Aus Politische Berichte Nr. 8-9/2018, S.22 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Kalenderblatt - 22.September 1994 - Europäische Union

01 Das Institut des Europäischen Betriebsrats wird gesetzlich verankert. Rofl Gehring, Brüssel

02 Standortkonkurrenz verhindern: Die Arbeit des EBR bei der Jungheinrich AG. Helmut Lechner, Norderstedt

03 Die Rätebewegung und das Ende des deutschen Obrigkeitsstaates. Martin Fochler, München

01

Das Institut des Europäischen Betriebsrats wird gesetzlich verankert

Rofl Gehring, Brüssel

Der französische Soziologe Robert Castel hat in einer Schrift* die Anerkennung der Anliegen der Arbeiterschaft als eine Voraussetzung für ihre Anerkennung als Vollbürger (Wahlrecht) beschrieben: Erringung von Würde und Emanzipation gelingt über gesetzliche Verankerung von Schutzrechten, Durchsetzung von Tarifverträgen und schließlich mit Verankerung von Vertretungsorganen. – Das erste Betriebsrätegesetz in Deutschland wird nicht zufällig im Zuge der Novemberrevolution erlassen.

Vergleichbar haben sich in allen europäischen Staaten Systeme der industriellen Arbeitbeziehungen herausgeschält, die die Vertretung und die Beteiligung der Beschäftigten in wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten der Unternehmen regeln. Ihre Funktionsweisen und Rechte sind sehr buntscheckig, die betriebliche Praxis ist dies ebenfalls. Die zu bearbeitenden materiellen Gegenstände sind allerdings vergleichbar.Der Zuwachs von international agierenden Unternehmen, die komplexe internationale Arbeitsteilung, mehrfach grenzüberschreitende Lieferketten, der Ausbau des europäischen Binnenmarktes, aber auch gewerkschaftliche Kooperationen über Ländergrenzen hinweg haben eine Atmosphäre geschaffen, in der ein wachsendes Bedürfnis nach länderübergreifenden Vertretungsstrukturen und Vereinbarungen entsteht. Damit soll ermöglicht werden, auf Entwicklung von Strategien, in immer kürzeren Zyklen stattfindende Unternehmensumstrukturierungen, Schließungen von Werken und andere Maßnahmen reagieren zu können. In den achtziger und neunziger Jahren werden erste Vereinbarungen zu länderübergreifenden Interessenvertretungsstrukturen durchgesetzt.

Am 22.9.1994 wird mit der Europäsichen „Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Belegschaften in multinatinalen Unternehmen“ eine allgemeine Rechtsgrundlage in Europa geschaffen. In Betrieben mit mehr als 1000 Beschäftigten (mindestens zwei Länder müssen mindestens 150 Beschäftigte haben) können diese Gremien eingerichtet werden.

Viele Gremien für EBRs entstehen trotz großer Schwierigkeiten: 2015 weist der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) eine Zahl von 1074 Gremien aus. Die Richtlinie ermöglicht neue Formen der Kooperation zwischen den Belegschaften, aber auch den Gewerkschaften. Die wenn auch nur seltene, aber regelmäßige Zusammenkunft der Belegschaftsvertreter weckt das Interesse an den andern Ländern, ihren industriellen Beziehungen und den dortigen konkreten Arbeitsbedingungen.

Was können die EBRs inhaltlich bearbeiten? Die in Anhang 1 der Richtlinie aufgelisteten subsidiären Bestimmungen sind das Mindestmaß an Zuständigkeiten, im Wesentlichen wirtschaftliche Angelegenheiten, es können aber auch andere Gegenstände aufgenommen werden. 2015 weisen 28 % der Vereinbarungen die Möglichkeit der Ausweitung ausdrücklich aus. Häufig zu finden sind heute der betriebliche Arbeits- und Gesundheitsschutz, Weiterbildung, Umweltschutz und Gleichbehandlung oder personelle Angelegenheiten.

Mit den EBRs ist auch das neue Rechtsinstitut der transnationalen Unternehmensvereinbarungen entstanden. Waren diese Art von Vereinbarungen vor dem Jahr 2000 nahezu unbekannt, haben sie seither eine enorme Ausweitung erfahren. Eine Untersuchung des EGB weist für das Jahr 2011 insgesamt 244 solcher Vereinbarungen aus, je zur Hälfte mit einem europäischen und einem weltweiten Geltungsbereich. In einer Übersicht der Europäischen Kommission (Stand April 2015) werden schon 282 Vereinbarungen gelistet. Diese Vereinbarungen können sich in vielen Bereichen auf ILO-Konventionen stützen, setzen aber ein eigenes Fundament: Befassung, Anspruchsbildung, Verhandlung und Vertrag. Sie sind gewissermaßen nah am Menschen. In den Gewerkschaften wird zwar kritisch diskutiert, dass Unternehmensvereinbarungen die Funktion von Tarifverträgen unterlaufen können, letztlich wird aber wesentlich darauf gepocht, dass sie nicht ohne Gewerkschaften stattfinden dürfen. Damit entwickelt sich (potentiell) eine Praxis, Standards, Ansprüche und Rechte der Beschäftigten europäisch oder auch weltweit und in Vereinbarungen festzuschreiben und umzusetzen. Eine weitere Tendenz: 2 % der EBRs arbeiten heute als Weltbetriebsräte.

02

Standortkonkurrenz verhindern: Die Arbeit des EBR bei der Jungheinrich AG

Helmut Lechner, Norderstedt

Die Jungheinrich AG zählt unter den Gabelstaplerherstellern zu den Top 3 weltweit und ist in über 30 Ländern mit Direktvertrieb vertreten. Vor der Umsetzung der EBR-Richtlinie von 1996 war kein fadenscheiniger Grund dumm genug, um nicht von Seiten des Managements dafür herzuhalten, jeglichen Informationsaustausch der Jungheinrich-Interessenvertretungen im europäischen Ausland zu verhindern: Das Werk in der Normandie sei verkehrstechnisch schwer zu erreichen, die kommunistische CGT wolle ohnehin nicht mit IG Metallern sprechen und dergleichen. Inzwischen ist es selbstverständliche betriebsrätliche Praxis, dass sich die KollegInnen aus den europäischen Ländern treffen und beraten.

Neben den gesetzlich verbrieften Informationsrechten des EBR ist es für die Jungheinrich-Interessenvertretung besonders wichtig gewesen, Standortkonkurrenz zu verhindern und die Interessen der gesamten Konzern-Belegschaft zu vertreten, obgleich diese bezüglich Arbeitsbedingungen, Qualifikation und Tätigkeit sehr ausdifferenziert ist. Alle haben sie eine Menge gemeinsamer Interessen: Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen, Übernahme nach der Ausbildung; über die Grenzen hinweg besteht das Interesse an guten, vielseitigen Arbeitsinhalten und – dafür arbeitet man ja – an einem guten, hohen Einkommen sowie an stabilen Sozialleistungen. Hinzu kommt der Anspruch auf demokratische Rechte im Betrieb: als Mensch geachtet zu werden und dass man ungehindert gewerkschaftlich aktiv sein kann. Dies zu sichern, war das Anliegen des EBR bei Jungheinrich.

Aber das funktioniert nur, wenn die Unterschiedlichkeit der einzelnen Belegschaften, Beschäftigtengruppen und Kulturen im Auge behalten wird. Das gelang in offiziellem und persönlichem Bereich über Jahre hinweg vornehmlich in der Zusammenarbeit der deutschen, französischen und britischen KollegInnen. – Aber das wurde in den Jahren 2003 und 2004 auf eine harte Probe gestellt. Gleich zweimal hatte der EBR sich mit der Schließung eines Jungheinrich-Werkes im Ausland zu befassen. Einmal mit der Absicht des Vorstandes, eine Fertigungslinie von Leighton Buzzard, nördlich von London, nach Moosburg bei München zu verlagern. Und dann das Vorhaben, das Werk der MIC in Argentan in der Normandie zu schließen. Die Fertigung sollte künftig in China sein.

Die Vernichtung des französischen Standortes war für die französischen KollegInnen mit besonderer Dramatik verbunden. Die MIC gehörte seit 30 Jahren zu Jungheinrich und war zu diesem Zeitpunkt noch der weltgrößte Hersteller von Handgabelhubwagen. Wut und Trauer erfasste die KollegInnen und BetriebsrätInnen. Denn sie wurden durch die Drohung, die MIC in die Insolvenz gehen zu lassen, massiv unter Druck gesetzt. Aufgrund starker konzernweiter europäischer Proteste mussten die Jungheinrich-Kapitalisten Verhandlungen aufnehmen. Das Werk wurde zwar geschlossen. Der Sozialplan aber lag wenigstens erheblich über dem, was vergleichbar in Frankreich hätte gezahlt werden müssen.

Abb.(nur im PDF): Im Januar 2004 konnte eine Jungheinrich-Delegation von ArbeitnehmerInnen unter der Struktur des EBR die KollegInnen der MIC in Argentan unterstützen (Am Mikrofon: Helmut Lechner, Vorsitzender des Konzernbetriebsrates der Jungheinrich AG). Gemeinsam brachten sie ihren Protest und ihre solidarische Verbundenheit zum Ausdruck.

03

Die Rätebewegung und das Ende des deutschen Obrigkeitsstaates

Martin Fochler, München

Die Menschenrechte sind verkündet und die Arbeiterbewegung präsent. Trotzdem lebt der Mensch im 1870 gegründeten Deutschen Reich zuallererst als Untertan. Oben und Unten, Befehl und Gehorsam, Ordnungsprinzipien des absolutistischen Staates überlebten im Militär, bewährten sich bei dessen Technisierung und wurden von den Großorganisationen der Wirtschaft und des Staates aufgegriffen. Schlachtschiffe, Eisenbahnen, Hüttenwerke – alles ließ sich durch Befehlsketten führen. Schon zum Start der neuen Zeit wurde prägend gedichtet: „Dass sich das größte Werk vollende genügt ein Geist für tausend Hände.“ (Goethe, Faust II). Ideal trifft sich mit General.

Im Oktober 1918 erfahren die Matrosen, dass die kaiserliche Flotte zu einer letzten Schlacht in Richtung England auslaufen soll. Die Befehlskette bricht. Es werden Vertrauensleute bestimmt und Friedenspolitik eingefordert. Die Räte sind als politische Kraft in der Welt.

In den großen Ballungszentren war die Beölkerung kriegsmüde und friedenshungrig. So kam es in München am 6. November 1918 nach einer riesigen, von einem breiten Parteienspektrum organisierten Friedenskundgebung zu hauptsächlich von der USPD und – heute würde man sagen – linken Milieus getragenen Aktionen vor den Kasernen. Es kam zur Verbrüderung. Soldatenräte wurden gebildet. Vor den alten Gesetzen galt dies als Meuterei, auf die Standrecht und schimpflicher Tod folgen. Schon deswegen musste eine neue politische Ordnung her. Noch in der gleichen Nacht führten Verhandlungen zwischen den Räten und den verschiedenen oppositionellen Strömungen zur Regierungsbildung, Ministerpräsident wurde Kurt Eisner, USPD. Die neue Regierung kombinierte rechtliche geordnete, repräsentative Demokratie mit der Rätemacht. Die Fachbeamten – vom delegimierten und entwaffneten König ihres Eids entbunden – konnten so auf Basis der geltenden Gesetze weiter amtieren und unter Aufsicht der Räte zur Erledigung dringender Aufgaben – Demobilisierung, Versorgung, … – angehalten werden.

Es waren vor allem Rechte auf Information und Anhörung, die den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten nach ihren von der neuen Regierung beschlossenen Satzungen zustanden. Eisner unterstrich bei vielen Gelegenheiten, dass auf diesem Wege die Massenbewegung Einblick gewinnen und die Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten erlernen werde.

Die schon im Januar 1919 nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht abgehaltenen Landtagswahlen verschobenen die Machtgewichte allerdings weg von den Räten hin zur repräsentativen Demokratie. Nach Eisners Auffassung war der revolutionäre Prozess damit aber nicht erledigt. Er sah die Chance für ein Zusammenspiel von Räteinstitutionen, Massenmobilisierung und parlamentarischer Oppositionsarbeit und war auch persönlich bereit, diese Strategie im Landtag als einfacher Abgeordneter zu vertreten.*

Als Kurt Eisner am 21. Februar 1919 auf dem Weg in den Landtag ermordet wurde, verlor die revolutionäre Bewegung jede Hoffnung auf Anerkennung, von Vernichtung bedroht griff man zu den Waffen, beanspruchte dabei unvermeidlich die ganze Macht und wurde von einem Bündnis aus extremen Reaktionären und Vertretern der repräsentativen Demokratie geschlagen. Am 1. Mai 1919 rückten Freischärler und Regierungstruppen in München ein und wüteten grausam.

Das politische Konzept der Rätebewegung – institutionalisierter Gegenpol zu wirtschaftlicher und politischer Macht – ließ sich aber nicht mehr aus der Welt schaffen (siehe Weimarer Reichsverfassung, Art. 165). Erst die Nationalsozialisten ordneten die Gesellschaft dann doch noch einmal als Befehlskette („Führer befiehl – wir folgen“) und konnten so sämtliche Einrichtungen des Staates als Werkzeug vorher unvorstellbarer Verbrechen verwenden.

Heute gelten – auch aufgrund dieser Erfahrung – Organisationsrechte in den Betrieben und im zivilen Leben als Selbstverständlichkeit.

Ohne Gesetze, die z.B. die Mitwirkung im Unternehmen und die Auskunftspflicht von Behörden fixieren, blieben Transparenz und Partizipation leere Worte, und so wäre es auch, wenn in den wirtschaftlichen Belangen im Konflikt nicht das Recht zum Streik und in zivilen Bereich nicht das Recht zum Plebiszit hinzukämen, die der Arroganz der Mächtigen etwas entgegensetzen können.

Eine wichtige Quellensammlung: Franz J. Bauer, Die Regierung Eisner 1918/1919, Ministerratsprotokolle und Dokumente, S. 444, * Rede Eisners vor dem Kongress der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte Bayern am 20. Februar 1919.

Abb.(nur im PDF): Mit Zweispitz und Befehlsstab. Eisenbahneruniform. Buchcover. Gemälde „Der Betriebsrat“, 1927, von Jakob Steinhardt, © Israel Museum Jerusalem