Quelle: Politische Berichte Nr. 5, Mai 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT H O M E

KALENDERBLATT - 15.Juni 1958dänemark

1958: Die Reform der dänischen Volksschule* – auf dem Weg zu einem einheitlichen Schulsystem

Volkshochschulen in Dänemark – Zwangloses monatelanges Lernen

Romanliteratur aus der Zeit der Reform

Nicolai Severin Frederik Grundtvig, 1783–1845

1958: Die Reform der dänischen Volksschule* – auf dem Weg zu einem einheitlichen Schulsystem

V or der Reform der dänischen Volksschule im Jahre 1958 hatte die Debatte um die allgemeine Schulpflicht hohe Wellen geschlagen. Ergebnis war die Abschaffung der „Mittelschule“ und eine Aufteilung der Kinder nach der 6. Klasse in einen allgemeinen und einen akademischen Zweig, abhängig vom Leistungsniveau des einzelnen Schülers. 1960 erstellte dann ein Curriculum-Komitee einen Lehrleitfaden, den „Blauen Report“: Zweck der Volksschule solle darin bestehen, „harmonische und glückliche Menschen“ hervorzubringen.

Das politische Schlachtfeld

Das Grundschulgesetz von 1958 ersetzte das Gesetz von 1937. In der pädagogischen politischen Debatte, die dem Gesetz vorausging, ging es um das Thema eines nicht gegliederten Schulsystems. Dabei spielten drei Standpunkte eine Rolle: Die Lehrerorganisationen und die Konservative Partei repräsentierten einen konservativen elitären Blick, sie wollten die differenzierte Schullaufbahn erhalten. Ihre Gegner, die Befürworter der Einheitsschule, folgten dem Ansatz einer Volkshochule, wie ihn Grundvig formuliert und umgesetzt hat (siehe Begleitprojekte). Anhänger dieser politischen Richtung war der Sozial-Liberale Jørgen Jørgensen (1888-1974), die Sozial-Liberale Partei an sich und die Mehrheit der Liberalen Partei. Teile der Sozialdemokratischen Partei unterstützten die Einheitsschule, wobei sich diese Partei für einen Kompromiss stark machte. Julius Bomholt (1896-1969), eine zentrale Persönlichkeit in der Sozialdemokratischen Partei, war eher auf eine soziale Gleichheit zwischen Stadt und Land aus, was sowohl im Rahmen des bestehenden gegliederten Schulsystems, als auch durch dessen Abschaffung erreicht werden konnte.

Auf dem Weg zu einer Einheitsschule

Ergebnis der politischen Auseinandersetzung war eine Vereinbarung zwischen den Sozial-Liberalen, den Sozialdemokraten und der Liberalen Partei. Das Grundschulgesetz von 1958 führte somit sowohl zur Abschaffung der Mittelschule wie auch dazu, dass sich die Schulen in der Stadt und auf dem Land anglichen. Die allgemeine Schule bestand nun aus einer 7- oder 8-jährigen Hauptschule. Im Anschluss daran konnte ein achtes oder neuntes Schuljahr oder eine dreijährige sogenannten „Realschule“ angehängt werden. Diese Aufteilung in die oben erwähnten Zweige, einen allgemeinen und einen akademischen war das Ergebnis des Kompromisses zwischen den verschiedenen Parteien. Beide Wege führten zur Zugangsberechtigung zum dreijährigen Gymnasium, unterschieden nach sprachlichem oder mathematisch-naturwissenschaftlichem Zug. Nach Abschluss des ersten Jahres konnte man dann zwischen verschiedenen Spezialisierungen wählen.

Die Präambel des Gesetzes zur Volksschule

Die Präambel stammte aus dem Grundschulgesetz von 1937 und blieb unverändert Sie lautete: „Der Zweck der Volksschule ist es, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder zu fördern und zu entwickeln, ihren Charakter zu stärken und ihnen nützliches Wissen zu vermitteln.“ Diese Präambel war bis zum Erziehungsgesetz von 1975 in Kraft. Neue Curricula, „der Blaue Report“ für die Volksschule und „Der Rote Report“ für die Gymnasien, sowie der flächendeckende Neubau von Schulen waren Konsequenzen aus der Reform von 1958.

„Der Blaue Report“ und das Aufkommen der reformistischen Erziehungstheorie

„Der Blaue Report“ wurde 1960-61 veröffentlicht und enthielt verschiedene Bestimmungen, Ratschläge, Anweisungen und Lehrleitfäden für die Schule. Der Report distanzierte sich in gewissem Sinne von der Präambel der Volksschule, indem er deren dort formulierten Zweck der Volksschule betonte. Jene Formulierung sollte eine Warnung davor sein, sich von den tradierten Gedanken und der Praxis der dänischen Schulpädagogik zu verabschieden. Ein spezielles neues Thema, die „Orientierung“ wurde etabliert. Es sollte über das gesellschaftliches Umfeld informieren und Kenntnisse über Berufe, Handwerk und Arbeitsleben sowie über das Familienleben vermitteln. Dadurch waren Kinder mit ihren Bedürfnissen und ihren Voraussetzungen mehr in den Mittelpunkt der pädagogischen Konzepte gerückt. Soziale Kompetenzen, mit anderen leben und Rücksicht auf andere nehmen zu können wurden dadurch zu einem neuen Ausgangspunkt pädagogischer Überlegungen. Es wurde auch betont, dass Schule Kindern die Möglichkeit eröffnen sollte, sich am gesellschaftlichen Leben und der Arbeitswelt zu beteiligen. Dies führte direkt zur Infragestellung von Tests und Leistungsbeurteilung. Die Folge waren neue Arbeits- und Lehrmethoden, neue Schulbücher, audiovisuelle Lehrformen oder auch die Einführung von Gruppenarbeit sowie interdisziplinäre Prozesse als fortschrittliche Arbeitsmethoden.

Die Zeit nach der Reform: Die Einheitsschule wird gestärkt und demokratische Kompetenzen betont

In den sechziger Jahren wurden es üblich, Schulklassen auch nach der 5. Klasse ungeteilt zu lassen. Die Schüler setzten im Allgemeinen ihre Schulbildung nach Abschluss der Pflichtschulbildung fort. Auf der Basis dieser stabilen Normalität wurden 1972 und 1975 neue Reformen auf den Weg gebracht: eine Ausdehnung der Pflichtschulzeit sowie eine Überarbeitung der Lehrinhalte: Die Volksschule bestand nun aus einer neunjährigen Grundschule, einem freiwilligen 10. Schuljahr und einer freiwilligen Kindergartenklasse. Die Schülerinnen und Schüler konnten nach der 8. oder 9. oder der 10. Klasse die Abschlussprüfung ablegen. Mit der Reform von 1975 wurde auch die Präambel geändert: demokratische Kompetenz, Förderung des Lernwillens, Zusammenarbeit zwischen Schule und Zuhause u.a. wurden aufgenommen, aber ohne konfessionelle Bindung an die Nationalkirche. Das Gesetz ermöglichte die Aufteilung der Schüler in einen allgemeinen (sprich: einfacheren) und einem fortgeschrittenen Zweig in Mathematik, Physik und Fremdsprachen. Diese verschiedenen Zweige wurden 1993 mit einer weiteren Reform abgeschafft. Man kann also davon sprechen, dass die Volksschule zu einer einheitlichen Schule wurde, die auf der Differenzierung der Bildung und Erziehung aufbaut, mit dem Ziel, sie an die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Schülers anzupassen. Pia Bang Jensen, Kopenhagen

* Anm. der Übersetzerin (aus dem Englischen): Der Originalbegriff bei Pia lautet „folkeskole“ – der deutsche Begriff „Volksschule“ ist zwar im deutschen Sprachraum speziell konnotiert, bei der Übersetzung hab ich mich dennoch dafür entschieden, weil es m.E. den dahinter stehenden Gedanken am besten wiedergibt (alternativ wären: „Öffentliche Schule“ oder „Allgemeine Schule“ oder „Grundschule“ gewesen – was aber zu entsprechenden anderen Konnotationen geführt hätte), Eva Detscher, Karlsruhe

Abb.: Unterrichtssituation in einer Schule auf dem Lande in Thyborøn, Nord Jütlan, Juni 1951.

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Volkshochschulen in Dänemark – Zwangloses monatelanges Lernen

Die dänischen Volkshochschulen haben mit den deutschen nur den Namen gemeinsam: Für Monate kommen hier junge Leute zusammen. Auf dem Land. Zum zwanglosen Lernen und ganz ohne Abschlusszeugnis. Zweckfreier Zeitvertreib und dann nicht mal ein ordentlicher Beleg: Was in Deutschland einer mittleren Katastrophe gleicht, ist in Dänemark ganz bewusst Teil der Identitätssuche.

Wo in Deutschland an zehn Abendterminen ein bisschen Spanisch oder Fotografieren gelernt wird, sind die Dänen radikal: Der Mensch braucht Bildung und dafür darf er sich gerne viel Zeit nehmen. Wer in Dänemark eine Auszeit will, im Studium oder nach dem Abitur, der kriegt sie an einer der Volkshochschulen. Staatlich bezuschusst leben jedes Jahr rund 3500 junge Erwachsenen auf dem Land und lernen, worauf sie eben Lust haben. Die Fächer sind meist künstlerisch und kreativ. Während junge Menschen in Deutschland sich oft sehr beeilen, um von der Schule an die Uni zu kommen, sind die Dänen da deutlich entspannter:

„Nach dem Abitur bin ich viel gereist. Mehrere Gap Years zu nehmen, ist in Dänemark durchaus normal. Hier an der Volkshochschule machte ich mein drittes Gap Year – und es war der letzte Versuch, herauszufinden, was ich eigentlich machen will.“

Zitat aus eine Beitrag im Deutschlandfunk vom 1.8.2015

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Romanliteratur aus der Zeit der Reform

Klaus Rifbjerg (geb. 1931, gest. 2015): Sein erster Roman erschien 1958, „Den kroniske uskyld“ (auf Deutsch zunächst unter dem Titel „Der schnelle Tag ist hin“, dann „Unschuld“). „Er wirkte wie eine Bombe. Eine Mutter, die den Verlobten der eigenen Tochter verführt, worauf die Tochter Selbstmord begeht – das war ein bisschen viel für die dänischen Leser. Man stritt über die flapsige Sprache, über Moral und Unmoral, Dramatik und Melodramatik. Unübersehbar stand die amerikanische Literatur Pate, allen voran Salingers „Fänger im Roggen“ (NZZ 27.4.2015). Ein psychologischer Entwicklungsroman – man erhält einen Eindruck von den engen Lebensverhältnissen von Jugendlichen in Dänemark in den 1950er Jahren.

Buchempfehlung von Pia Bang Jensen, Eva Detscher

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Nicolai Severin Frederik Grundtvig, 1783–1845

Nicolai Severin Frederik Grundtvig hat eine durchaus buntscheckige Rezeptionsgeschichte.* Auch die Nazis haben sich, das sei gleich vorweg gesagt, zuerst positiv auf ihn bezogen, später aber, auch weil er „Deutschenhasser“ war, von ihm distanziert.

Grundtvig, 1783 in Udby/Dänemark geboren, wird je nach Bedarf als Schriftsteller, Dichter, Pädagoge, Politiker und einiges mehr eingeordnet. Man kann wohl sagen, dass er die gedanklichen Bewegungen seiner Zeit, den Rationalismus und die Aufklärung aufgenommen, und in seinem Leben durchaus starke Wandlungen in Anschauungen und eigener Praxis durchgemacht hat, nicht zuletzt bedingt durch eine Reihe von Studienreisen nach England.

Seine politischen und pädagogischen Anschauungen haben stark auf die dänische Entwicklung und ihre tief verwurzelten Bestände von Praktiken und Sichtweisen gewirkt. Noch in der Rolle des Pfarrers fasst er seine gewandelten Auffassungen in dem Grundsatz zusammen: Menneske først og kristen så (Zuerst Mensch und dann Christ).

In der Folge setzt er sich für Schul- und Religionsfreiheit ein, unterstützt die sich formierende Frauenbewegung. Eigentliches Anliegen ist ihm aber die Liberalisierung des sozialen Lebens, man würde heute sagen, er verfocht einen emanzipatorischen Ansatz. Nach dem verlorenen Deutsch-Dänischen Krieg tun sich in den folgenden politischen Auseinandersetzungen hierfür Räume auf.

Dänemark ist in dieser Zeit ein Agrarland, 97% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Ihr Zugang zu Bildung ist schwierig, wird staatlich nicht gefördert. Grundtvigs pädagogisches Konzept geht von der Praxis der Menschen aus, anhand derer selbständiges Denken gefördert werden soll, Noten sind nicht vorgesehen. Die Didaktik ist auf Dialog angelegt, nicht auf Vortrag. Selbständigkeit und Geschichtsbewusstsein sollen Selbstvertrauen und –Bewusstsein stärken, eine breite Allgemeinbildung die Teilhabe am politischen Leben fördern, die Internatsform soziales Verhalten ausbilden. 1844 wird in Rødding die erste Heimvolkshochschule eröffnet. Sie breiten sich über Dänemark aus und haben bis heute Bestand.

Als Folge der ersten Heimvolkshochschulen kann eine Verbesserung der Anbau- und Züchtungsmethoden beobachtet werden, Genossenschaften werden gebildet, die Ausfuhren auf den englischen Markt nehmen stark zu. Die Produktivität steigt deutlich über die der deutschen Landwirtschaft. Wohl auch einer der Gründe für die ersten Blicke des südlichen Nachbarn auf die dänischen Heimvolkshochschulen, die dann vor allem in Norden Deutschlands auch gegründet werden und übrigens ebenfalls bis heute in einer bunten Vielfalt präsent sind. Rolf Gehring, Brüssel

* Norbert Vogel: Grundtvigs Schulgedanken aus deutscher Sicht – http://ojs.statsbiblioteket.dk/index.php/grs/article/viewFile/16026/13868. Abb.: http://www.kb.dk/images/billed/2010/okt/billeder/subject2251/da/

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