Aus Politische Berichte Nr. 10/2018, S.08 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

dok: Aktionen – Initiativen – Thorsten Jannoff, Gelsenkichen – Thema: Widerstand gegen Rechtsentwicklung

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01 Wir sind mehr! Eine politische Bewegung steht auf. Thorsten Jannoff (e)

02 Professor Dr. Werner Schiffauer, Rede bei der Vollversammlung der Unterstützerkreise von #ausgehetzt

03 Jetzt gilt’s – Gemeinsam gegen die Politik der Angst

04 Essen setzt überwältigendes Zeichen für Demokratie, Vielfalt und Solidarität

05 Hamburg ist jetzt auch „Seebrücke“. Christiane Schneider, Hamburg

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Wir sind mehr! Eine politische Bewegung steht auf

Thorsten Jannoff. Zwei Großdemonstrationen, am 29. September mit rund 25 000 Menschen in Hamburg und am 3. Oktober mit 30 000 bis 40 000 Teilnehmern in München, bilden den vorläufigen Höhepunkt einer Vielzahl von Demonstrationen gegen Rechts, mit pluralistischen politischen Anliegen (gegen rassistische Gewalt, für eine humane Flüchtlingspolitik, gegen repressive Polizeigesetze, für mehr Demokratie etc.) und für eine solidarische Gesellschaft. Bereits Anfang September haben die rassistischen Übergriffe in Chemnitz eine ganze Serie von Demonstrationen unter dem Motto: „Wir sind mehr!“ ausgelöst.

Rund 50 000 Menschen gingen in Chemnitz auf die Straße, 12 000 in Köln, 7.500 in Marburg, 6 000 in Essen, 4 000 in Rostock, 2200 in Gelsenkirchen, 1500 in Duisburg, 1 000 in Heidelberg und 600 Menschen in Bielefeld. Hinzu kamen weitere Demonstrationen und Kundgebungen. Zudem demonstrierten für die „Seebrücke“ in den letzten Wochen Zehntausende, alleine in Hamburg waren es am 2. September über 16 000 und in Berlin über 2 000 Teilnehmer.

Dieser erstarkende Widerstand gegen eine Rechtsentwicklung spricht für die These von Professor Werner Schiffauer, dass die Willkommensbewegung seit 2015 nicht nur eine humanitäre Bewegung zur Unterstützung der Flüchtlinge ist, sondern „eine zutiefst politische Bewegung“. Professor Werner Schiffauer ist Ethnologe, Kulturwissenschaftler, Migrationsforscher und Vorstandsvorsitzender des Rates für Migration. Wir dokumentieren dazu aus einer Rede, die er bei der Vollversammlung der Unterstützerkreise der Großkundgebung #ausgehetzt in München im Frühjahr dieses Jahres hielt.

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Professor Dr. Werner Schiffauer, Rede bei der Vollversammlung der Unterstützerkreise von #ausgehetzt

„(…) dass die Willkommensbewegung wie sie sich, vor allem dann ab 2015 in Deutschland aufgestellt hat, eigentlich weniger eine humanitäre Bewegung ist, das ist sie auch und das haben wir gehört, als eine politische Bewegung. Es ist eine zutiefst politische Bewegung.

Es zeigt sich nämlich, dass in den Projekten, sozusagen auf kommunaler Ebene zuerst mal, sich die Gesellschaft der Bundesrepublik, die Zivilgesellschaft neu aufgestellt und neuformiert hat. Es war weit mehr als Hilfe. Es war eine Reorganisation der kommunalen, der örtlichen, politischen Kultur, die hier stattgefunden hat und wo oft Zivilgesellschaft und die kommunalen Entscheidungsträger, also Bürgermeister, Stadtverwaltungen, an einem Strang gezogen haben, um tatsächlich eine bessere und weltoffenere Stadtgesellschaft zu formieren. (…)

Und damit verband sich ein Bewusstwerdungsprozess, der einmalig in der Nachkriegsgesellschaft war. In der Nachkriegsgesellschaft ist das erste Mal die Frage aufgekommen, ob die Staatsraison, und zwar von der Mittelschicht, nicht von den Randgruppen, ob die Staatsraison tatsächlich der Vernunft letzter Schluss ist, ob die Logik, die immer rechtlich eingeklagt wird: Eine Grenzpolitik ist nur möglich, wenn man auf Abschiebung macht. Wo stehen wir, wenn wir das nicht machen.

Hier wurde eine Bürgerinitiative gelebt und gemacht, was sonst, und das ist meine Erfahrung der 68- Bewegung, oft nur von oben und theoretisch verkündet wurde, als ideologisches Konstrukt und als Gesellschaftskritik theoretisch formuliert wurde. Hier wurde das ganz praktisch gelebt. Hier wurde Gesellschaftskritik ganz praktisch gelebt und umgesetzt.

Mit anderen Worten: Wir haben eine politische Bewegung, die ihre Stärke in der Praxis hat.

Und das ist auch wieder eine Schwäche. Die Schwäche dieser Bewegung bestand darin: Ich habe neulich in Fischbachau bei einem Abendessengespräch gefragt, wo sind denn diese ca. 30% der deutschen Gesellschaft, die diese Bewegung passiv oder aktiv unterstützen, wo sind die in der öffentlichen Meinung? Warum treten sie nicht auf? Und die Antwort war ganz einfach: Die Leute haben keine Zeit.

Die Leute engagieren sich vor Ort in den Gemeinden und haben keine Zeit, noch in die Parteien zu gehen.

Das ist, wie gesagt, die Stärke der Bewegung. Sie hat sich bemerkenswert widerstandsfähig gemacht, vor allem gegenüber dem Druck der öffentlichen Meinung und der politischen Meinung. Sie hat sie aber auch geschwächt, insofern als die Bewegung ihren Widersachern, der Rechten, das Feld der Meinungsbildung weitgehend überlassen hat. Tatsächlich hat es die AfD, Pegida, die rechte CSU und so weiter geschafft, das Feld der öffentlichen Meinung zu monopolisieren und etwa – und das war eines der bemerkenswerten Aha-Erlebnisse, das ich hatte – schon 2015 im Herbst verkündet hat, die Bewegung sei gekippt. Es war absurd. Alle Meinungsumfragen haben zu der Zeit gezeigt, dass die Bewegung keineswegs gekippt ist. Auch jetzt ist sie nicht gekippt. Was wir beobachten ab und zu, dass die Mitte erodiert, dass die Mitte nicht mehr mehrheitlich für uns ist, sondern skeptisch geworden ist, aber die Bewegung ist nicht gekippt!

Und deswegen ist es (…) so großartig, dass sich jetzt in diesem Moment eine politische Bewegung formiert. Dass die Personen, die engagiert sind, zusammenkommen, um sich sichtbar zu machen, und zwar sich gesamtgesellschaftlich sichtbar zu machen. Und das muss nun geschehen. Wir haben eine große Chance: Die Politik ist wahnsinnig beunruhigt, was den Widerstand aus der Mitte der Gesellschaft betrifft. Die Politik ist irritiert davon. Bisher konnte die Politik eine Grundsatzkritik an der Bundesrepublik immer auf die Extremisten schieben… Angesichts der Tatsache, dass die Politik sich auf eine Grenzpolitik versteift, die nachgewiesener Maßen nicht nachhaltig ist. Die zum Scheitern verurteilt ist. Früher oder später.

Was die Bürgerbewegung im Gegensatz dazu geschafft hat, ist es, konkrete Perspektiven aufzuzeigen, wie eine offenere deutsche Gesellschaft gedacht, gemacht und formiert werden kann, und das auf der lokalen Ebene durchzusetzen. Und das ist das Programm, das in diesem Wahljahr irgendwie artikuliert und öffentlich gemacht werden muss.“

Quelle: http://www.forumaugsburg.de/s_5region/Landespolitik/180826_bevorstehende-landtagswahlen-in-bayern-1/index.htm

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Jetzt gilt’s – Gemeinsam gegen die Politik der Angst

Die Verabschiedung des neuen Polizeiaufgabengesetzes durch den bayerischen Landtag ist ein weiterer Schritt in Richtung einer autoritären Gesellschaft. Der Beschluss trotz des massiven Widerstandes in der Gesellschaft, hat nicht nur antidemokratische Tendenzen der amtierenden Landesregierung offenbart, sondern auch den unmittelbaren Abbau von Bürger*innen- und Menschenrechten in Bayern nach sich gezogen… Wir verstehen den Widerstand gegen das Polizeiaufgabengesetz als Teil einer tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, die nicht nur Bayern, sondern Deutschland und ganz Europa erfasst hat. Nationalismus und Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Antifeminismus und LGBTIAQ*-Feindlichkeit sind Facetten eines rechtsautoritären Gesellschaftswandels. Dieser drückt sich nicht nur in direkten Angriffen auf marginalisierte Gruppen aus, sondern findet auch auf staatlicher Ebene immer krassere Formen, unter anderem durch Anker-Zentren, die Einrichtung des bayerischen Landesamts für Asyl und Rückführungen, Kriminalisierung von Seenotrettung, weiterhin stattfindende Abschiebungen nach Afghanistan und die Verabschiedung des sogenannten bayerischen Integrationsgesetzes.

(Aus dem Aufruf zur Demonstration am 3.10. in München)

https://www.nopagby.de

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Essen setzt überwältigendes Zeichen für Demokratie, Vielfalt und Solidarität

Unter dem Motto #wirsindmehr versammelten sich am 13.9. mehr als 6 000 Menschen zur friedlichen Demonstration von 18 bis 21.40 Uhr in der Innenstadt. Dem Aufruf des Bündnisses Essen stellt sich quer hatten sich Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen und Bündnisse aus anderen Städten sowie viele Privatpersonen angeschlossen. Die Organisator*innen waren von der Resonanz überwältigt … Der große Zulauf, so Baumann, sei eine enorme Bestätigung. Dem schlossen sich auch die anderen Redner*innen an. Stets betonten sie die Wichtigkeit, hinzusehen und gegen Rassismus einzutreten. Dafür erhielten sie viel Zuspruch aus dem Publikum, das zu großen Teilen aus jungen Menschen und Familien bestand. Im Verlauf der Demonstration am Abend schlossen sich auch viele Passant*innen an, die in der Innenstadt unterwegs waren.

http://www.essen-stellt-sich-quer.de/index.php/Eq:Hauptseite

Abb. (PDF): Meine Nationalität: Mensch

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Hamburg ist jetzt auch „Seebrücke“

Christiane Schneider, Hamburg

Seit Mitte Juni haben die italienische Regierung und ihr neofaschistischer Außenminister Salvini die italienischen Häfen gegen alles Völkerrecht für Schiffe mit aus Seenot geretteten Geflüchteten gesperrt. Vor allem die privaten Rettungsschiffe von NGOs werden behindert, ihre Besatzungen sind von Kriminalisierung bedroht. Die Folgen sind dramatisch. Obwohl die meisten Geflüchteten die Route nach Italien schon länger meiden und stattdessen nach Spanien auszuweichen versuchen, bleibt die Zahl derer, die im zentralen Mittelmeer den Tod finden, erschreckend hoch. Aufgrund der Sperrung der Häfen waren zeitweise alle NGO-Rettungsschiffe aus dem zentralen Mittelmeer verdrängt. Derzeit ist die „Aquarius“, die seit 2016 mehr als 30 000 Menschen vor dem Tod rettete, noch das einzige private Rettungsschiff dort. Immer wieder wird berichtet, dass Handelsschiffe an in Seenot geratenen Schiffen vorbeifahren, weil sie fürchten, mit Geflüchteten an Bord keine italienischen Häfen anlaufen zu können.

Große Verantwortung für die Katastrophe trägt die EU. Nicht nur, weil sie sich bisher unfähig zeigte, eine humanitäre Lösung für die Aufnahme und Verteilung Geretteter zu entwickeln. Seit langem entziehen sich Kernländer der EU ihrer Verantwortung für die Geflüchteten, die Europa vor allem in Italien, Malta, Griechenland und Spanien erreichen und dann, wenn es ihnen gelingt weiterzureisen, aufgrund von Dublin III dorthin zurückgeschoben werden. Die Dublin-Verordnung erhöht den Druck auf die EU-Außenstaaten, die darauf mit der Verschärfung ihrer Abwehrmaßnahmen an den Außengrenzen reagieren.

Aber es gibt, und das ist die gute Nachricht, viele Kräfte in der EU, die nicht ertragen, dass man Menschen mutwillig ertrinken lässt. Die Bürgermeister der süditalienischen Hafenstädte erklärten sich in einer konzertierten Aktion bereit zur Öffnung der Häfen. Stellvertretend sei hier Renato Accorinti, Bürgermeister von Messina, zitiert: „Wir dürfen die universellen Menschenrechte und die Gesetze der Seefahrt nicht aus dem Auge verlieren, in denen der Mensch unabhängig von der Hautfarbe und dem Herkunftsland unantastbar ist … eine entmenschlichende Politik beantworten wir mit einer Politik der Rechte und der Werte der Menschen.“ Allerdings untersteht die Rettungsleitstelle in Rom, die alleine die Schiffe anweisen kann, welchen Hafen sie anzulaufen haben, der Zentralregierung.

Unterstützt werden die Hafenstädte in ihrem Widerstand auch von Bürgermeistern anderer italienischer Städten; in Mailand, Turin, Livorno und anderswo kam es zu großen Demonstrationen gegen die italienische Regierung und ihre Politik des Ertrinken-Lassens. Von Barcelona ausgehend entwickelt sich das länderübergreifende Netzwerk „Solidarische Städte“ mit jeweils konkreten Programmen für die Aufnahme von Geflüchteten und mit dem gemeinsamen Ziel, den Stillstand der EU aufzubrechen und legale Fluchtwege nach Europa zu schaffen. Rot-Rot-Grün in Berlin hat beschlossen, diesem Netzwerk beizutreten.

Diese europäische Bewegung „von unten“ ist auch in Deutschland angekommen. Zehntausende demonstrierten in den letzten Wochen im Zeichen von „Seebrücke“. Allein in Hamburg waren am 2. September über 16 000 Menschen auf der Straße, Ausdruck einer starken zivilgesellschaftlichen Bewegung, die von einem breiten Bündnis von Sportvereinen bis zu den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen, von politischen Organisationen bis zu Initiativen von Geflüchteten und der Geflüchtetensolidarität getragen wird. Parallel dazu entwickelt sich eine Bewegung von Städten und Gemeinden, die ihre Bereitschaft erklären, aus Seenot Gerettete aufzunehmen, und einen entsprechenden Appell an den zuständigen Bundesinnenminister richten. Erst Köln, Düsseldorf, Bonn im Westen, kurz darauf Wuppertal, Potsdam und dann immer mehr, auch die Hafenstädte Bremen und Rostock, und am 26. September endlich auch Hamburg. Die SPD konnte ihre Politik der Verweigerung angesichts der Großdemonstration und angesichts des Drucks, den die deutliche Positionierung beider christlichen Kirchen sowie der Wohlfahrtsverbände ausübten, nicht länger aufrechterhalten. Der ursprüngliche Antrag der Linksfraktion wurde zwar abgelehnt, ein ähnlicher „Zusatzantrag“ von SPD und Grünen dann aber, auch mit den Stimmen der Linken und der FDP, angenommen.

Welche Kraft diese Bewegung entwickeln kann, muss sich noch zeigen. Aber sie ist spannend, denn sie setzt potenziell nicht nur auf die Bundesregierung unter Handlungsdruck, sondern auch die EU und ihre Institutionen. Sie ist, wenigstens im Ansatz, länderübergreifend. Und sie macht deutlich, dass es immer noch starke Kräfte der Solidarität in den Stadtgesellschaften gibt, also dort, wo die Aufnahme der Geflüchteten stattfindet und wo die weiteren damit verbundenen Aufgaben der Integration geleistet werden müssen.