Quelle: Politische Berichte Nr. 5, Mai 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT H O M E

Die Türkei nach dem Referendum

Dok: Erklärung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vom 18. April 2017

Beim Referendum über die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei stimmten laut Wahlkommission 51,4 Prozent für und 48,6 Prozent gegen die neue Verfassung.

Die spärlich vorhandenen Wahlbeobachter der OSZE, des Europarats und einzelne Europa- und Bundestagsabgeordnete berichteten von massiven Behinderungen und Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang. Einsprüche von HDP, CHP und Tausender Privatpersonen wurden von der Wahlkommission abgelehnt. Die Behörden, Justiz und Polizei oder Wahlkommission sind heute fest in der Hand von Erdogan, AKP und MHP, also dem Ja-Lager.

Von morgens bis abends waren Präsident Erdogan und AKP-Regierungspolitiker medial vorhanden. Er präsentierte sich als Garant für wirtschaftlichen Aufschwung und Sicherheit, Frieden und Stabilität. Er sagte, wir brauchen keine EU, die Türkei ist selber mächtig und dürfe nicht mehr vom Westen gegängelt werden. Nur mit ihm würde die Türkei alle Probleme lösen. Mit solchen nationalistischen Parolen erreichte er viele Wähler in der durch Wirtschaftskrise, Kurdenkonflikt, IS und Syrienkrieg schwer verunsicherten Türkei. Mit dem „Wir Türkei“ gegen die Anderen – ob Nein-Stimmer, Kurden oder EU – polarisierte er erfolgreich. Ein ähnliches Muster wie Trump in den USA.

Die Opposition hatte fast gar keine Gelegenheit dazu. 13 Abgeordnete der HDP und Tausende Funktionäre, darunter fast ihr ganzes Führungspersonal, sind inhaftiert, von über 100 Bürgermeistern sind ebenfalls über 90 im Gefängnis. Eine freie Berichterstattung in den Medien war nicht möglich, da 150 oppositionelle Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten sowie Internetzeitungen verboten sind und zahlreiche Medienschaffende im Gefängnis einsitzen. Auch Veranstaltungen und Werbung für ein Nein beim Referendum unterlagen zahlreichen Verboten. Eine halbe Millionen Menschen aus den zerstörten Städten in Kurdistan (wie Diyarbakir-Sur, Cizre, Nusaybin, Silvan, Sirnak, usw.) hatten überhaupt keine Gelegenheit, zur Wahl zu gehen. In den zerstörten und dem Erdboden gleich gemachten Stadtteilen steht kein Haus mehr, die ehemaligen Bewohner sind zur Migration gezwungen. Somit waren sie auch in keinem Wählerverzeichnis eingetragen.

Nach dem Referendum hat der Umbau der Türkei zur Erdogan-Diktatur sofort begonnen. Durfte der Präsident bislang nicht Funktionär und Parteimitglied sein, trat Erdogan der AKP wieder bei und soll auf einem Sonderparteitag am 21. Mai zum Vorsitzenden gewählt werden. Im Herbst 2019 werden dann Präsident und Parlament neu gewählt. Die AKP ist von dem knappen Ergebnis des Referendums verunsichert und Erdogan verlangt von ihr eine Erneuerung, damit 2019 die AKP mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält und somit die Alleinherrschaft sichern kann.

Direkt nach dem Referendum wurden erneut 5 000 Beamte entlassen. Weiter ließ Erdogan den Konflikt in Syrien und Nordirak verschärfen, die türkischen Truppen greifen an verschiedenen Stellen Rojava und Shengal an und bombardieren Stellungen der PKK im Nordirak. Ziele in Rojava und Shengal waren auch kurdische Radiosender. Über 70 Menschen kamen bei den Angriffen ums Leben. Ebenso werden ganze Provinzen in der Türkei zum militärischen Sperrgebiet erklärt, wie in den 1990er-Jahren die Dorfbevölkerung aus ihren Orten vertrieben, Dörfer niedergebrannt. Gerade jetzt im Gebiet Hakkari und Yüksekova.

Und die EU? Möglichkeiten, auf die Türkei einzuwirken, gäbe es. Die Bundesregierung ist nicht bereit, den Türkeideal Flüchtlinge gegen Geld aufzukündigen. Die deutsche Luftwaffe beteiligt sich weiter im Krieg in Syrien. Sie muss sich fragen lassen, ob sie für die türkischen Angriffsziele die Bildunterlagen stellte. Von ihrem Abzug will Ministerin von der Leyen nichts wissen. Der Aufbau einer eigenständigen türkischen Waffenindustrie mit deutscher Unterstützung läuft ungehindert. Auch hier könnte die Bundesregierung eingreifen. Die Türkei bezieht monatlich EU-Gelder für die Anpassungen im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen. Auch das soll nach Willen der EU-Außenminister weitergehen. Eutelsat nimmt auf Antrag der türkischen Regierung oppositionelle TV-Sender aus dem Satellitenangebot. Viele von ihnen haben ihren Sitz im Ausland. Eutelsat sitzt in Brüssel. Einen Gerichtsbeschluss, den kurdischen Sender Med-TV wieder auszustrahlen, ist die Betreibergesellschaft bisher nicht nachgekommen (siehe auch Meldung Seite 10).

Auch lässt der Bundesinnenminister nicht nach mit der Verfolgung der kurdischen Opposition in Deutschland. Das PKK-Verbot wurde von ihm auf die syrische PYD und YPG sowie deren Teilorganisationen ausgedehnt. Ein wenig Kritik an Erdogan vom Regierungssprecher und Beschwichtigungen vom Außenminister Gabriel, das war‘s.

In der Auseinandersetzung mit der diktatorischen Politik Erdogans müssen Grenzen gezogen werden gegen rechts, sonst kann die Kritik an Erdogan rechtspopulistisch zur nationalen Hetze und Mobilisierung in Deutschland, Frankreich, Niederlande usw. genutzt werden. Manche der Regierungsparteien der EU-Länder tun dies offensichtlich nicht, sondern graben damit am rechten Rand, zuletzt in den Niederlanden und auch in Deutschland über die Frage des Abstimmungsverhaltens der türkischen Wahlberechtigten in Deutschland.

Derzeit ist nicht abzusehen, wie sich das Verhältnis Deutschland/EU-Türkei entwickelt und ob die europäischen Regierungen gewillt sind, mäßigend auf die Türkei einzuwirken. Angeblich soll die von Erdogan angepeilte Wiedereinführung der Todesstrafe die rote Linie sein. Sonst nichts? Die Gefängnisse voll mit der politischen Opposition, die Parlamentssitze und Rathäuser verwaist, Städte und Dörfer zerstört und die Menschen dort vertrieben. Das reicht anscheinend nicht, wirtschaftliche und strategische Interessen in Mittelost stehen darüber, egal ob Despoten und Diktatoren regieren.

Unsere Solidarität hat auf jeden Fall die türkische und kurdische Opposition, Royava und Shengal.

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Abb.: Grafiken zur Wirtschaftslage, Beurteilung durch WTO, IWF u.a.

Quelle de.statista.com, die aus den Originalquellen Grafiken herstellt.

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DOK: Erklärung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) vom 18. April 2017

Der Parteivorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat bei seiner ersten Sitzung nach dem Verfassungsreferendum die Entwicklungen der letzten Tage ausgewertet und eine Zusammenfassung der Ergebnisse in acht Punkten veröffentlicht.

Bei ihrer Ergebniserklärung wurden auf diese Punkte hingewiesen:

1. Die Entscheidung des Hohen Wahlamtes hinsichtlich der „Gültigkeit der Stimmzettel und der Umschläge ohne entsprechenden Stempel“ verstößt offensichtlich gegen das Gesetz. Das Hohe Wahlamt hat durch diese rechtswidrige Entscheidung und mit seinem Verhalten zu einem großen Verstoß gegenüber der Verfassung wie auch gegenüber internationaler Rechtsnormen geführt. Das Hohe Wahlamt hat hierdurch seine rechtliche Legitimität verloren und ist zu einer unglaubwürdigen Institution geworden. Auf Grund dieser rechtswidrigen und zwischen Tür und Angel gefassten Entscheidung ist die Legitimität des Ergebnisses des Referendums aufgehoben und es ist zwielichtig.

2. Die demokratische Legitimität hat nicht nur bei der Stimmabgabe und dessen Auszählung gefehlt, sondern auch bereits während der Vorbereitungsphase des Referendums. Im Ausnahmezustand, während 13 unserer Abgeordneten – darunter auch unsere Doppelspitze – sowie Tausende von unseren Zentral-, Stadt- und Vorstadtvorständen wie auch unserer Mitglieder inhaftiert sind, unter den Gegebenheiten, dass die politische Gleichheit und die grundlegenden Menschenrechte zunichte gemacht werden, wurden die Referendumsvorbereitungen durch die Regierung auf verschiedene Arten verhindert und ernsthafte Rechtsverletzungen begangen.

3. Diejenigen, die trotz der Nutzung sämtlicher öffentlicher Mittel in Kampagnen, die Trillionen von Lira wert sind, trotz gravierendem staatlichem Druck und Behinderungen, trotz einseitiger medialer Bombardements nein gesagt haben, haben eine sehr schöne und wertvolle Prüfung abgelegt. Trotz sämtlicher Täuschungen bei der Wahl, konnten 24 Millionen an Wählern nicht überzeugt werden. Eine Verfassung, die trotz sämtlicher Täuschungen und zwielichtiger Gegebenheiten einen 49%igen Anteil der Bevölkerung nicht zu überzeugen vermag, ist eine halbe Verfassung, unvollständig. Sie besitzt weder die Kraft zur Ausführung noch zur Aufrechterhaltung. Das Ergebnis ist für die AKP-MHP- bzw. Erdoğan-Bahçeli-Koalition kein Sieg, sondern eine Niederlage. Im Vergleich hierzu ist es jedoch für die demokratischen Kräfte ein großer Sieg. Dieses Ergebnis stellt die Fortführung eines Frühlingserwachens für den Kampf für die Demokratie dar. Die Ergebnisse in den großen Metropolen, in denen die Arbeiter geballt leben, sind hoffnungsvoll. Es ist offensichtlich geworden, dass die AKP-MHP- bzw. Erdoğan-Bahçeli-Koalition keinen positiven Weg für die Zukunft der Türkei zeigt. Es gibt auch keine demokratische Legitimation, dass diese Interessenkoalition, die einen ernsthaften Verlust erlitten hat, auf den Ergebnissen beharrt und zu regieren versucht. Selbst über die Verfassung von 1982, die mit 92% anerkannt wurde, bestehen die Legitimationsdiskussionen seit 35 Jahren fort, und selbst diese konnte in der Gesellschaft nicht für Frieden und Stabilität sorgen und wurde an diversen Punkten durchbrochen. Das Ergebnis des 16. April wird ebenfalls nicht für Frieden und Stabilität sorgen können und niemals innerhalb der Gesellschaft Akzeptanz finden. Durch die Polarisierung und Nichtbeachtung, durch Unterdrückung und Despotismus wird eine gesellschaftliche Akzeptanz nicht erreicht werden können.

4. Die Regierung kann nicht durch Herangehensweisen vorankommen, die das Land im Hinblick auf demokratische und internationale Rechtsgrundsätze weit unter die Standards fallen lässt und die die internationale, demokratische Öffentlichkeit, Institutionen und die internationalen Beziehungen missachtet. Dieses Verständnis, als dessen erstes Ziel die Wiedereinführung der Todesstrafe deklariert wurde, wird das Land und die Gesellschaft von den Normen der Menschenrechte täglich weiter entfernen. Das ist kein Zustand, der aufrechterhalten oder akzeptiert werden kann oder eine Legitimität aufweist.

5. Die kurdische Bevölkerung hat ihre entschiedene Haltung dadurch zur Geltung gebracht, dass sie trotz der Zerstörung der kurdischen Städte, der Geiselhaft von demokratischen Politikern, der Beschlagnahme von gewählten Bürgermeisterämtern und Ernennung von Treuhändern stattdessen, trotz der Festnahme und Verhaftungen von Tausenden unserer Leute, die politische Arbeiten verrichten, trotz jedweder Grausamkeit, der Gewalt und Unterdrückung durch das Militär, der Polizei und der Dorfschützer, trotz des Drucks zur offenen Stimmabgabe, dem Schwindel durch die ungestempelten Wahlzettel seinen Willen durch ein Nein kund getan hat. Die kurdische Bevölkerung hat die Politik der Treuhänder, den Terror der Regierung und die Unterdrückung abgelehnt. Es wurde erneut klar, dass der demokratische Kampf ohne die kurdische Bevölkerung und seine politischen Vertreter nicht gewonnen werden kann. Diese Haltung, die wir respektvoll begrüßen, ist zugleich ein Aufruf an die türkische Demokratie und die Friedenskräfte, an alle Bürger mit einem Gewissen, an die NGOs zum gemeinsamen Hochlebenlassen des Kampfes und eine goldene Brücke.

6. Wir begrüßen die Völker, die Demokratie-, Arbeits- und Friedenskräfte, alle gewissenhaften Bürger mit Respekt, die trotz aller Unterdrückung, Ungleichheit und den Täuschungen gekämpft haben und entschieden und organisiert gegen diese Koalition, diese Regierung und diesen Änderungsvorschlag gewirkt haben. Wir glauben daran, dass diejenigen, die ihren politischen Willen bewusst nutzen, die der demokratischen Zukunft des Landes gegenüber ihre entschlossene Haltung zeigen, durch eine gemeinsame Haltung einen wesentlichen Meilenstein bei dem Kampf um Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden ausmachen werden. Diese entschiedene Grundsatzhaltung wird auch diejenigen, die heute mit Ja abgestimmt haben, dazu führen, sich von ihrem Fehler zu distanzieren.

7. Die Frauen haben angefangen bei den Referendumsvorbereitungen, stets eine entschiedene und organisierte Haltung gegenüber allen Unterdrückungen und Angriffen gezeigt, die erneut beweist, dass sie die führende Kraft des Demokratie- und Freiheitskampfes sind. Ihre entschiedene Haltung im Kampf um die Gleichheit und die Freiheit hat auch anderen gesellschaftlichen Schichten eine wesentliche Botschaft zukommen lassen. Die Jugendlichen, die während dieser Tätigkeiten ihre Kreativität und ihre Energie aufgezeigt haben, haben ebenfalls erneut bewiesen, dass sie bei dem Kampf eine entscheidende Rolle spielen und nicht nur für die Zukunft des Landes, sondern auch bereits für den aktuellen Zustand eine demokratische Kraft darstellen.

8. Es ist erneut bewiesen worden, wie wichtig ein gemeinsames Vorgehen beim Kampf für die Demokratie und der Freiheit ist. Alle unsere Mitglieder, unsere Wähler, unsere Teile und unsere Institutionen werden gemeinsam den Kampf um die demokratische, freiheitliche, gleichberechtigte Verfassung weiterführen. Wir werden den Boden der gemeinsamen Handlung in diesem Sinne für alle demokratisch Handelnden und alle Friedenskräfte und alle Bürger mit Gewissen nähren. Wir danken auch denjenigen, die durch ihre Nachrichten und in ihren Herzen bei uns sind, obgleich sie körperlich inhaftiert sind, unserer Doppelspitze und den Abgeordneten, den Bürgermeistern, den demokratischen Politikern. Wir versprechen ihnen, dass wir uns noch mehr anstrengen werden. Und das wir den Brüderlichkeitsreigen in jedem Fall vergrößern werden. Wir werden unter allen Umständen unseren Kampf für die Wahrheit, die Gerechtigkeit, den Frieden, die Demokratie und die Freiheit fortführen. Die Zukunft gehört denen, die den Kampf um die Demokratie, die Freiheit und die Gerechtigkeit gemeinsam führen.