Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)14
Aus Kommunen und Ländern

Diskussionsveranstaltung „Solidarisch durch die Krise“ – Linke Essen will Vernetzung vor Ort fördern

Was kann auf kommunaler Ebene gegen die massiven Folgen von Krieg, Krise und Inflation getan werden? Wie kann der sozialen Spaltung und der steigenden Armut entgegen gewirkt werden? Dies waren die Leitfragen einer gemeinsamen Diskussionsveranstaltung von Partei und Stadtratsfraktion Die Linke in Essen Mitte November.

Gabriele Giesecke, Essen

Wolfgang Freye, Sprecher des Kreisverbandes Die Linke, skizzierte zum Auftakt kurz die sogenannten Entlastungspakete der Ampelkoalition. Dass die größten Entlastungen bei den geplanten Gas- und Strompreisbremsen ausgerechnet die besser gestellten Teile der Bevölkerungen besonders begünstigen, sei sozial ungerecht und vertiefe die soziale Spaltung. Sowie überhaupt erst gesellschaftlicher Druck dafür gesorgt habe, dass Gruppen wie die Rentnerinnen und Rentner und Studierende die Energiepauschalen erhalten. Steigende Energiepreise träfen aber auch kleinere und mittlere Betriebe, Wohlfahrtseinrichtungen, Vereine etc. zum Teil existenzbedrohend. Steigende Kosten verstärkten aber auch die finanzielle Notlage der Stadt Essen – die bisher angekündigten Hilfen sind hier völlig unzureichend. Die Linke Essen wolle mit der Veranstaltung zur Vernetzung derjenigen Akteure beitragen, die mit den sozialen Folgen der Krise direkt konfrontiert sind. Sinnvoll sei aus Sicht der Linken die Wiederbelebung des Sozialforums Essen, um Maßnahmen gegen die soziale Schieflage zu entwickeln und einzufordern.

Dieter Hillebrandt, Vorsitzender der DGB-Region Mülheim, Essen, Oberhausen, machte mehrere Ursachen für die aktuelle Preisentwicklung aus: 1. Der notwendige, überfällige Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft zur Abfederung des Klimawandels kostet sehr viel Geld. Das bekannte Problem wurde Jahrzehnte verschlafen. Dies bringt erhebliche Folgekosten mit sich, z.B. die Beseitigung der Schäden der Flutkatastrophe im Ahrtal. 2. Die Corona-Pandemie hat die Kosten im Gesundheitswesen aber auch insgesamt in der Arbeitswelt nach oben getrieben. Er verwies darauf, dass dort, wo Gewerkschaften und Betriebs-/Personalräte in den Betrieben stark sind, der Schutz der Beschäftigten auch in der Pandemie gegriffen hat. So seien neben gesundheitlichen Schutzmaßnahmen z.B. auch betriebliche Zuschläge durchgesetzt worden. 3. Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wird die Krise jetzt noch verstärkt. Deshalb sei es wichtig, soziale Bündnisse zu bilden und bestehende Bündnisse zu verstärken. So unterstütze der DGB weiterhin das lokale Bündnis für bezahlbaren Wohnraum in Essen. Insgesamt allerdings fehle ihm die „Phantasie“, wie den sozialen Verwerfungen wirksam entgegengetreten werden könne. Die „Sozialneid-Debatte“, die insbesondere Wirtschaftsverbände und CDU/CSU jetzt gegen die durchaus kritikwürdige Bürgergeldreform der Ampelkoalition anzetteln, wies er zurück. Reflexartige Proteste seien aus seiner Sicht allerdings nicht zielführend, es brauche auch neue Ideen für den sozialen Ausgleich.

Für die Wohlfahrtsverbände in Essen rückte Oliver Kern, Geschäftsführer der AWO Essen, vor allem den drohenden Kollaps bestehender Institutionen wie Kitas, Schulen, offener Ganztag und Einrichtungen des Gesundheitswesens in den Blick. Hier haben die Belastungen der Corona-Pandemie das hauptamtliche Personal an den Rand der Belastbarkeit geführt. Dies gelte auch für die etwa 1 000 ehrenamtlich tätigen Menschen, die sich in Essen allein im Umfeld der AWO engagieren. Ein besonderes Problem stellen die steigenden Energiekosten für den Weiterbetrieb der Hilfeeinrichtungen dar. In einem reichen Land wie Deutschland könne Geld eigentlich nicht das Problem darstellen, allerdings führe die Abkopplung „der Politik von den Menschen“ zunehmend zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung.

Lars Martin Klieve, Geschäftsführer der 51% kommunalen Stadtwerke Essen (SWE), konzentrierte sich zunächst auf die Darstellung des Gasmarktes und streifte nur am Rande den Strommarkt. Die SWE sind in Essen Grundversorger für Gas, für Strom ist dies der E.ON-Konzern. Durch die langfristige Beschaffungspolitik der SWE werden die deftigen Preissteigerungen erst mit Zeitverzug bei den Kunden ankommen. Kritisch äußerte sich Klieve (er hat ein CDU-Parteibuch) zur Politik der Bundesregierung. So sei die aus seiner Sicht unsinnige Gas-Umlage zwei Tage vor ihrem Inkrafttreten am 1.10.2022 zurückgezogen worden – die internen umfangreichen Vorbereitungsarbeiten seiner Mitarbeitenden waren so überflüssig. Dies habe für Frustration in der Belegschaft gesorgt, da die Belastungen z.B. durch einen deutlich höheren Beratungsbedarf der Kunden sowieso ständig steigen. Klieve sprach sich deutlich gegen ein Verbot von Strom- und Gassperren aus. Die bisherigen Hilfen für Kunden, wie Stundungen durch den Versorger oder vorübergehender Sozialleistungsbezug seien ausreichend. Er verwies darauf, dass ein zehnprozentiger Forderungsausfall zu Mindereinnahmen von 28 Mio. Euro bei den SWE führen würden – dies könnten die Stadtwerke nicht aus eigener Kraft stemmen.

Bernt Kamin-Seggewies, stellvertretender Bezirksgeschäftsführer Verdi Ruhr West, beleuchtete schwerpunktmäßig die Situation der ca. 10 000 Beschäftigten der Stadtverwaltung Essen. Die Arbeitsbelastung der Beschäftigten sei in den letzten Jahren noch mal gestiegen. Hier wirkt vor allem der vor zehn Jahren gefasste Beschluss des Stadtrates, 1 000 Stellen abzubauen, nach, auch wenn er nicht vollständig umgesetzt wurde. Allein die Ausweitung der Wohngeldberechtigten ab 1.1.2023 erfordere 25 zusätzliche Stellen im Wohngeldamt. Bisher sind diese Stellen nicht besetzt und selbst wenn, dauere es, bis die Einarbeitung erfolgt sein. In der Folge sei damit zu rechnen, dass Anspruchsberechtigte monatelang auf ihr Geld warten müssten – unzumutbar in der jetzigen Situation. Darüber hinaus seien Stellenbesetzungen sowieso schwierig, hier wirke sich der Fachkräftemangel aus. Dies gelte auch für die Gewinnung von Auszubildenden. Verdi fordere daher u.a. erleichterte Zugangsbedingungen für Tätigkeiten im öffentlichen Dienst und sei zu Gesprächen dazu bereit. Eine weitere Aufgabe sei die Durchsetzung einer zeitgemäßen Entlohnung, die in den nächsten Tarifverhandlungen einen Schwerpunkt bilden werden. Ohne eine Stärkung der kommunalen Finanzkraft ließen sich die Herausforderungen nicht bewältigen. Insbesondere im Ruhrgebiet müsse die Altschuldenproblematik gelöst werden. Er verstehe, dass viele Menschen Angst vor ihrer Zukunft haben. Ein Automatismus, dass sie deshalb nach Rechts rücken, sei aber nicht gegeben, wenn ihre Anliegen z.B. durch die Arbeit der Stadtverwaltungen beachtet würden. Deshalb sei die Lösung der Altschuldenproblematik insbesondere der Kommunen im Ruhrgebiet drängend, um die Handlungsspielräume zu erweitern.

In der AWO-Schuldenberatung beobachten die Berater*innen eine Veränderung der sozialen Herkunft der Ratsuchenden. Immer stärker kommen Menschen aus der unteren Mittelschicht, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren können, so berichtete die Leiterin Katharina Fey. Beängstigend sei auch, dass „klassische“ Hilfen, wie das Aufstellen von Haushaltsplänen, nicht mehr greifen, da die Einsparpotentiale von den Hilfesuchenden bereits ausgeschöpft seien. Deshalb seien direkte Hilfen zielgenauer an einkommensschwache Menschen nötig. Sie forderte mehr Anstrengungen in der Präventionsarbeit, z.B. sollte die finanzielle Bildung in den Schulen endlich einen angemessenen Stellenwert erhalten.

Als letzte im Reigen schilderte Siw Mammitzsch vom Verein Mietergemeinschaft die aus ihrer Sicht dramatische Entwicklung. Es gibt einen deutlichen Anstieg der Beratungsanfragen zu den unterschiedlichsten Bereichen, der von dem kleinen Verein kaum zu bewältigen sei. Viele Menschen kämen mit ihren Betriebs- und Heizkostenabrechnungen, die z.T. die Grundmiete überstiegen und die ihre finanziellen Möglichkeiten erheblich übersteigen. Beratung suchen Leute auch bei Mieterhöhungen. Allein in den letzten vier Jahren ist der Mietspiegel in Essen um 16 % gestiegen und vor allem die großen Wohnungsgesellschaften wollten diesen Anstieg auch durchsetzen. War in Essen und dem Ruhrgebiet insgesamt der Wohnungsmarkt bis vor ein paar Jahren noch relativ entspannt, so führt die gestiegene Nachfrage vor allem durch den Zuzug geflüchteter Menschen dazu, dass jetzt auch lange „nicht vermietbarer“ Wohnraum vermietet werden kann. In der Folge suchen auch hier Menschen vermehrt Beratung, weil die Wohnungen z.B. durch Schimmel und andere Mängel unbewohnbar sind. Skandalös ist aus ihrer Sicht, dass die städtische Wohnungsaufsicht selbst in akuten Fällen mehr als sechs Wochen braucht, bis sie einschreitet.

In der anschließenden Diskussion beteiligten sich viele der etwa 45 Besucherinnen und Besucher. Neben allgemeinen Forderungen an stärker an den Bedürfnissen der unteren Einkommensgruppen ausgerichteten Politik der Bundesregierung kamen auch Anforderungen an die lokal Verantwortlichen zur Sprache. So sollte die Stadtverwaltung besser ausgestattet werden, um insbesondere die Sozialleistungen besser und schneller auszuzahlen. Die im Zuge der Corona-Pandemie stark eingeschränkte Erreichbarkeit des Jobcenters wurde dabei als besonders problematisch herausgestrichen. Es braucht aber auch mehr niederschwellige Beratungsmöglichkeiten in den Stadtteilen. Viele Menschen wüssten einfach nicht, wo sie Hilfe erhalten könnten. Eine bessere Vernetzung der bestehenden Angebote war ebenfalls unstrittig. Wer hier aber wie vor Ort tätig werden kann und will, blieb letztlich im Vagen. Ebenso vage blieb die Schaffung eines wirksamen Sozialbündnisses auf lokaler Ebene. Hier bedarf es weiterer Anstrengungen.

Diese Aufgaben in Essen auf die Tagesordnung gesetzt zu haben, ist das Verdienst der Linken Essen.

Abb. (PDF): Veranstaltung. Podium: Von links nach rechts: Dieter Hillebrandt, Vorsitzender der DGB-Region Mülheim, Essen, Oberhausen; Siw Mammitzsch, Mietergemeinschaft Essen; Oliver Kern, Geschäftsführer der AWO Essen; Katharina Fey, Leiterin der AWO-Schuldnerberatung; Bernt Kamin-Seggewies, stellvertretender Bezirksgeschäftsführer Verdi Ruhr West; Lars Martin Klieve, Geschäftsführer Stadtwerke Essen (SWE)