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ARCHIV

Nr.7/2019, S.21

100 Jahre polnische Arbeitsinspektion

01 Arbeitsgesetzbuch oder Tarifverträge? – das Dilemma der polnischen industriellen Beziehungen

Jakub Kus, Warschau

Die Arbeitsinspektion in Polen spielte schon immer eine besondere Rolle. Am 3. Januar 1919, ein paar Monate nachdem Polen seine Unabhängigkeit nach über 120 Jahren wiedererlangt hatte, erließ Józef Piłsudski ein einstweiliges Dekret über die Einrichtung und Tätigkeit der Arbeitsinspektion. So wurde eine Inspektionsbehörde ins Leben gerufen, die ein breites Spektrum an Kompetenzen hatte und die als Teil der Regierungsadministration fungierte. Józef Piłsudski, der ursprünglich ein radikaler Sozialist war, hatte in seiner frühen Phase der politischen Tätigkeit sehr fortschrittliche Ansichten. Diese Ansichten änderten sich erst in der 2. Hälfte der Zwanzigerjahre, als er nach dem Putsch 1926 anfing, sein autoritäres Regime aufzubauen. Er unterstützte stets die Arbeitsinspektion, die in der Zwischenkriegszeit wichtig für die Gestaltung eines arbeiterfreundlichen Arbeitsmarktes war. Am 14. Juli 1927 erließ der Präsident der Republik Polen eine Verordnung über die Arbeitsinspektion, die ihr noch weitere Kompetenzen zuwies.

Die Arbeitsinspektion agierte bis Anfang des Zweiten Weltkriegs 1939. Viele Mitarbeiter der Inspektion sind den Besatzern im Laufe der Aktion zum Opfer gefallen, die die Entfernung aller Beamten zum Ziel hatte. Als eine besondere Persönlichkeit der polnischen Arbeitsinspektion gilt Halina Krahelska. Kurz vor ihrem Tod im KZ Ravensbrück erarbeitete sie 1945 „Die Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsinspektion im unabhängigen Polen nach dem Zweiten Weltkrieg“. Viele Ihrer Empfehlungen wurden bei der Neugestaltung der Arbeitsinspektion nach dem Zweiten Weltkrieg berücksichtigt. Der Halina-Krahelska-Preis gilt heute als die wichtigste Auszeichnung im Bereich des Arbeitsschutzes.

1946 wurde das Ministerium für Arbeit und Soziales mit sämtlichen Angelegenheiten bezüglich der Sicherheit, Hygiene und des Arbeitsschutzes beauftragt. Es wurde auch eine Ministerien übergreifende Zentrale Kommission zur Arbeitssicherheit und zum Arbeitsschutz gegründet. Ebenfalls wurden ihre Pendants in 20 Arbeitsbereichen ins Leben gerufen. Sie war u.a. für die Durchführung von Kontrollen in Hochrisikobetrieben zuständig. Ab 20. März 1950 unterlag die Arbeitsinspektion den Nationalräten, was durch das Gesetz über territoriale Einrichtungen der einheitlichen Staatsgewalt bestimmt wurde. 1950 wurde ein Schulungszentrum der Staatlichen Arbeitsinspektion in Breslau gegründet, das später eine wichtige Rolle bei den Schulungen und der Forschung sowie bei der Standardisierung der Tätigkeit der Arbeitsinspektion spielte. In der Zeit des Stalinismus wurde die Tätigkeit der Inspektion in Polen eingeschränkt. Die Prioritäten für die kommunistisch ausgerichteten Behörden waren: Die Steigerung der Produktion, der Aufbau des Landes und ein gegenseitiger Wettbewerb, der sehr oft auf Kosten der Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter stattfand. In dieser Situation verfügte die Arbeitsinspektion nur theoretisch über breite Kompetenzen. In der Praxis hatte sie aber beschränkte Handlungsmöglichkeiten.

Am 10. November 1954, durch das „Dekret zur Übernahme der Aufgaben im Bereich der Ausführung der Gesetze zum Arbeitsschutz und zur Arbeitssicherheit durch die Gewerkschaften“, wurde die Arbeitsinspektion in die gewerkschaftlichen Strukturen einbezogen. Die bisher territoriale Arbeitsinspektion wurde in eine industrieabhängige, technische Arbeitsinspektion umgewandelt. Die scheinbare Abstufung der Inspektion stärkte in Wirklichkeit deren mögliches Potenzial. Die politisch von der Regierung unabhängigen Gewerkschaften verfügen über eine große Handlungsautonomie in Betrieben, was eine effiziente Arbeitsweise der Inspektion ermöglichte. Nach den Streiks 1980 und Gründung einer unabhängigen, gewerkschaftlichen Bewegung, wurde am 6. März 1981 ein Gesetz über die Staatliche Arbeitsinspektion (PIP) verabschiedet, die die Ausführung des Arbeitsrechts, insbesondere der Arbeitssicherheit, überwachen sollte. Die Regierung wollte die Arbeitsinspektion „übernehmen“ und den Einfluss der Gewerkschaften auf sie unterbinden. Seitdem unterlag die Inspektion dem Nationalrat. Am 29. Mai 1989, im Laufe der politischen Transformation, wird die Staatliche Arbeitsinspektion dem polnischen Parlament (Sejm) untergeordnet. Diese außergewöhnliche Lösung gilt bis heute, obwohl die Regierung mehrmals versucht hat, auf die Inspektion Einfluss zu nehmen.

1990 wurde der Rat für Arbeitsschutz ins Leben gerufen, der die Arbeitsbedingungen und die Staatliche Arbeitsinspektion überwacht. Er ist ein Beratungsorgan des polnischen Parlamentspräsidenten. Im Rat sitzen Parlamentsmitglieder, Vertreter der Regierung, Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen sowie Vertreter sozialer Einrichtungen, die sich mit dem Arbeitsschutz befassen. Zum Rat werden auch Experten und Wissenschaftler berufen.

Nach dem 1. Mai 2004, nach Polens Beitritt zur Europäischen Union, wurde die Staatliche Arbeitsinspektion (PIP) zum vollwertigen Mitglied des Komitees der Hohen Arbeitsinspektoren.

Am 13. April 2007 wurde ein neues Gesetz über die Staatliche Arbeitsinspektion verabschiedet, das u.a. die Kontrolle der legalen Beschäftigungsbedingungen zu deren Kompetenzen hinzufügte. Die Staatliche Arbeitsinspektion in Polen hat sehr vielfältige Kompetenzen und Zuständigkeiten. Sie überwacht jegliche Arbeitsbedingungen (nicht nur bezüglich der Sicherheit und Gesundheit), agiert als Verbindungsstelle in Fragen der Arbeitnehmerentsendung, überwacht die Nutzung gefährlicher Substanzen in der Wirtschaft und kontrolliert, ob Personen mit Migrationshintergrund legal beschäftigt werden. Obwohl die Regierung auf die Wahl des Hauptinspektors einen Einfluss ausübt, ist die Institution in großem Maße regierungsunabhängig. Da das System der Tarifverträge in Polen nur schwach etabliert ist, fungiert die Inspektion als natürliche Verbündete der Gewerkschaften. Sowohl auf nationalem als auch auf lokalem Niveau besteht die Inspektion aus industriebezogenen Arbeitssicherheitsräten (u.a. im Bauwesen und in der Landwirtschaft), die als Foren des bürgerlichen Dialogs agieren. Beschwerden seitens der Arbeitnehmer bezüglich einer nicht neutralen Arbeitsweise der Inspektion kommen relativ selten vor.

Abgesehen von Streiks sind die Interventionen der Arbeitsinspektion das einzige wirksame Instrument für die Arbeitnehmer im Falle schwieriger Konflikte mit Arbeitgebern.

Übersetzung durch: Nordica Translations b.v.b.a, Zelzate/Belgien

Abb. (PDF): Kinderarbeit in der Textilindustrie

Abb. (PDF): Das Staatsoberhaupt Józef PIłsudski unterzeichnet das Dekret über die Einrichtung der Arbeitsinspektion 1919

Abb. (PDF): Aktivistinnen bei der Mitte-Links-Kundgebung von 1930

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Arbeitsgesetzbuch oder Tarifverträge? – das Dilemma der polnischen industriellen Beziehungen

Jakub Kus, Warschau. Polen ist seit vielen Jahren ein „weißer Fleck“ auf der Karte der Branchen-Tarifverträge in Europa. Durch die Branchen-Tarifverträge sind nur einige wenige Arbeitnehmergruppen erfasst. Durch betriebsübergreifende Tarifverträge sind u.a.: manche Arbeitnehmer der Selbstverwaltung, Arbeitnehmer der staatlichen Budget-Sphäre (Militär, Waldwirtschaft, Meereswirtschaft) sowie der Energiebranche und des Braunkohlebergbaus erfasst. Warum so wenige?

Es gibt viele Gründe. Unter anderem werden die geringe Zahl der Mitglieder der Berufsverbände und die Schwäche der Arbeitgeberverbände als Gründe genannt. Das ist u.a. der fehlenden Möglichkeit eines effektiven Handelns der Verbände in kleinen Firmen und der fehlenden Attraktivität des Zusammenschlusses zu Arbeitgeberverbänden zuzuschreiben. Es fehlt an repräsentativen Arbeitgeberorganisationen in vielen Sektoren. Das Recht in Polen regt nicht dazu an, industrielle Beziehungen auf Tarifverträge zu stützen. Deren Zahl nimmt langsam ab – auch auf der Betriebsebene. Ein Tarifvertrag ist sehr schwierig abzuschließen und lässt sich sehr leicht kündigen. Er ist schwierig abzuschließen, weil ein Tarifvertrag vorteilhaftere Lösungen für die Arbeitnehmer enthalten muss als das Arbeitsgesetzbuch. Und das Arbeitsgesetzbuch ist sehr ausführlich. Das ist ein interessanter Rechtsakt. Er wurde 1974 – in der Zeit des „realen Sozialismus“ verabschiedet, und er hat sich insofern als gut erwiesen, als man ihn ganz einfach an die neue Gesellschaftsform und Marktwirtschaft nach 1989 anpassen konnte. Allerdings wurde er bis heute etwa 80-mal novelliert. Vor kurzem wurde die Arbeit an einem neuen Arbeitsgesetzbuch eingestellt. Die neuen gesellschaftlichen Akteure konnten sich nicht auf seinen Inhalt einigen, und die Regierung ist nicht das Risiko des Forcierens eines Rechtsprojekts ohne ihr Einverständnis eingegangen. Man sagt, dass die Berufsverbände, als sie in den 90ern des 20. Jahrhunderts einen sehr großen Einfluss auf den Prozess der Entwicklung des Rechts hatten, einen Fehler begingen – indem sie auf sehr ausführliche und stark arbeitnehmerfreundliche Rechtslösungen setzten und nicht die Lösungen stützten, die den autonomen und dreiseitigen Dialog stärken. Das hat bei ungünstigen Gesetzen über die Berufsverbände und Arbeitgeberverbände zu einer Hemmung der Entwicklung der Tarifverhandlungen geführt.

Ob dem wirklich so war – das ist schwierig zu sagen. Fakt ist, dass gegenwärtig die Tarifverträge in den Firmen sich kaum von den Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuches unterscheiden und oft nicht die Tarifordnung zur Lohnregelung enthalten. Heute setzen die Berufsverbände in Unternehmen oft mehr auf die Möglichkeit der Verhandlung der Arbeitsordnungen, die durch den Arbeitgeber in Firmen mit mehr als 50 Beschäftigten eingeführt werden müssen, als auf Tarifverträge. Die erste Arbeitsordnung führt der Arbeitgeber nach einer Beratung mit den Berufsverbänden ein. Aber in jede weitere Änderung der Arbeitsordnung müssen dann die Berufsverbände schon einwilligen. Das öffnet den Raum für Verhandlungen. Die Berufsverbände und Arbeitgeber-Organisationen treffen in Polen andere Vereinbarungen, die keine Tarifverträge sind und vielmehr Empfehlungen für die Sektor-Arbeitsmärkte darstellen. Bestimmte Hoffnungen werden in die Bildung der Sektor-Räte in Kompetenzfragen gesetzt. Diese definieren die Qualifikationsrahmen der Branchen, mit denen indirekt Einfluss auf die Lohnregelungen bzw. die Lohnhöhe genommen werden kann.

Das könnte ein neues Kapitel im Dialog der Branchen sein. Aber es führt noch ein sehr weiter Weg zu wirklichen Veränderungen.

Abb. (PDF): „Verfassung vom 3. Mai 1791“, Gemälde von Jan Matejko, 1891, Wikimedia. Rechts. Manifest des Polnischen Komitees für nationale Befreiung 1944

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