Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.19 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

„Wir starten nicht von Null!“. Aus dem „Maschinenraum Europas“

Eva Detscher, Karlsruhe

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„Hier sind politische Akteure unterwegs, die ein anderes Europa und die EU umbauen wollen. Und sie haben einen Plan.“ Das schreibt Harald Pätzolt als Fazit einer Notiz über einen Auftritt des polnischen Botschafters in Deutschland auf einer Veranstaltung der Katholischen Akademie Berlin an 12.11.2018. Gemeint sind die Rechten, die mit ihren Parteien in einigen Ländern der EU Regierungen bilden, in der Regel angetreten sind mit lauter und vernichtender Kritik an der bestehenden EU. Die AfD, angetreten mit „Raus aus dem Euro“, springt derzeit auf diesen Zug auf: „Wir wollen die EU an Haupt und Gliedern reformieren, und wenn wir über einen sehr langen Zeitraum (Hervorhebung durch E.D.) feststellen, das geht immer weiter in die Richtung Vereinigter Staaten von Europa, dann wäre irgendwann der Punkt, wo man auch sagt, wir ziehen jetzt die Reißleine. Aber der Dexit ist nicht unser eigentliches Ziel, sondern er ist die Ultima Ratio für den Fall, dass alles andere nicht funktionierte,“ so Meuthen im DLF-Interview am 11.1.2019.

Dies ist die Ausgangslage für die Perspektiven, denen sich die neuen Europa-Parlamentarier nach den Wahlen am 26. Mai gegenübersehen werden. Die Rechten arbeiten an einem Plan der Okkupierung der EU für ihre völkischen und nationalistischen Ziele, und wenn der Rest nicht aufpasst, kann es heiter werden.

Es ist nützlich, die zu fragen, die seit Jahren auf der europäischen Ebene arbeiten, sei es als Abgeordnete, sei es als Mitarbeiter oder Berater. Diese Menschen haben es jeden Tag mit den konkreten Fragen und Auseinandersetzungen zu tun, über die seit über 50 Jahren ein europäischer Lebens-, Arbeits- und Rechtsraum entwickelt wird. Thilo Janssen ist Mitarbeiter der Linken-EP-Abgeordneten Gabi Zimmer, Henrik Andersen Mitarbeiter bei der Enhedslisten, dänische Linkspartei. Im Folgenden ein Bericht über ihren Beitrag auf einem dreitägigen Seminar im Juni 2018 in Wien, welches von transform!Europa gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Titel „Das Lachen der Medusa: Die Linke in Europa“ [*] organisiert wurde.

„Für einen sozialen Konsens (innerhalb der (zukünftigen) GUE/NGL und darüber hinaus)“

„Wir sind mit Inhalten konfrontiert, nicht damit, wie die Linke zusammenkommen kann. Wir brauchen Ergebnisse, wir sehen uns als Arbeiter im Maschinenraum und möchten mit dem Vortrag über uns reflektieren.“ Mit dieser Einlassung wiesen die beiden Referenten auf die Ausgangsannahmen hin: eine Einigung der linken Parteien in Europa VOR den Wahlen wird nicht eintreten. Es geht ihnen um die Frage, was passiert, wenn die Wahlen erfolgt sind. Wie wird die Sitzverteilung sein? Wird es noch eine GUE/NGL geben oder eher weitere Zersplitterung der linken Kräfte? Dann muss entschieden werden, wie im Parlament gearbeitet wird und zwar im täglichen Ablauf. Welche Punkte sehen die Mitarbeiter auf „unterer Ebene“, die in vielen Aufgaben zusammenarbeiten müssen? Thilo und Hendrik stellten fünf Punkte vor, die sie als gemeinsame Leitplanken aus der Vergangenheit und als mögliche Orientierung für eine breite Allianz bei der parlamentarischen Zusammenarbeit ausmachen:

1. Wirtschaftliche Divergenz und Prekarität

2. Klimawandel

3. Digitalisierung

4. Migration

5. Demographie

Diese fünf Punkte wurden von den Referenten skizziert und auch benannt, gegen welche Bestimmungen in den EU-Verträgen man sich positionieren muss, um auf gesellschaftlichen Konsens in Richtung sozialer Sicherheit hinzuarbeiten: Die Regelungen Markt- und Steuergesetze in den Verträgen sehen die Referenten als Schnittstellen und Ansatzpunkte. Nicht-bindende Grundsätze (EU-Pillar of Social Rights) könnten keine Abhilfe schaffen und keinen sozialen Fortschritt einleiten.

Vier Aufgabenfelder für konkrete Ansätze einer Zusammenarbeit im zukünftigen EU-Parlament

Richtung auf soziale Sicherheit

Ein Arbeitsprogramm könnte
folgende Punkte umfassen:

1. Binnenmarktregeln überarbeiten: Öffentliche Daseinsvorsorge von den Wettbewerbsregeln ausnehmen und die Gleichbehandlung von Commons etc. Non-Profit muss geschützt werden. Vereinbarungen für Regionen, die stärker benachteiligt sind, seien nötig.

2. EU-Haushaltsregeln: Sozialausgaben ausnehmen.

3. Öffentliche Investitionen: Demokratische Prioritäten für Sozialinvestitionen.

4. Steuergerechtigkeit: Progressive Steuern, wo Gewinne erzielt werden. Gewinn dort versteuern, wo er entsteht.

5. Ökosozialer Übergang: Schutz der natürlichen Ressourcen, des Klimas und der Menschen.

6. Sozialprotokoll im Anhang zu den Verträgen: Vorrang von sozialen Rechten, Streikrecht, Grundrechte.

7. Soziale Mindeststandards: Aufwärtskonvergenz für die Sozialversicherung als ein Werkzeug, z.B. mit dem Instrument der Richtlinien.

8. Finanzielle Solidarität: Unterstützung weniger entwickelter Länder und Regionen

9. Kollektive soziale Rechte: Verteidigung von Kollektivmaßnahmen und Streikrecht

10. Regulierung der Arbeit (der Arbeitsmärkte): Mindestlöhne – Arbeitszeit – neue Formen der Arbeit.

Blick auf die EU Sozialpolitik Agenda 2018

Thilo und Hendrik wiesen darauf hin, dass große Aufgaben und viel Arbeit in 2018 auf der Tagesordnung der EU stehen (bzw. gestanden sind), die Ansatzpunkte bieten und Fortschritte bzw. Aufgabenfelder markieren und mit denen die Abgeordneten und die Mitarbeiter tagtäglich beschäftigt sind: z.B. Entsenderichtlinie, Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Einrichtung einer Arbeitsmarktbehörde, Richtlinie über die Arbeitsbedingungen, Angleichung und Koordination der Sozialversicherungsvorschriften, EU-Haushalt (2021 – 2027). Bei der Befassung mit diesen Aufgaben geht es viel darum, Lücken zwischen den verschiedenen Regionen zu schließen. Viele Abgeordnete in der GUE/NGL-Gruppe wollen in diesen Fragen zu Ergebnissen zu kommen, keiner ist eine Insel, jeder zählt. Ein großes Aufgabengebiet für alle Delegationen in der GUW/NGL, egal ob Kommunisten oder Sozialisten) sei die Abstimmung mit den Gewerkschaften.

Perspektive

Das klingt alles nach viel Arbeit und Mühe, was nicht jedem gefällt, der sich in Kritik an der EU übt. Mit den „nächsten Schritten“, die den Vortrag abschlossen, haben die Referenten einen anschlussfähigen Blick nach vorne gerichtet:

„Einigung über den sozialen Konsens; Hegemonie gewinnen; Macht übernehmen; neuen EU-Verträgen zustimmen … für diejenigen, die beitreten wollen; Sozialismus“

Das Worst-Case-Szenario, das die Referenten sich ausmalten, besteht darin, dass zwei kleine linke Gruppen, statt einer größeren im neuen EU-Parlament sein werden, dass es weniger Mitglieder dieser Gruppe im EU-Parlament werden könnten und dass die extreme Rechte die wichtigste Opposition im EP würde.

Schlussbemerkung:

Auf dem Seminar in Wien mit Anwesenden aus über 20 Ländern Europas hat der Vortrag großen Eindruck gemacht. Die Einzelfragen zu sehen, sich darauf einzulassen, und sich auf allen Ebenen zu organisieren, vom europäischen Raum zurück auf die Gebietsebenen und zurück in den europäischen Raum zu denken – das war der Punkt, der begriffen werden sollte:

„Wir starten nicht von Null.“

Abb.(PDF): Vier Aufgabenfelder für konkrete Ansätze einer Zusammenarbeit im zukünftigen EU-Parlamen

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[*] Seit 2014 führt transform!Europe, die anerkannte politische Stiftung der Partei der Europäischen Linken (EL), gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung jährlich ein Strategieseminar durch, das „sich auf die politischen Akteure der radikalen Linken in Europa (konzentriert) und ihre Fähigkeit, programmatische und strategische Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu geben, Alternativen zu entwickeln und Formen der politischen Organisation weiterzuentwickeln.“

Website von transform!Europe: https://www.transform-network.net/de

Website zum Seminar 2018: https://www.transform-network.net/en/focus/overview/article/strategic-perspectives-of-the-european-left/the-laugh-of-the-medusa-the-left-in-europe-1/