leiden soll.

In der Hochhausstudie taucht das Umland nur an einer Stelle indirekt auf, indem das barocke Schloss in der nördlichen Nachbargemeinde Oberscheißheim „zum geschützten Teil des Stadtbildes“10 von München erklärt wird. Wie aber würden die von der Studie propagierten Hochhäuser im Münchner Norden den Schleißheimer Schlosspark beinträchtigen? Das interessiert die Autoren der Studie nicht, während sie für den im Münchner Gemeindegebiet gelegenen Nymphenburger Schlosspark darlegen, dass der Anblick von Hochhäusern den Eindruck von Natur zerstören würde.

Wohin es führen kann, wenn sich eine Stadt vom Umland abkoppelt, hat die Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich gezeigt, die unter anderem auch ein Votum gegen die Welt-Metropole London war. In München allerdings sind die Bewohner mehrheitlich gegen eine Entwicklung der Stadt auf Kosten des Umlandes, wie ein Bürgerentscheid 2012 gezeigt hat, in dem eine dritte Start- und Landebahn für den Münchner Flughafen abgelehnt wurde. Der Ausbau des Airports hätte die Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt Freising drastisch reduziert.

Die Münchner Stadtverwaltung sowie die großen Parteien glauben offensichtlich, dass die Kommune wie ein modernes Unternehmen geführt werden muss. Die Umlandgemeinden sind in dieser Sichtweise Konkurrenten, gegenüber die man auftrumpfen muss, um Einwohner und Gewerbesteuer-Zahler zu gewinnen. Und die Bürger sind Untergebene, die durch Angebote zur Mitgestaltung für die gesetzten Ziele zu motivieren sind. Es wäre wünschenswert, wenn die Erfahrungen der freien Wirtschaft mit solchen Management-Methoden berücksichtigt würden. So ist es etwa fatal für eine industrielle Fertigung, wenn in einer Krisensituation den Zulieferern der Konkurs droht. Und Mitgestaltungsangebote an Untergebene, bei denen das Ergebnis bereits vorgegeben ist, führen zu Apathie.

Von den großen Parteien, die Hochhäuser ohne Obergrenze befürworten, haben lediglich die Grünen den Anstand, einen erneuten Bürgerentscheid zu fordern. Die SPD, die das arrogant ablehnt, braucht sich nicht zu wundern, dass ihre Stimmenergebnisse bei Wahlen in den Keller gehen. Die CSU dagegen riskiert bei Anbiederung an die Münchner Globalisierungsgewinner, dass das Vertrauen untergraben wird, sie könne Stadt und Umland gleichmäßig und zum beiderseitigen Vorteil entwickeln.

Die Hochhausstudie suggeriert durchgehend, dass es um die Frage gehe, ob Hochhäuser gebaut werden dürfen oder nicht. In Wirklichkeit wird aber darüber gestritten, ob eine Höhenbegrenzung gelten soll. Eigentlich war die Grenze von 100 Metern, die der Bürgerentscheid gesetzt hatte, ein durchaus fairer Kompromiss zwischen den fast gleich großen Lagern von Hochhaus-Befürwortern und -Gegnern. Architekten und Investoren können sich auch durch Bauten ohne Überlänge ein Denkmal setzen, indem sie diese schön und originell gestalten. Dazu müssten sie sich allerdings schon etwas einfallen lassen Zumindest bei den Hochhäusern, die seit 2004 entstanden sind, wurde diese Chance nicht genutzt. Der Lebensstil von global orientierten Milieus kann aber sogar mit kleinen Bauwerken ausgedrückt werden.

Das zeigt das Gebäude „Werk12“ im Münchner Werksviertel, das vier Stockwerke (+EG) hoch ist. Anfang 2021 erhielt es den DAM-Preis als „bestes Bauwerk des Jahres“ 2020 von dem Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt. Mehr Kreativität in diese Richtung würde der Münchner Bausubstanz guttun. Solche Bauten werden sicher nicht jedem gefallen, aber von allen toleriert werden. Sie passen in einen so hippen Stadtteil wie dem gerade entstehenden Werksviertel, ohne gleich die gesamte Stadt zu dominieren.

Abb. (PDF): Moderne Architektur ohne Größenwahn: Werk12 im Münchner Werksviertel. Foto: H.W.

(1) Politische Berichte Februar 2021 S. 11f „München: Eine Stadt sucht ihre Bestimmung“ (2) Hochhausstudie München (Entwurf) 21.1.2020, Bearbeiter: 03 Architekten GmbH, im Auftrag des Referats für Stadtplanung und Bauordnung, https://www.ris-muenchen.de/RII/RII/DOK/SITZUNGSVORLAGE/5863401.pdf (3) Online-Magazin „Standpunkte“ 6./7.2020 des „MÜNCHNER FORUMs“ (Diskussionsforum für Entwicklungsfragen e.V.) S. 11ff. Der Beitrag wurde auch in der Zeitung aus der Politischen Gruppe Die Linke im Stadtrat „Mit LINKS für ein solidarisches München“ veröffentlicht (S. 34ff). (4) Die Analyse stammt aus „Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“, Pierre Bourdieu, Erste Auflage 1987, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 658, Originalausgabe „La distinction, Critique sociale du jugement“, Paris 1979 (5) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 5 (6) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 11 (7) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 99 (8) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 7 (9) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 5 (10) Hochhausstudie (Entwurf) a.a.O. S. 26

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