Quelle: Politische Berichte Nr. 6-7, Juni/Juli 2017 • Gesamtausgabe: PDF Inhaltsverzeichnis: TXT ⯈ H O M E

KALENDERBLATT:29.Juli 2000: EU-Antidiskriminierungsrichtlinien

01 EU-Antidiskriminierungsrichtlinien – Rechtsbeistand im Kampf gegen Diskriminierung

02 Nichtdiskriminierung – institutionelle Verankerung in der EU

03 Der Kampf gegen die Schwulendiskriminierung in Deutschland

04 A travail egal, salaire egal“

05 „Es geht nicht darum, was mit den schwarzen Menschen passiert. Die eigentliche Frage ist, was passiert mit diesem Land“ (James Baldwin, 1968)

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01 EU-Antidiskriminierungsrichtlinien – Rechtsbeistand im Kampf gegen Diskriminierung

Die Europäische Geschichte ist auch eine Geschichte von Wanderungen kriegerischer und ökonomischer Natur, in deren Folge sich unterschiedliche Kulturen, Bräuche, Verfahren, Gewohnheiten begegneten. Eingewanderte, wenn nicht als Sieger im Krieg (aber wohl auch dann) mussten als Minderheiten um die Anerkennung ihrer „Art“ kämpfen, um die Anerkennung von Lebensstilen und Andersartigkeit. Jede Wanderungsbewegung wie z. B. diejenige der polnischen Arbeiter in den Bergbau des Ruhrgebietes oder die in Europa häufig stattfindende Wanderung von der Landarbeit in die Industriearbeit, produziert somit potentiell Anpassungs- und Anerkennungsprozesse und Diskriminierung. Die durch weltweite Arbeitsteilung geprägte Industriegesellschaft hat soziale Differenzen und gleichzeitig Räume für neue Lebens- und Gesellungsstile geschaffen, beides auch Momente möglicher Ausgrenzung und Diskriminierung.

Die Ausdifferenzierung von Lebensstilen oder tradierte Rollenzuschreibungen können zu schroffen Auseinandersetzungen und Unterdrückung durch die Mehrheit führen. So hat z.B. die Schwulenbewegung mehr als ein Jahrhundert gebraucht, um eine fragile Anerkennung in der Gesellschaft zu erlangen oder dauert der Kampf um die Lohngleichheit für Frauen seit Jahrzehnten. Die Europäische Antidiskriminierungspolitik, Bewegungen und Formen der Aktionen haben starke Impulse aus den USA erhalten. Ihre Aktionsformen haben auch die europäischen Bewegungen gegen Diskriminierung geprägt. Die breite und widerstandsstarke Mobilisierung der schwarzen Bevölkerung in den USA hat 1964 zum „Bürgerrechtsgesetz“ geführt, das Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Religion oder Geschlecht untersagt – eigentlich Kernthemen der amerikanischen Verfassung. Dabei ging es nicht nur um Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, sondern auch um gleiche Rechte am öffentlichen Raum.

Implementierung in EU-Recht

1957 wurde „Diskriminierung am Arbeitsplatz“ als Thema in den Europäischen Verträgen verankert. Seit 1975 (Richtlinie 75/117/EWG) sind die Mitgliedsstaaten rechtlich verpflichtet, alle Bestimmungen aus Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu löschen, die Lohndiskriminierung zur Folge haben und Maßnahmen zu treffen, um Diskriminierungen in Tarifverträgen, Lohn- und Gehaltstabellen usf. für nichtig zu erklären. Treibende Kraft war damals vor allem Frankreich.

In der im Jahre 2000 vom Rat der EU unterzeichneten Europäischen Charta der Grundrechte findet sich eine Reihe von Bürger- und individuellen Grundrechten, darunter der Artikel 21, der das Recht auf Nichtdiskriminierung formuliert und vielfältige Aspekte von Differenz aufführt („Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“). In der Folge verabschieden die europäischen Institutionen in den Jahren 2000, 2002 und 2004 vier Richtlinien, die dieses allgemeine Recht in konkrete Vorschriften umsetzen. Dies war möglich, da mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) die Zuständigkeit der Gemeinschaft auf den Bereich der Antidiskriminierung ausgeweitet wurde.

2004 wurde die Richtlinie zur Gleichbehandlung von Frauen und Männer (2004/113/EG) in Bereichen ausserhalb des Arbeitsmarktes verabschiedet, wobei es um den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die auf den Märkten zu haben sind, geht (einschliesslich von Wohnraum). Zwar ist damit das EU-Antidiskriminierungsrecht auf bestimmte Bereiche beschränkt, aber es greift ins nationalstaatliche Vertragsrecht ein (Grundrecht der Vertragsfreiheit, freie Wahl der Vertragspartner), setzt diesem einen Rahmen. Die Richtlinien verpflichten zu („abschreckenden“) Sanktionen, aber auch zu positiven Maßnahmen um Diskriminierungen zu verhindern oder auszugleichen. Eine geteilte Beweislast wird in allen Richtlinien verankert. Auch Einrichtungen und Verbände können für Opfer die Klage führen.

Die nationale Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien hat Spielräume eröffnet. Für die Anerkennung in der Gesellschaft und die ihrer Praktiken ist dies eine Voraussetzung, der Kampf um Antidiskriminierung bleibt ein beständiger, da im historischen Verlauf auch neue Formen der Diskriminierungen praktiziert werden. In diesem Zusammenhang spielen auch die Institutionen zur Unterstützung der Antidiskriminierung und der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine wichtige Rolle. Der EuGH wehrte Klagen gegen „die Quote“, also gegen Frauenförderung bei gleicher Qualifikation ab und entwickelte die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung, die in die EU-Richtlinien eingegangen ist.

Rolf Gehring (rg), Brüssel

Von 2000 bis 15. März 2017 hat der EuGH zu folgenden Bereichen jeweils in einer Anzahl von Fällen geurteilt:

Alter: 22, Behinderung: 5, Ethnische Herkunft: 2, Sexuelle Ausrichtung: 5, Geschlecht / Schwangerschaft: 12, Religion Weltanschauung: 1

EU Antidiskriminierungsrichtlinien –

Die Links führen zur Datenbank des Europarechts, wo die Richtlinien in den euopäischen Amtssprachen verfügbar sind

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32000L0043 – Richtlinie: 2000/43/EG vom 29. Juni 2000

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32000L0078 – Richtlinie: 2000/78/EG vom 27. November 2000

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32002L0073 – Richtlinie: 2002/73/EG vom 23. September 2002

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32004L0113 – Richtlinie: 2004/113/EG vom 13 . Dezember 2004

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02 Nichtdiskriminierung – institutionelle Verankerung in der EU

Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). Die 2007 gegründete Agentur mit Sitz in Wien soll „unabhängige faktengestützte Grundrechtsberatung“ geben. „Die FRA trägt dazu bei, dass der Schutz der Grundrechte von in der EU lebenden Menschen gewährleistet wird.“

Wesentliche Aktivitäten der FRA: – Erhebung und Analyse von Daten zu Grundrechtsfragen; – Vernetzung mit Partnerorganisationen und Verbreitung der Forschungsergebnisse damit diese die relevanten Akteure erreichen; – Übermittlung ihrer Empfehlungen an Partnerorganisationen und die breite Öffentlichkeit.

Das Europäische Antirassismus-Netzwerk (ENAR). ENAR fördert die Gleichstellung aller Menschen und die Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Anti-Rassismus-Akteuren. Die Organisation wurde 1998 mit dem Ziel gegründet, auf europäischer Ebene rechtliche Änderungen und in allen EU-Mitgliedstaaten entscheidende Fortschritte in Richtung Gleichbehandlung der Ethnien zu erreichen.

EU-Kampagne: For Diversity – Against Discrimination. Auf europäischer Ebene sind inzwischen verschiedene Aktivitäten und Programme umgesetzt worden. Dazu gehört z.B. die Initiative „Für Vielfalt gegen Diskriminierung“ der Europäischen Kommission. U. a. wurde eine Publikationsreihe (European Anti-Discrimination Reivew) teils in mehreren Sprachen herausgegeben, die die Gesetzgebung und Rechtsprechung der Mitgliedsstaaten untersucht, aber auch z.B. Beiträge zur Situation betroffener Gruppen enthält. rg

Europäische Netzwerke, Einrichtung und Programme können unter folgenem Link gefunden werden:
http://ec.europa.eu/justice/discrimination/link/index_en.htm

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03 Der Kampf gegen die Schwulendiskriminierung in Deutschland

Der Paragraph 175 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches stammte aus dem Jahre 1872. Verurteilungen konnten auch zur Aberkennung der Bürgerrechte (Wahlrecht) führen.

Der Kampf um seine Abschaffung dauerte fast 100 Jahre. Bekämpft wurde er von Beginn an. Einer der Vorreiter der Gleichbehandlung von Schwulen war der Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld. 1897 gründete er das Wissenschaftlich Humanitäre Komitee, dass sich für die Rechte Homosexueller einsetzte. Schon damals kam es mehrmals zu Petitionen für die Abschaffung des Paragraphen, ohne Erfolg.

Noch im Zeitraum von 1950 bis 1965 wurden in der Bundesrepublik etwa 45 000 Personen nach Paragraph 175 verurteilt. Eine erste Strafrechtsreform 1969 und zweite 1973 setzten lediglich das Alter für „Unzucht“ zwischen Männern herab, erst 1994 wurde der § 175 Strafgesetzbuch gestrichen.

Der rechtliche Schutz der freien sexuellen Orientierung bewirkt nicht automatisch ihre gesellschaftliche Anerkennung. Hier spielt der öffentliche Raum eine besondere Rolle. Daher sind nicht zuletzt die schrillen Christopher Street Days von besonderer Bedeutung. Der Anstoß zu dieser Art Besetzung des öffentlichen Raumes kam aus den USA. Erstmals am 28. Juni 1969 wehrten sich Schwule in der Bar Stonewall Inn an der Christopher Street in New York gegen die üblichen schikanösen Razzien und Übergriffe durch die Polizei. Die Bundesrepublik erlebt ihre erste Schwulendemo 1972 in Münster. rg

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04 Streik: Im Februar 1966 ...

treten in der Fabrik National in Herstal – nahe Liège (Belgien) – 3000 beschäftigte Frauen in den Streik. Sie fordern entsprechend den Römischen Verträgen von 1957: „A travail egal, salaire egal“„Bei gleicher Arbeit gleichen Lohn!“. Zwölf lange Wochen dauert ihr Streik – ein Markstein in der europäischen Geschichte des Kampfes für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Bild: Kundgebung vor dem Fabriktor. Matthias Paykowski, Karlsruhe

Siehe auch: http://www.femmesencolere.be. Quelle: http://archivesdutravail.org

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05 „Es geht nicht darum, was mit den schwarzen Menschen passiert. Die eigentliche Frage ist, was passiert mit diesem Land“ (James Baldwin, 1968)

Filmempfehlung: „I AM NOT YOUR NEGRO“ – Der Schriftsteller James Baldwin (siehe Bild, geb. 1924, gest. 1987) begann Ende der 70er Jahre in Erinnerung an seine drei ermordeten Freunde, den Menschrechtsanwalt Medgar Evers (ermordet 1963), Malcom X (ermordet 1965) und Martin Luther King jr. und vor allem auf Grund seiner eigenen leidvollen Erfahrungen die Orte aufzusuchen, die für die Bewegung gegen den Rassismus, die Bürgerrechtsbewegung, in den USA bedeutungsvoll waren. Das Manuskript dieser Reise: „Remember This House“ konnte er nicht zu Ende schreiben. Der haitianische Regisseur Raoul Peck hat dieses Manuskript in einen besonderen Film verwandelt: eine Collage aus Archivbildern, Filmausschnitten und Nachrichtenclips, „das fulminante und dringend notwendige Gegenbild zum amerikanischen Traum des weißen Mainstream“, so Max Mohr in der ARD-Sendung Titel, Thesen, Temperamente.

„Raoul Peck und seine Schnittmeisterin Alexandra Strauss haben in dieser Form aufgehoben, dass die Geschichte der Schwarzen in Wiederholungen der immer selben Urszenarien seit ihrer Verschleppung ab dem siebzehnten Jahrhundert verläuft. Gerade so, wie Baldwin es beschrieben hat und deshalb zu dem Schluss kam, es gebe keinen Grund zur Hoffnung. Nicht nur für die Schwarzen in Amerika nicht, sondern für die gesamte Menschheit nicht. Und der dabei doch eine Leidenschaft fürs Leben ebenso wie gegen die Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, gegen Mord, Apartheid und weißen Suprematismus verströmte. Eine Leidenschaft, die jeden seiner Sätze grundierte, so oder so.“ (Verena Lueken in der FAZ vom 1.4.2017). Eva Detscher, Karlsruhe

Abb.: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Heston_Baldwin_Brando_Civil_Rights_March_1963.jpg7

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