Aus Politische Berichte Nr. 12/2018, S.20 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Rezensiert: Michael Hartmann: Die Abgehobenen – Eine Kritik an der deutschen Elite und der Politik der sozialen Spaltung

Rüdiger Lötzer, Berlin

Der Verfasser des hier rezensierten Buches, Michael Hartmann, war bis Herbst 2014 Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Er ist ein seit langem bekannter und angesehener kritischer Elitenforscher. „Hartmann steht für die These, dass Herkunft maßgeblich über den Erfolg entscheidet,“ heißt es auf dem Klappentext. Darauf könnte man salopp antworten, dass kennen wir aus dem sozial selektiven deutschen Bildungssystem. Tatsächlich steht Hartmann für eine linke Minderheit in der deutschen Sozialwissenschaft, die sich u.a. auf Studien und Ergebnisse des französischen Soziologen Bourdieu beziehen und deshalb von Anhängern der Systemtheorie als „klassengesellschaftliche Aussageweisen … des 19. Jahrhunderts“ kritisiert werden. (1)

Dementsprechend ist auch sein aktuelles Buch. „Eliten höhlen die Demokratie aus“, ist seine These. „Die Eliten sind in ihrer großen Mehrheit inzwischen so weit von der breiten Bevölkerung entfernt, dass sie zunehmend Schwierigkeiten haben, deren Probleme zu erkennen und die Folgen ihrer Entscheidungen für die Bevölkerung zu verstehen“, wird der Autor im Klappentext zitiert.

Auf 250 Seiten beschreibt Hartmann, wie sich die hiesige Elite – aber auch die in den USA, in Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern zunehmend in einer „Parallelweit mit eigenen Regeln“ bewegt, wie sie die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft durch eine gezielte Steuerpolitik zugunsten der ohnehin Reichsten in der Gesellschaft und einen damit einhergehenden Abb. (PDF): au sozialer Sicherungssysteme systematisch vorangetrieben hat und weiter vorantreibt und wie sie damit auch dem Rechtspopulismus Vorschub leisten, soweit dieser sich auf die Erfahrungen sozialer Ohnmacht und Ausgeliefertsein an Arbeitgeber und staatliche Politik bezieht und daraus Honig für ihre fremdenfeindliche Politik saugt.

Um es kurz zu sagen: Das Buch lohnt sich. Erster Vorteil: Es ist verständlich geschrieben, was nicht für alle sozialwissenschaftlichen Schriften gilt. Und es beschreibt einen Prozeß, der auch andere Sozialwissenschaftler weltweit zunehmend alarmiert, die Herausbildung einer oligarchischen gesellschaftlichen Struktur mit wenigen, extrem reichen Familien, die die gesellschaftlichen Prozesse dominieren und gestalten. Ähnliches hatte u.a. der in dieser Zeitschrift schon rezensierte langjährige Weltbank-Ökonom Branko Milanovic in seinem Buch „Die ungleiche Welt“ analysiert und beschrieben. Hartmann konzentriert sich dabei weitgehend auf die Bundesrepublik Deutschland und die Entwicklungen hier.

Zweiter Vorteil: Hartmann erinnert an die Anfänge des sog. „Neoliberalismus“ durch Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, Zeiten, die gerade die jüngere Generation nur vom Hörensagen oder aus dem Schul- oder Hochschulunterricht kennt. Er erinnert daran, dass sowohl Thatcher wie auch Reagan keineswegs nur mit der bis heute gepredigten „Befreiung der Märkte“ operierten, sondern auch mit brutaler Gewalt gegen die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften. Bei Thatchers Konflikt mit den Bergarbeitern und ihrer Gewerkschaft gab es auf Seiten der Streikenden damals 10 Tote, 3 000 Verletzte und 11 000 Verhaftungen. Reagan Angriff auf die Fluglotsengewerkschaft PATCO führte zur völligen Zerstörung und dem Verbot der Gewerkschaft, zu zahlreichen Festnahmen und einem lebenslangen Ausschluss aller Streikenden aus dem öffentlichen Dienst. Wer weiß das heute noch?

Drittes Merkmal beider Regierungen war die drastische Senkung der Spitzensteuersätze in beiden Ländern und eine damit verbundene beispiellose Bereicherungswelle der ohnehin reichsten Personen bzw. Familien in beiden Ländern. All das setzte hierzulande, auch das dokumentiert Hartmann, durch die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung unter Schröder und Fischer ein und wurde unter den folgenden schwarz-roten wie schwarz-gelben Bundesregierungen bis heute fortgesetzt, während gleichzeitig der Ausbau eines „Niedriglohnsektors“ Millionen Menschen auf einen Lebensstandard drückte, der nach einhelliger Bewertung durch alle Wohlfahrtsverbände bis heute kein menschenwürdiges Existenzminimum abdeckt.

Akribisch, ja direkt boshaft sind die zahlreichen Belege und Zitate, mit denen Hartmann, der der Steuerpolitik und den Finanzministerien dabei eine treibende Rolle beimisst, die vielen Steuerskandale der letzten Jahre beschreibt – angefangen von den zahlreichen Steuerbetrugsfällen reicher Leute und ihrer scheinheiligen Empörung (seien sie nun Unternehmenschefs wie Zumwinkel, aus dem Mediengewerbe wie Alice Schwarzer, aus der Bundesliga wie Hoeness usw. usf.) und der leider frappierende Hinweis, dass weder die Veröffentlichungen der „Panama Papers“ oder „Paradise Papers“ noch das Auffliegen der illegalen „Cum-Ex-Geschäfte“ von den Steuerverwaltungen ernsthaft verfolgt wurden. Immer hielten die Finanzminister – angefangen von Eichel über Steinbrück, Schäuble und jetzt Scholz ihre schützende Hand über die Reichen dieser Republik. Auch die hemmungslose Gier dieser Kreise – angefangen von einem SPD-Finanzminister Eichel, dem seine Ministerpension nicht reichte, über den VW-Betriebsratschef Osterloh und seine kühne These, VW-Chef Winterkorn mit seinem zweistelligen Millionengehalts sei „jeden Cent seines Gehalts wert“, über die sechsstelligen Gehälter von Nachrichtensprechern und Geschäftsführern bei ARD und ZDF – alle kriegen ihr Fett weg. Die Empörung des Autors über diese hemmungslose Selbstbereicherung ist unübersehbar, und sie ist berechtigt.

Wie gegenüber einer solchen, sich zunehmend aus sich selbst rekrutierenden und damit sich abschottenden wirtschaftlichen und politischen Elite eine „linke Mehrheit“ in diesem Land zustande kommen soll, ist am Ende die offene Frage. Hartmanns Verweis auf Leute wie Bernie Sanders in den USA und den neuen Labour-Chef Corbyn wirkt leider wie ein verzweifeltes Pfeifen im Walde.

Trotz dieser Ratlosigkeit am Ende: Die Lektüre lohnt sich. Die sich vertiefende und verfestigende soziale Spaltung in diesem Land ist kein Naturgesetz. Sie ist von Menschen gemacht und sie kann auch von Menschen geändert werden. Es bleibt also Hoffnung.

(1) Volker R. Berghahn, Stefan Unger, Dieter Ziegler (Hg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 11, 2003, Seite 153

Michael Hartmann, Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2018. 250 Seiten, 19,95 Euro.

Abb. (PDF): Buchcover