Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.06 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Die Türkei will ihre Besatzung in Nordsyrien militärisch weiter ausdehnen

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

01 Dok: Zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien

Die Türkei agiert in Nordsyrien auf einem 4 000 Quadratkilometer großem Gebiet (Dscharabulus, al-Bab und Asas) als Besatzungsmacht. Dieses Gebiet wurde im Rahmen der türkischen Militäroffensive vom August 2016 bis März 2017 besetzt. Zu diesem Ergebnis kommt das von der Linksfraktion beauftragte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 21. Dezember 2018. Angezweifelt wird darin die Rechtfertigung der türkischen Militärpräsenz als Selbstverteidigung gegen den IS und „kurdische Terroristen“. In dem Gutachten wird von dem Aufbau türkischer Verwaltungs-, Geld- und Infrastrukturen bis zu Einführung von Türkisch in den Schulen berichtet.

Den türkischen Angriff von Januar bis März 2018 auf Afrin, die angrenzende Region zu dem obigen Gebiet, hatte der Wissenschaftliche Dienst in einem früheren Gutachten als Angriffskrieg gedeutet. Die Türkei hat nun den Nordwesten Syriens vom Mittelmeer bis Afrin besetzt.

Präsident Erdogan kündigte vor der UN-Vollversammlung Ende letzten Jahres die Absicht einer vollständigen „Säuberung“ Nordsyriens von den in den letzten Jahren entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava an. Der Wissenschaftliche Dienst stellt dazu fest, dass völkerrechtlich die Zielsetzung der Türkei, „staatlich-kurdische Strukturen in Nordsyrien verhindern zu wollen“ keine Rechtfertigung für einen militärischen Einsatz geben.

Hier stellt sich die Frage des Einsatzes deutscher Waffen bei dem Angriffskrieg der Türkei. Normalerweise werden Lieferungen von Militärgut mit Einsatzauflagen verbunden. Bei den Leopardpanzern, die im Stadtzentrum von Afrin mit türkischen und dschihadistischen Kräften einfuhren, wurde festgestellt, dass sie ohne diese Auflagen geliefert worden waren. Ist das auch der Fall bei den anderen Waffensystemen, für die zig Millionen in die Kassen der deutschen Rüstungsindustrie flossen und die mit öffentlichen Hermesbürgschaften abgesichert sind?

Von Moral wollen wir gar nicht mehr sprechen, aber davon, dass die Bundesregierung und die Rüstungsfirmen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg unterstützen und auch die wohl auf Dauer angelegte Besetzung Nordsyriens.

Der Aufmarsch der türkischen Armee für den Angriff auf Rojava ist fast abgeschlossen. An der Grenze zu Kobane und an der nordirakischen Grenze zu Sengal (Sinjar) sind die Truppen massiert und warten auf den Einsatz.

Die türkische Diplomatie befindet sich deshalb im Dauereinsatz in Verhandlungen mit den USA und Russland. Vorwände für den Angriff werden auch geschaffen: In Idlib lässt die Türkei derzeit den mit ihr verbündeten al-Qaida-Gruppen freie Hand.

Ohne internationale Garantien für die Selbstverwaltungsgebiete von Rojava rückt die Aussicht auf eine mögliche Zukunft ohne Krieg in Syrien weiter in die Ferne. Das sollte die Politik der Bundesregierung umtreiben, nicht neue Rüstungsgeschäfte. Und hier ist auch die alte und neue Friedensbewegung in Deutschland gefragt.

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Dok: Zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien

Wissenschaftliche Dienste, Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 183/18, Abschluss der Arbeit: 21. Dezember 2018 | Fussnoten des Originals nicht wiedergegeben.

1. Zur türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien

Im Rahmen der Militäroffensive „Schutzschild Euphrat“ haben türkische Truppen zwischen August 2016 und März 2017 ein ca. 2000 Quadratkilometer großen Gebietes im Norden Syriens eingenommen, welches die Städte Dscharabulus, al-Bab und Asas umfasst und seitdem von der Türkei kontrolliert wird. Aktuelle Presse- und Medienberichte über die Situation in Nordsyrien bleiben indes weitgehend fragmentarisch: Berichtet wird etwa darüber, dass türkische Firmen und Institutionen in den Regionen um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens allgegenwärtig vertreten seien. Auch habe die Türkei in den Städten Verwaltungsstrukturen etabliert. Eingerichtet worden seien türkische Telefonnetze und türkische Postämter; es gebe Geldautomaten, welche türkische Lira ausgeben; Supermärkte mit türkischen Produkten sowie medizinische und Bildungseinrichtungen. In den Schulen würde Türkisch als Fremdsprache eingeführt. Auf den Straßen sorgten von der Türkei ausgebildete Polizeikräfte für Ordnung. Die eigentliche Macht liege indes in der Hand des türkischen Militärs und des türkischen Geheimdienstes.

Im Januar 2018 startete die türkische Armee gemeinsam mit verbündeten Milizen der Freien Syrischen Armee die Militäroffensive „Operation Olivenzweig“ gegen die YPG in der nordsyrischen Region Afrin. Diese mündete in der Einnahme von Afrin im März 2018, so dass Ankara nun den ganzen Nordwesten Syriens kontrolliert.

Nach Angaben der türkischen Regierung handele es sich dabei um ein ca. 4000 Quadratkilometer großes Gebiet, welches jedoch nicht Teil der Türkei werden solle. Vielmehr betonte Staatschef Recep Tayyip Erdogan im Oktober 2017, dass er es nicht darauf anlege, Nordsyrien quasi „zur 82. Provinz der Türkei“ zu machen. Seinen Angaben zufolge wolle die Türkei dieses Land nicht besetzen, sondern strebe an, dass seine rechtmäßigen Besitzer dorthin zurückkehrten. Wie lange die türkische Präsenz im Nordwesen Syriens dauern soll, ist ungewiss.

2. Völkerrechtliche Einordnung

Zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien wurden aktuelle Berichte aus den deutschen und – soweit verfügbar – englischsprachigen türkischen Medien herangezogen.

Offizielle Stellungnahmen der türkischen Regierung zu den sicherheitspolitische Zielsetzungen der Türkei – insbesondere zur Dauer der türkischen Militärpräsenz – sowie Informationen über die konkrete Ausgestaltung der Verwaltungsstrukturen in den von der Türkei eingenommenen Gebieten, bei denen türkische Hoheitsgewalt auf eine Gemengelage aus kurdischer Autonomie und syrischem Landesrecht trifft, liegen den Wissenschaftlichen Diensten nicht vor. Eine entsprechende Anfrage an die türkische Botschaft in Berlin vom 6. Dezember 2018 blieb bis dato unbeantwortet.

Im Folgenden werden die im Zusammenhang mit der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien in Medienberichten immer wieder verwendeten (völkerrechtlichen) Kategorien der Annexion, des Protektorats und der Besatzung dargestellt und – soweit dies angesichts der verfügbaren Informationen möglich ist – im Hinblick auf die Situation vor Ort erörtert.

2.1. Annexion • Die Annexion bezeichnet einen gewaltsamen und damit völkerrechtswidrigen Gebietserwerb durch den annektierenden Staat. Merkmal der Annexion ist eine vollständige, dauerhafte und effektive Inbesitznahme eines Gebietes gegen den Willen des annektierten Staates und unter Ausschaltung der dort herrschenden Staatsgewalt. Eine effektive Inbesitznahme liegt nicht vor, wenn in dem zu annektierenden Gebietsteil ein nicht unerheblicher Bestandteil fremder Staatsgewalt zurückbleibt. Ebenso deuten Kampfhandlungen zwischen dem Territorialstaat und dem annektierenden Staat darauf hin, dass die Annexion noch nicht vollzogen ist. Beispiele für Annexionen sind z.B. die irakische Einnahme Kuweits im August 1990 oder die russische Annexion der ukrainischen Krim im Jahre 2014.

Die türkische Militärpräsenz im Nordwesten Syriens lässt sich derzeit nicht als eine Annexion bezeichnen, da es der türkischen Regierung – soweit ersichtlich – an der Absicht fehlt, das syrische Territorium in den Regionen von Asas, al-Bab, Dscharablus und Afrin dem türkischen Staatsgebiet einzuverleiben und als eigenes Territorium zu behandeln.

2.2. Protektorat • Dem Begriff des Protektorats bzw. des „protegierten Staates“ unterfällt eine Vielzahl von Beziehungen mit unterschiedlichen Abhängigkeitsgraden über eine Zeitspanne, die von wenigen Jahren bis mehreren Dekaden reichen kann. Protektorate werden im gegenseitigen Einvernehmen zwischen zwei Völkerrechtssubjekten begründet. Ziel ist es, das Protektorat vor Übergriffen anderer Staaten bzw. vor inneren Unruhen zu schützen; dazu erhält die Protektoratsmacht bestimmte außen- und sicherheitspolitischen Befugnisse über den Protektoratsstaat. Üblicherweise liegt dem Protektorat ein Vertrag zwischen den beteiligten Staaten zugrunde. Entscheidendes Merkmal dieses Vertrages ist der vollständige Übergang der auswärtigen Gewalt auf die Protektoratsmacht, während der Protektoratsstaat für die Ausübung seiner inneren Angelegenheiten zuständig bleibt. Ein Protektorat unterscheidet sich von einem annektierten Gebiet dadurch, dass es nicht Teil des Staatsgebietes der Protektoratsmacht ist.

Angesichts des Umstandes, dass die türkische Militärpräsenz in Nordsyriens nicht auf gegenseitigem Einvernehmen mit der syrischen Zentralregierung beruht, sondern eine Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien voranging, lässt sich – entgegen der Bezeichnung in Presseberichten – völkerrechtlich nicht von einem türkischen Protektorat in Nordsyrien sprechen.

2.3. Besatzung • Der Begriff der militärischen Besatzung (occupatio bellica) bestimmt sich nach Art. 42 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907. Danach gilt ein Gebiet besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet. Die Besatzung bezieht sich dabei auf die Gebiete, in denen diese Gewalt i.S.e. effektiven Kontrolle hergestellt ist und ausgeübt werden kann. Die Besatzung ist eine Form der Fremdherrschaft und als solche stets provisorischer Natur. Die Besatzungsgewalt überlagert dabei die nationale Hoheitsgewalt in den besetzten Gebieten. Gleichwohl soll die Besatzung nach Möglichkeit unter Beachtung der Landesgesetze erfolgen (Art. 43 HLKO).

Den meisten Fällen geht der Besatzung einen militärischen [sic] Einmarsch voraus, die [sic] für sich genommen allerdings noch keine Besatzungssituation begründet. Wann eine militärische Invasion in eine Besatzung umschlägt, lässt sich nicht immer eindeutig festmachen. Die Proklamation einer Besatzung ist – ebenso wie eine Kriegserklärung – jedoch nicht notwendig und hat, wenn sie denn überhaupt erfolgt, nur deklaratorischen Charakter. Die Rechtmäßigkeit der militärischen Invasion sowie die Rechtmäßigkeit der Besatzung selbst sind für die Anwendbarkeit von Besatzungsrecht irrelevant. Unerheblich ist auch eine Selbstbezeichnung der Invasoren als „Befreier“ (statt: „Besatzer“).

Die Besatzungsmacht unterliegt besonderen Rechtspflichten: So gelten in besetzten Gebieten insbesondere die Regeln der HLKO (Art. 42 ff.), das IV. Genfer Abkommen (Art. 47 ff.) sowie Grundrechte der örtlichen Bevölkerung (Art. 46 HLKO). Auch internationale Menschenrechte (insb. das ius cogens) sind von der Besatzungsmacht einzuhalten. Die Besatzungsmacht darf sich gem. Art. 55 HLKO lediglich als Verwalter bzw. Nutznießer gerieren – eine Einverleibung des besetzten Gebietes in das Territorium der Besatzungsmacht ist damit ausgeschlossen. Plünderungen, Deportationen und Bevölkerungstransfers sind ausdrücklich verboten (Art. 47 HLKO, Art. 49 des IV. GA); eine Evakuierung bestimmter Gebiete ist dagegen aus militärischen Gründen zulässig.

Die Besatzungsmacht ist für die Wohlfahrt der ansässigen Bevölkerung verantwortlich und hat die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten (Art. 43 HLKO). Weiter muss die Besatzungsmacht die Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Leistungen sowie die Instandhaltung notwendiger Elemente der Infrastruktur sicherstellen (Art. 55 f. des IV. GA). Eine Besatzungsmacht unterliegt den besatzungsrechtlichen Pflichten unabhängig davon, ob die Besatzung an sich völkerrechtskonform ist oder nicht.

Bei Lichte betrachtet erfüllt die türkische Militärpräsenz in der nordsyrischen Region Afrin sowie in der Region um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung.

Unerheblich für die völkerrechtliche Qualifikation einer Militärpräsenz als „Besatzung“ ist auch die rechtliche Bewertung einer vorausgegangenen Militäroffensive. Die im Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste vom 7. März 2018 zur „Operation Olivenzweig“ geäußerten rechtlichen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des militärischen Vorgehens der Türkei in Nordsyrien im Hinblick auf Umfang, Ziele und Dauer der Militäroperation beziehen sich auf die Frage der Ausübung (bzw. der Verhältnismäßigkeit) des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 VN-Charta im Rahmen eines (noch) andauernden bewaffneten Konflikts und nicht auf die nachfolgende Besatzung, die rechtlich erst mit Einstellung der Kampfhandlungen beginnt. Wann die türkische Besatzung nordsyrisch-kurdischer Gebiete begonnen hat, lässt sich daher nicht auf den Tag genau festlegen.

Sowohl die türkische Militäroperation „Olivenzweig“ ab Ende Januar 2018 als auch die nachfolgende und bis heute andauernde türkische Militärpräsenz in Nordsyrien stützt sich rechtfertigungshalber auf das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 VN-Charta. Voraussetzung für das Selbstverteidigungsrecht ist ein gegenwärtiger bzw. andauernder bewaffneter Angriff gegen die Türkei. Die militärpolitische Zielsetzung, staatlich-kurdische Strukturen in Nordsyrien verhindern zu wollen, reicht dazu nicht aus. Solange vom sog. „Islamischen Staat“ (IS) oder von kurdischen Milizen tatsächlich (Raketen-)Angriffe in Form von terroristischen Anschlägen ausgehen, ist die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht zulässig.

Das Selbstverteidigungsargument verliert jedoch mit der territorialen Schwächung des „IS“ in Syrien sowie mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu jener – damals schon umstrittenen – Selbstverteidigungslage, auf die sich die Türkei im Januar 2018 berufen hatte, zunehmend an rechtlicher Tragfähigkeit.

Im Zuge des von US-Präsident Trump am 19. Dezember 2018 überraschend angekündigten Abzugs aller amerikanischen Streitkräfte aus Syrien bereitet die Türkei offenbar eine weitere Offensive in Nordsyrien vor. Ob eine türkische Besetzung größerer kurdisch-syrischer Gebiete südlich der türkischen Grenze völkerrechtlich notwendig ist, um die Türkei vor – fortlaufenden – Angriffen durch kurdische Milizen bzw. den „IS“ zu schützen, lässt sich trotz des militärpolitischen Einschätzungsspielraums, den man der Türkei bei dieser Frage zubilligen muss, durchaus bezweifeln.