Aus Politische Berichte Nr. 4/2018, S. 22 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

23.juni -1894 - Belgien - KALENDERBLATT

01 Fundamente für ein System sozialer Sicherheit werden gelegt

02 Sozialgeschichte in Museum, Film, Kunst

01

Fundamente für ein System sozialer Sicherheit werden gelegt

Jan Voets, Brüssel

Im Jahr, in welchem sich in Belgien zum ersten Mal alle Männer über 25 Jahren an den Parlamentswahlen beteiligten durften, wurde am 23. Juni 1894 das Gesetz über Einrichtung von „Mutualiteiten“ (Krankenkassen) als Ergebnis lang anhaltender Auseinandersetzungen verabschiedet. Das erste Mal wurde den von Arbeitern geschaffenen Institutionen eine gesetzlich abgesicherte Rechtspersönlichkeit verliehen und ihnen damit ermöglicht, diese Organisationen ohne Einmischung von außen weiter zu verwalten. Das Gesetz veränderte die politische Landschaft und ermöglichte in der Folge soziale Fortschritte. Die Verwaltungsräte wurden von den Mitgliedern gewählt, und wenn die Krankenkassen bestimmte Bedingungen erfüllten, erhielten sie auch staatliche Zuschüsse. Als Folge erhöhte sich die Zahl der Mitglieder dauerhaft. Die Krankenkassen, in Kooperation mit den Gewerkschaften und den ihnen nahestehenden politischen Parteien, erlangten ein stärkeres politisches Gewicht in den gesellschaftlichen Debatten bezüglich der Ausgestaltung der Sozialsysteme und auch die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge zu unterbreiten oder zu beeinflussen. Sie wurden Teil der sogenannten „Versäulung“ des belgischen Systems der sozialen Sicherheit, in dem die sozialistische, christliche bzw. liberale Säule jeweils ihre eigene Krankenkasse, Gewerkschaft, politische Partei und soziokulturelle Bewegung hat(te).

Die Vorgeschichte – 1830: Gründung des Staates Belgien

Technisch fortschrittlicher Berg- und Maschinenbau (Wallonien) und ein durch das Zunftwesen geprägtes traditionelles Handwerk (Flandern) liegen dem 1830 gegründeten Staat Belgien zu Grunde. Die Zünfte, lokal nach Berufsgruppen organisiert, beeeinflussten stark die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Europa. Der positive Effekt auf die Qualität der Produkte auf Grund der strengen Kontrolle der Zünfte ist unbestritten. Sie sorgten auch für eine anspruchsvolle und umfängliche Berufsausbildung. Besitztümer der Zünfte und auf jeden Fall deren Erlöse dienten als Fonds, aus dem die Mitglieder der jeweiligen Zunft und ihre Familienangehörigen im Falle eines Arbeitsunfalls, einer Krankheit oder eines Todes unterstützt werden konnten. Mit den Zünften verschwanden auch diese sozialen Sicherungen.

Für die sich in immer mehr Sektoren der wirtschaftlichen Tätigkeit durchsetzende neue Industrie waren Zünfte konservative Institutionen und Bremsklötze für die wirtschaftliche Entwicklung. In Zunftstrukturen hätten innovative Ideen kaum eine Chance gehabt, hätten sich die Modernisierung der Produktionsmethoden verzögert. In Teilen Westeuropas (unter anderem in Wallonien) führte die Abschaffung des Zunftwesens in der Zeit der französischen Vorherrschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer raschen Industrialisierung und wirtschaftlichen Entwicklung. Schließlich wurden die Zünfte im neuen Königreich der Niederlande 1818 endgültig abgeschafft. Handwerker und Arbeiter waren somit auf sich selbst gestellt, Gewerkschaften galten als getarnte Zünfte und waren noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts verboten.

Dies ebnete der ersten industriellen Revolution den Weg und war einer der Hauptgründe für die Entstehung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert. Die Revolutionierung der Industrie bedeutete auch eine neue Produktionsorganisation. Die Arbeit wird als Lohnarbeit ausgeführt und die Arbeiter verloren ihre Unabhängigkeit und ihren Einfluss auf die Arbeitsorganisation. Die Arbeit in den Fabriken erforderte in weiten Teilen wenig Wissen und Fähigkeiten, so dass die Arbeiter austauschbar wurden. Männer wurden unbehelligt von Vorschriften zunehmend durch Frauen und Kinder ersetzt. Die Arbeit war wesentlich elendig, schmutzig und ungesund, die Lebenserwartung zurückging. Die Arbeiter lebten in überfüllten Elendsvierteln, ohne sanitäre Einrichtungen, unterernährt und mit zunehmendem Alkoholmissbrauch.

Vom Verbot zur gesetzlichen Anerkennung – von Vorsorgefonds zur gesetzlichen Einrichtung der Krankenkassen

Die belgischen Industriezentren waren Gent, Verviers, Lüttich, Mons und Charleroi. Um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern, traten die Arbeiter Vorsorgefonds bei und sie organisierten sich in sozialistisch, anarchistisch oder konfessionell ausgerichteten Gewerkschaften und politischen Parteien. So wurden verschiedene Hilfs- und Wohlfahrtsfonds vor Ort und nach Sektoren eingerichtet, die in der Regel durch Beiträge der Mitglieder und in einigen Sektoren auch durch die Arbeitgeber (Bergbau und Seeschifffahrt) finanziert wurden. Ein Gesetz vom 3.4.1851 erkannte diese Vorsorgefonds rechtlich an.

In den 1880er Jahren wurden dann erste Schritte zur Gründung von Gewerkschaften wie des „brüderlichen Verbandes der Weber“ und des „Verbandes der bedürftigen Brüder“ unternommen. Artikel 310 des Strafgesetzbuches machte gewerkschaftliches Handeln unmöglich. Das damals geltende Zensuswahlrecht schloss die Arbeiter aus dem parlamentarischen Feld der Politik aus. In der Zeit schwerer Auseinandersetzungen in den 1870er Jahren und der Angst vor der Verbreitung des Sozialismus und des Marxismus, setzte sich Priester Daens für die sozialen Interessen der Arbeiter ein, wobei er sich auf die Enzyklika „Rerum Novarum“ stützte. Er gründete unter anderem die „Christliche Volkspartei“ und war an der Ausarbeitung des Gesetzes über die Regelung der Kinder- und Frauenarbeit (1889), der Durchsetzung des mehrfachen allgemeinen Wahlrechts (1893), des ersten Gesetzes über die Krankenkassen (1894), des Gesetzes über den Lohnschutz (1896), des Gesetzes über Arbeitsunfälle (1903) sowie des Gesetzes über die Sonntagsruhe (1905) beteiligt.

Stabilisierung des Sozialversicherungssystem nach 1944

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde am 28.12.1944 ein weiteres Gesetz verabschiedet, das die Grundlage für das gegenwärtiges Sozialversicherungssystem bildet und das 1894 errichtete System der Selbstverwaltung bestätigte. Zwischen 1944 und 1948 fanden acht nationale Arbeitskonferenzen statt, in denen die Strukturen des belgischen Wohlfahrtsstaates konkretisiert wurden. Dies führte zur Gründung verschiedener Beratungsgremien, darunter des Nationalen Arbeitsrates und des Zentralen Wirtschaftsrates. Diese Gremien, die Gewerkschaften und Arbeitgeber zusammenbringen, spielten eine wichtige Rolle bei der weiteren Ausgestaltung der Systeme der sozialen Sicherheit.

Nach wie vor sind die „Mutualiteiten“ selbstverwaltet und werden durch Arbeitgeberbeiträge, Beschäftigtenbeiträge und staatliche Anteile finanziert. Politische Vorhaben der Regierung müssen mit ihnen erörtert werden. Der Umkreis der Versicherten ist mittlerweile auch auf Selbständige ausgedehnt worden.

Aus dem Flämischen.
Bearbeitung: Rolf Gehring, Brüssel

02

Sozialgeschichte in Museum, Film, Kunst

Rolf Gehring, Brüssel

Der Industriekomplex „Le Grande-Hornu“

Nicht nur elende Arbeitsbedingungen in der Frühphase der Industrialisierung zeichneten das Leben der Menschen auch die allgemeinen Lebensumstände und die Wohnbedingungen waren für Millionen miserabel. Wohl das erste philantrophische Konzept eines Industriellen, in dem Leben und Arbeiten menschlich ausgestaltet werden sollten, fand in Hornu, in der heutigen Wallonie nahe der französischen Grenze nahe Mons statt. Henri Degorge, ein Farmerssohn aus Nordfrankreich, nutzte innovativ die entstehenden technischen Möglichkeiten seiner Zeit und entwickelte die Technik im Kohlebergabu weiter. Er übernahm 1810 die Zeche von Hornu. In der Folge wurden neue erzreiche Flöze entdeckt, allein, die benötigte Arbeitskraft war in der dünn besiedelten Region schwer zu mobilisieren. Es entstand das Konzept einer sozial orientierten Stadt, in der Wohnen und Arbeit eng beieinander liegen und sozialen Fortschritt bringen.

Der Komplex wurde zwischen 1820 und 1830 nach Plänen Bruno Renards erbaut.

Le Grand Hornu ist ein Muster funktionaler urbaner Planung. Im Zentrum steht ein ovaler Kmplex der Industrieanlage. Ihn umgeben die Arbeiterquartiere (425 Wohnhäuser in einer Gartenstadt), Büros, Läden, Heuschuppen, Stallgebäude, Werkstätten, eine Zuckerfabrik und Speicher gehörten zu dem Emsemble, früh wurde eine Schule eingerichtet.

Die Architektur der aus Backstein erbauten Anlage ist durch neoklassizistische Elemente geprägt. Die Arbeiterwohnungen hatten einen Wohnraum von 23 Quadratmetern und eine Küche von 9 Quadratmetern. Die Häuser waren mit Abflüssen ausgestattet, eine Dampfmaschine lieferte Warmwasser. Jedem Haus war ein kliener Garten zugeordnet und jedes vierte Haus konnte eine Kneipe einrichten.

Nachdem in den 1950er Jahren die Zechen der Borinage stillgelegt waren, verfiel der Komplex. Heute ist Grand-Hornu im Privatbesitz. Grand Hornu wurde 2012 Weltkulturerbe der Unesco und beherbergt ein Museum.

Film: Daens – Priester der Entrechteten

Der Film beschreibt die Geschichte des belgischen „Arbeiter-Priesters“ Adolf Daens, der sich am Ende des vorigen Jahrhunderts gegen die soziale Not und die Zustände in den Fabriken stellt. Im Jahr 1890 arbeitet die Bevölkerung von Aalst in Trümmern in den Textilfabriken für die Profite der reichen Fabrikdirektoren. Männer werden entlassen, weil Frauen billiger arbeiten. Kinder arbeiten Tag und Nacht und werden so müde, dass sie einschlafen und unter den Maschinen zerquetscht werden. Das ist die Situation, die Adolf Daens nach einem Konflikt mit Bischof Stillemans bei seiner Rückkehr in seine Heimatstadt Aalst erlebt. Der Fabrikdirektor Borremans entlässt die Hälfte seiner Arbeiter, was von dem Vorsitzenden der Katholischen Partei, unterstützt wird.

Daens lehnt die Missbräuche ab. Zuerst von der Kanzel, später auch in der Volksvertretung, in der er nach einem erbitterten Kampf gewählt wird. Daens beschwert sich in einem Artikel in „Het Land Van Aelst“ über die Missbräuche in den Fabriken. Da Daens die Seite der Armen wählt, gerät er in Konflikt mit den reichen Fabrikdirektoren und der katholischen Kirche. Die Kirche sieht mit Bestürzung, wie Daens zum Symbol des gnadenlosen Freiheitskampfes wird, den die Arbeiter führen. Als der Papst ihm schließlich politische Zurückhaltung auferlegt, zieht er die Soutane aus. Der Film ist ein handwerklich perfekt inszeniertes Sozialdrama, das trotz eines eindeutigen Engagements für die Unterdrückten alle Charaktere differenziert zeichnet.

Belgische Künstler der Industrialisierung

Die sozialen Umwälzungen und Verwerfungen der Industrialisierung, vor allem aber ihre sozialen Effekte wurden früh von Malern und Bildhauern im heutigen Belgien aufgenommen, wälzten auch ihre Sicht und Aufmerksamkeit um. In Belgien ist namentlich Constantin Meunier ein Vertreter dieser Entwicklung. Als Maler begann er die Umbrüche in der Welt der Arbeit zu verarbeiten, schwenkte dann stärker auf die Arbeit mit Skulpturen um, die ihm als besseres Stilmittel für einen Realismus des Sozialen erschien. Seine Skulpturen verströmen neben dem Realismus aber auch einen Idealisierung der Arbeit/Arbeitenden aus. Nicht umsonst gilt er als Wegbereiter des sozialistischen Realismus in der Kunst. Anders beispielsweise der Maler Anto Carte. Seine Pieta (dieses und andere Werke zu betrachten bei www.artnet.com) erinnert an das Leiden Christi, die symbolische Dimension ist eine andere Form der Glorifizierung der Arbeitenden. Die christliche Überformung des Sozialen und der Zwischenmenschlichkeit, die weite Teile der Arbeiterbewegung, nicht nur der direkt christlich organisierten, und ihren Solidaritätsbegriff prägt, findet sich hier wieder.

Abb.

Quellen: Yves Robert – The Grand-Hornu Industrial complexe; Edition Scala, Paris 2002. Abb.: Bilderstrecke bei www.cid-grand-hornu.be/fr/Grand-Hornu/L_histoire/8/.

, Filmplakat, mehr bei http://www.imdb.com/title/tt0104046/. Werke von Meunier bei https://www.fine-arts-museum.be/nl/de-collectie/constantin-meunier-de-steenbreker?artist=meunier-constantin-1, von Anto Carte bei www.artnet.com