Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.02 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Über 230 politische Gefangene im Hungerstreik in türkischen Gefängnissen – erster Besuch bei Abdullah Öcalan nach zweieinhalb Jahren

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Die seit Januar 2018 inhaftierte HDP-Abgeordnete Leyla Güven ist seit dem 7. November letzten Jahres in den Hungerstreik für die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan getreten. Ihr gesundheitlicher Zustand ist mittlerweile besorgniserregend. Leyla Güven wurde inhaftiert wegen ihrer Kritik an der Invasion der türkischen Armee in Afrin und weil sie einen Friedensprozesses in der Türkei für notwendig hält. Die Staatsanwaltschaft fordert 31,5 Jahre Haft gegen die Politikerin. Vor dem Gericht in Diyarbakir begründete sie die Aufnahme ihres Hungerstreiks: „Heute wird die Politik der Isolation gegen Herrn Öcalan nicht nur ihm auferlegt, sondern in seiner Person einer Gesellschaft. Isolation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich bin ein Mitglied dieser Gesellschaft. Ich beginne einen unbefristeten Hungerstreik, um gegen die Isolation von Herrn Öcalan zu protestieren. Ich werde mich ab sofort nicht mehr vor dem Gericht verteidigen. Ich werde weiter protestieren, bis die Justiz ihre rechtswidrigen Entscheidungen beendet hat und diese Isolationspolitik beendet ist.“ – Damit hat sie kurz und bündig die politische Entwicklung unter dem AKP-Regime Erdogans seit 2016 zusammengefasst. Im Frühjahr 2016 verhandelte die türkische Regierung noch um einen Friedensplan mit Abdullah Öcalan. Nach den Wahlen im Juni 2016 wurden die Verhandlungen von Präsident Erdogan abgebrochen. Seither waren alle Besuchsanträge von Anwälten und Angehörigen abgelehnt worden. Abdullah Öcalan ist auf der Gefängnisinsel Imrali völlig von der Außenwelt isoliert. Die Eskalation des Konflikts fiel mit der völligen Isolation Abdullah Öcalans zusammen, der in dem Friedensprozess eine entscheidende Rolle gespielt hat. Er repräsentiert die kurdische Freiheitsbewegung.

In 40 Gefängnissen haben sich über 230 politische Gefangene dem Hungerstreik Leyla Güvens angeschlossen, davon 91 Gefangene unbefristet. Fast täglich kommt es zu Übergriffen auf die Hungerstreikenden, viele sitzen jetzt in Bunkerhaft. In der Türkei gibt es eine Welle von Aktionen zur Unterstützung der Gefangenen und für die Aufhebung der Isolationshaft Öcalans. Am 67. Tag des Hungerstreiks von Güven konnte nach zweieinhalb Jahren Mehmet Öcalan seinen Bruder auf Imrali besuchen – ein erster Erfolg der Aktionen. Die Gefangenen erklärten tags drauf, dass sie den Hungerstreik fortsetzen werden, bis die Isolation von Abdullah Öcalan endgültig aufgehoben ist.

Auf der ganzen Welt finden Solidaritätsaktionen und -hungerstreiks statt. Auch in Deutschland und in Straßburg vor dem Sitz von Europarat und Europäischen Antifolterkomitee. Mehrere Europaabgeordnete der Fraktion Europäische Linken/Nordische Grüne und der Grüne/EFA finden die Forderungen von Leyla Güven völlig legitim und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention auch notwendig. Mehrere große Gewerkschaften Englands unterstützen dies ebenfalls.

In der deutschen Öffentlichkeit hat das Anliegen der Hungerstreikenden bisher kaum einen Widerhall. Die Eingabe „Hungerstreik Leyla Güven“ in Internetsuchmaschinen zeigt das deutlich. Bei Diskussionen ist Kritik an dem Mittel des Hungerstreiks zu hören. Was haben denn die Gefangenen in der Türkei für Mittel? Die Rechtsstaatlichkeit ist dort schon lange außer Kraft. Der inhaftierte ehemalige HDP-Vorsitzende und Abgeordnete Selahattin Dermitas charakterisiert die Entwicklung in der Türkei als „ein autoritäres, tyrannisches und von der Demokratie losgelöstes Land“.

Mitglieder der damaligen Bundesregierung und der Europäischen Kommission begrüßten 2016 den Friedensplan und hoben Abdullah Öcalans Rolle dabei hervor. Haben diese jetzt nur Euro- und Dollarzeichen vor Augen ob der prima Kriegs- und Zivilgeschäfte mit der Türkei, dem von Europa finanzierten Grenzzaun gegen Syrien? Es ist an der Zeit, sich wieder an die fundamentalen Menschenrechte zu erinnern und politisch zu handeln. Leyla Güven ist seit 70 Tagen im Hungerstreik. Was soll noch passieren? Solidarität mit den politischen Gefangenen und den Hungerstreikenden in der Türkei ist dringend geboten.

Abb.(PDF): Am 13. Januar wurde eine Delegation von HDP- und europäischen Abgeordneten und Anwälten vor dem Gefängnis von Leyla Güven von der Polizei gestoppt. Zur Delegation gehören u.a. die Sinn Fein-Abgeordnete Martina Anderson und Julia Word von der Labour Party sowie Anwälte aus Irland, England und Italien.

Abb.(PDF): Am 12. Januar demonstrierten in Paris 15 000 Menschen in Gedenken an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez. Die drei kurdischen Politikerinnen waren im Januar 2013 in Paris erschossen worden. Die Mörder stammen aus dem Umfeld des türkischen Geheimdienstes. Die Vorsitzende der Parti de Gauche, Danielle Simonnet, forderte endlich ihre Bestrafung. Sie kündigte an, zu dem Prozess von Leyla Güven am 25. Januar zu fahren, und forderte eine Unterstützung Frankreichs für Rojava. Der Generalsekretär der KPF forderte eine Flugverbotszone für Rojava und internationale Garantien vom UN-Sicherheitsrat für die Kurden. Die stellvertretende Pariser Oberbürgermeisterin Hélène Bidard ging in ihrer Rede auf den Kampf der kurdischen Frauen ein und sagte: „Der Frühling der Frauen lässt sich nicht aufhalten.“