Aus Politische Berichte Nr. 10/2018, S.02 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Vor dem Gipfel über den Austritt Großbritanniens aus der EU

Eva Detscher, Karlsruhe

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01 Info: Chequers Plan

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So ganz versteht man die kühle Haltung der 27 anderen EU-Mitgliedsstaaten gegenüber der Tatsache, dass ein Land das gemeinsame Projekt vlässt, nicht. Jenseits der wirtschaftlichen Win-Win-Realität aller EU-Staaten ist das Bündel an Verschiedenheit, was sich da Regeln für ein geordnetes Auskommen miteinander gegeben hat, zu einem Wert an sich geworden. Und der Verlust eines jeden aus diesem Bündel würde das Koordinatensystem verschieben, in dem sich jedes einzelne Mitgliedsland verortet. Besonders unangenehm ist die Vokabel der Rosinenpickerei – geht es etwa ohne den gegenseitigen Vorteil? „Wenn die Briten am Ende nur eine Art Sommerhausregelung verlangten, würde es daran wohl nicht scheitern“, zitiert die FAZ vom 8.10.18 einen EU-Diplomaten. Er spielt damit auf eine für Dänemark erlaubte Ausnahmeregelunge von den vier Grundfreiheiten der EU [Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr] an: Ferienhäuschenverkäufe an Nicht-Dänen müssen ministeriell genehmigt werden. Viele Firmen, Banken, Verbände spekulieren über die Folgen und daher über Vorsorgemaßnahmen für den Fall des Brexits. Nur wenige gehen davon aus, dass der Termin 29. März 2019 für diesen Bruch in der Kontinuität europäischer Einigung noch fallen könnte. Der Blick auf die wirtschaftlichen Folgen fällt sowohl in Großbritannien als auch in Rest-EU zweigespalten aus und bewegt sich im Rahmen der Spekulation – Befreiung und damit explosive wirtschaftlichen Aufschwung auf der einen Seite, Einbußen, Verarmung, Jobverluste auf der anderen. Vielleicht ist es gut, endlich zu begreifen, dass es auf die Politik des Umgangs mit den neuen Tatsachen ankommt, anstatt auf das Wunder des „Zurück auf Los“ vor dem Brexit-Referendum zu hoffen.

EU-Gipfel in Salzburg

EU-Präsident Donald Tusk hatte vor dem informellen Salzburger Gipfel Ende September betont, „dass einige der Vorschläge von Premierministerin May von Chequers eine positive Entwicklung des britischen Ansatzes sowie den Willen erkennen lassen, die negativen Auswirkungen des Brexit zu minimieren. Damit meine ich unter anderem die Bereitschaft zu einer engen Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik.“ (offizielles Statement des Europäischen Rats vom 21.9.18). „Entweder Chequers oder kein Deal“ – mit diesem Statement hatte May allerdings eine zu hohe Hürde aufgebaut. Am deutlichsten machte dies Emanuel Macron. Der Daily Telegraph geiferte: „Der französische Präsident zwang Tusk die Ankündigung eines außerordentlichen Gipfels für November in die Tonne zu treten und erklärte: ‚Brexit ist die Wahl der Briten (im Original „British people“) … aufgestachelt von denjenigen, die einfache Lösungen voraussagten … Diese Leute sind Lügner … am Tag nach dem Referendum haben sie sich vom Acker gemacht und müssen somit den Brexit nicht managen.“ Obwohl May im Vorfeld viele Einzelgespräche mit Regierungschefs in Europa geführt hatte, kam sie kam faktisch mit leeren Händen aus Salzburg zurück, was die Wadenbeißer im eigenen Land in der eigenen Partei der Konservativen geifern ließ: „Demütigung“ (humiliation) war das Wort der Stunde. Neuwahlen im November wurden prognostiziert, das eigentliche Problem in einer Führungskrise ausgemacht – Jacob Rees-Mogg (der Ober-Brexiteer): „May’s time as leader is up“. Es kam anders.

Tory-Parteitag in Birmingham

Boris Johnson, der sich gerne als englische Version des Donald-Trump-Politikertyps inszeniert, hat seine Stunde gehabt – gestärkt aber ist die Position von Theresa May aus dem Parteitag hervorgegangen. Der als Nachfolger von May gehandelte Rees-Mogg, der sich wohl noch bis Mitte nächsten Jahres gedulden wird müssen (dort sollen dann Wahlen sein), versucht es mit Anleihen bei der Labour-Partei: „Die Tories sollten mehr wie Labour sein und ihren Aktivisten erlauben, zu debattieren und damit zu helfen, Politik zu entscheiden …“, mehr demokratisches Engagement für die Graswurzelbewegungen würde der Partei Energie liefern. Die Auseinandersetzung innerhalb der Konservativen ist eine strategische: setzt sich Mays Vision eines neuen Konservatismus durch, nachdem sie den sogenannten Cameronismus (nach David Cameron, dem Hauptverantwortlichen dafür, dass das Brexit-Desaster überhaupt auf diese Weise beginnen konnte) abgelöst hat als einzig übrig gebliebene Kandidatin vor zwei Jahren? Sie hat erneut gezeigt, dass sie die Autorität hat, die Partei zu ermahnen: wenn jeder weiterhin seiner Vision eines perfekten Brexits nachjage, sei die Gefahr groß, am Ende keinen Brexit, dafür aber den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu riskieren“. Großer Beifall!

Parteiensystem in Großbritannien im Allgemeinen, Labour im Besonderen

Im Land ohne geschriebene Verfassung mit einer langen demokratischen Tradition und einem Mehrheitswahlrecht, das es „Newcomern schwermacht“ ist, so ein Kommentar von Jochen Buchsteiner in der FAZ vom 5. Oktober, zeige sich eine Robustheit gegen populistische Strömungen, wie sie in anderen europäischen Ländern nicht anzutreffen sei. „Politische Ruhe garantiert das nicht. Viele sehen im Brexit die gleiche populistische Erhebung, die sich in Polen, Ungarn oder Italien in Form von Regierungswechseln vollzogen hat. Aber die Spaltung, die der Brexit in der britischen Gesellschaft verursacht hat, wird anders verdaut als auf dem Festland. Sie verläuft entlang einer politischen Frage, nicht entlang neuer Parteigrenzen. Dass die Auseinandersetzung innerhalb der „großen Zelte“ ausgetragen wird, wie die beiden Volksparteien im Königreich traditionell genannt werden, hat eine integrierende, stabilisierende und auch befriedende Funktion“.

Und Labour?

Erstens: das Mantra: „Wir reden nicht über Vorschläge für die Brexit-Verhandlungen, wir wollen an die Regierung und dann machen wir alles viel besser“, wurde auf dem Liverpooler Parteitag (23. bis 26.9.18) bestätigt. Viele Labour-Mitglieder wollen zwar ein neues Referendum, im Zweifelsfall will Labour gegen ein „schlechtes Brexit-Abkommen“ stimmen (die Abgeordnete in Westminster müssen zustimmen: May hat nur eine knappe Mehrheit von 13 Abgeordneten im 650 Sitze großen Parlament).

Zweitens: „Corbyn gewann 2015 die Wahl zum Parteivorsitzenden mit einem Erdrutschsieg, weil er als Mann von Grundsätzen gilt, der sich nicht beirren und nicht von Wahlkampferwägungen, den Medien oder sonst irgendjemandem beeinflussen lässt. Seine moralische Überzeugung war sein Schwert und Schild“, schreibt Neal Lawson für das Journal „Internationale Politik und Gesellschaft“, eine „Debattenplattform für Fragen internationaler und europäischer Politik“, angesiedelt bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Lichtgestalt hat Flecken bekommen, Antisemitismus wird ihm persönlich vorgeworfen, es stellt sich aber heraus, dass es da ein größeres Problem innerhalb von Labour gibt.

Drittens: mit „Momentum“, einer im Oktober 2015 von Jon Lansman gegründeten Bewegung, die auf lokaler Ebene offene Unterstützungsgruppen für eine linke Position innerhalb Labours gegründet hat und sich für die Vernetzung von „Graswurzelinitiativen“ stark gemacht hat, ist Labour eine viel beachtete Strömung innerhalb der Partei zugewachsen. „Kritiker werfen Momentum vor, hauptsächlich die Abwahl von Corbyn-Gegnern zu beabsichtigen und trotzkistisch unterwandert zu sein. Momentum-Sprecher weisen das mit Blick auf ihre basisdemokratische Orientierung und ihr junges Alter zurück.“ So zitiert Wikipedia den „Telegraph“.

Nächste Termine:

17./18. Oktober: Brexit-Gipfel

29. Oktober: Haushaltsberatungen in London.

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Info: Chequers Plan

Erläuterungen zum sogenannten Chequers-Plan für die Wirtschaftsbeziehungen mit der EU nach dem Brexit (übrigens hat das nichts mit „checken“ zu tun, sondern ist schlicht der Name von Mays Landsitz, auf dem das Kabinett im Juli 2019 den Plan erarbeitet hat):

Der Plan sieht eine Freihandelszone mit der EU für Waren, aber nicht für Dienstleistungen wie Bankgeschäfte vor. Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit des europäischen Binnenmarkts wird abgelehnt. Es wird jedoch ein „Mobilitätsrahmen“ geschaffen, der es britischen und EU-Bürgern ermöglicht, gegenseitig in die Gebiete des anderen zu reisen und sich für Studium und Arbeit zu bewerben.

Das Vereinigte Königreich und die EU werden als „kombiniertes Zollgebiet“ behandelt: das Vereinigte Königreich würde Regelungen gemäß Inlandszöllen und Handelsrichtlinien für Waren, die für das Vereinigte Königreich bestimmt sind, anwenden, für Waren, die schließlich in die EU gelangen würde, aber EU-Zölle und deren Äquivalente. Die Idee ist, dass dadurch die Notwendigkeit einer sichtbaren Grenze zur Republik Irland vermieden würde.

Der Plan sieht Zulässigkeit von eigenen Handelsabkommen vor.

Es wird ein „gemeinsamer institutioneller Rahmen“ zur Auslegung von Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU geschaffen. Dies würde im Vereinigten Königreich von britischen Gerichten und in der EU von EU-Gerichten durchgeführt. Die Entscheidungen der britischen Gerichte würden jedoch „die Berücksichtigung der EU-Rechtsprechung in Bereichen, in denen das Vereinigte Königreich weiterhin ein gemeinsames Regelwerk anwendet“, beinhalten.

Die Fälle werden weiterhin vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Dolmetscher der EU-Vorschriften verhandelt, können aber „keine Streitigkeiten zwischen den beiden Parteien lösen“.