Aus Politische Berichte Nr. 3/2018, S. 19 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Keiner wurde freigesprochen

In jedem der bisher abgeschlossenen Prozesse wegen der Proteste gegen den G20-Gipfel kam es zu einer Verurteilung. Aber der Prozess gegen Fabio V. ist jetzt geplatzt.

Von Gaston Kirsche, Hamburg

Etwa 150 Demonstrationen fanden rund um den G20-Gipfel, der am. 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg zelebriert wurde, statt. Keine einzige konnte ohne Einschränkungen die selbst gewählte Route laufen, die meisten wurden von Polizeieinheiten unter Anwendung von unmittelbaren Zwangsmitteln beendet. Einer von 75 verhafteten Teilnehmenden einer spontanen Protestdemonstration, die am 7. Juli frühmorgens von zwei Hundertschaften in der Straße Rondenbarg brachial aufgelöst wurde, war der 19-jährige Fabio V. aus den italienischen Alpen. Er war gemeinsam mit 200 Anderen auf dem Weg in die Innenstadt, um dort mit der fünf-Finger-Taktik die Zufahrten zum Tagungsort des G20-Gipfels zu blockieren. Die Blockaden waren öffentlich angekündigt, als ziviler Ungehorsam.

Er wurde als erster der am Rondenbarg Verhafteten vor Gericht gestellt, es sollte ein Musterprozess werden: wegen versuchter Körperverletzung, tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und schweren Landfriedensbruchs wurde Fabio V. angeklagt und saß bis zum 27. November fast fünf Monate in Untersuchungshaft. In dem ganzen Verfahren schaffte die ehrgeizige Staatsanwältin es nicht, von einem der Polizeizeugen eine gerichtsfeste belastende Aussage zu bekommen. Immer mehr geriet der Prozess zur Farce, immer deutlicher wurde: Es gibt keine konkreten, beweisbaren Tatvorwürfe gegen Fabio. V. Die Anklage berief sich darauf, dass Fabio V. Teil einer hooliganartigen Menschenmenge gewesen sei, die sich verabredet hätte, gemeinschaftlich Gewalt auszuüben. Sie verwies dabei auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs. Doch diese Sichtweise unterschlage, „dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu zwei gewalttätigen Hooligan-Gruppen ergangen ist und sich ausdrücklich nicht auf Demonstrationen bezieht“, sagte die Verteidigerin Gabriele Heinecke dem „Neuen Deutschland“. „Ein Teilnehmer einer Demonstration muss sich nicht entfernen, wenn einzelne Personen Gegenstände werfen“, so die Rechtsanwältin. Die Verteidigung stellte das Konstrukt der Gleichsetzung mit einer Hooliganverabredung und darüber hinausgehend die Rechtsmäßigkeit der Auflösung der Spontandemonstration mit vielen kleinteiligen Beweisanträgen in Frage. Am 26. Februar hat sich die vorsitzende Richterin der Jugendschöffenkammer am Amtsgericht Hamburg-Altona, welche den Prozess gegen Fabio führt, krank gemeldet. „Damit ist diese Hauptverhandlung erst einmal beendet“ ,teilte Rechtsanwalt Arne Timmermann mit, der zusammen mit Gabriele Heinecke Fabio V. verteidigt. Denn die Richterin ist hochschwanger und ging wenige Tage später Anfang März in Mutterschutz.

Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt, ob der Prozess gegen Fabio V. vor einer neuen Jugendschöffenkammer neu aufgerollt wird – oder ob gegen einen anderen der am Rondenbarg Verhafteten ein Musterprozess angesetzt wird. In jedem Fall bedeutet das Ende des Prozesses keinen Freispruch für Fabio V., die Anklage bleibt bestehen. Gleichwohl ist Fabio V. zum Symbol der G20-Prozesse geworden. Das liegt an den offensichtlich nicht haltbaren schwerwiegenden Anklagepunkten, welche von der Verteidigung in der Beweisaufnahme bis ins Detail fachgerecht widerlegt wurden. Aber auch an Fabios politische Prozesserklärung, in der er am 7. November Gründe für den Protest gegen den G20-Gipfel und gegen das kapitalistische Weltsystem dargelegt hat. Und sich so anders als das Gros der Angeklagten offensiv zum Protest gegen den G20-Gipfel bekannt hat. In einem am 26. Februar veröffentlichten Interview mit der „taz“ betonte er: „Ich möchte auf keinen Fall für berühmt oder wichtig gehalten werden. Ich bin nur ein junger Mensch, der wie viele andere nach Hamburg gekommen ist, um gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu demonstrieren.“ So stellt er klar, dass der Protest gegen den G20-Gipfel von politischen Meinungsäußerungen geprägt war und nicht aus einer Gewaltorgie bestand.

„Es sind 43 Urteile und Strafbefehle ergangen. 26 Entscheidungen sind rechtskräftig“, antwortete der Hamburger Senat auf die Frage nach „rechtskräftigen Urteilen gegen G20-Aktivisten/-innen“ des Abgeordneten der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, Martin Dolzer. Seine Schriftliche Kleine Anfrage, Drucksache 21/11804, gibt so den Zwischenstand zum Stichtag erster Februar wieder. Seither endeten vier weitere Prozesse ebenfalls mit Verurteilungen, gleichzeitig kam es bereits auch zu den ersten Urteilen in Berufungsverfahren in zweiter Instanz, in denen erstinstanzliche Urteile abgemildert wurden.

Eingestellt wurden Mitte Februar die Ermittlungsverfahren gegen vier Personen, die öffentlich als Organisierende von Protestaktionen aufgetreten waren, darunter Andreas Blechschmidt von der Roten Flora, der linke Anwalt Andreas Beuth sowie Emily Laquer von der „Interventionistischen Linken“ (IL). „Der Ursprung dieser Ermittlungsverfahren ist ebenso banal wie absurd. Zwei reaktionäre Rentner, die nicht einmal aus Hamburg kommen, haben irgendwas im Fernsehen gesehen und beliebig Anzeigen gegen uns gestellt“, sagte Emily Laquer dem Autor: „Ernsthafte Sorgen habe ich mir darüber nie gemacht.“ Allerdings waren die juristisch substanzlosen Vorwürfe gegen vermeintliche Drahtzieher militanter G20-Proteste tagelang Thema in Medien. „Insofern ja,“ so Emily Laquer, „diese Ermittlungen waren reine Show und Teil der staatlichen Propaganda gegen die G20 Proteste“. Aber „jedem juristisch halbwegs Verständigen war klar,“ erklärte Andreas Blechschmidt im Gespräch mit dem Autor, „dass die Ermittlungen in der Sache von Anfang an substanzlos waren.“

Dem rot-grünen Senat Hamburgs ist es wichtig zu behaupten, dass es sich bei den G20-Prozessen keineswegs um politische Prozesse handeln würde, sondern ausschließlich um die Ahndung von Straftaten. „Wir verhalten uns vollkommen unpolitisch“, beteuerte Hamburgs Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich im Januar in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Die Hamburger Staatsanwaltschaft macht ihre Arbeit nach Recht und Gesetz, und das praktisch wie am Fließband.“ Aber er lehne es ab, die ausgesprochenen Urteile als hart zu bezeichnen. Bis Ende 2017 seien 424 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßlich Randalierende eingeleitet worden, sowie weitere 386 gegen unbekannt, bei der Polizei lägen aber noch Tausende weitere Vorgänge. Jan Hieber, Leiter der Soko Schwarzer Block, spricht oft von 3 000 Tatverdächtigen. Aber „eine Verdächtigung ist kein Tatnachweis“, kontert Andreas Blechschmidt: „Mit dieser lancierten Zahl bemüht sich die Polizei, den Eindruck zu erwecken, dass im letzten Juli in Hamburg kein legitimer entschlossener Protest auf die Straßen getragen wurde, sondern lediglich Horden von Gewalttäterinnen in der Stadt unterwegs waren.“ Emily Laquer betont, alle Zahlen seien „mit Vorsicht zu behandeln, da die Polizei mit ihnen sowohl ihren G20-Einsatz als auch die Existenz der Soko überhaupt rechtfertigt.“

Und die Soko sucht eifrig weiter nach dem Schwarzen Block: „Es ist zwingend davon auszugehen, dass es noch zu weiteren Razzien gegen linke Strukturen in naher Zukunft kommen wird“, meint Andreas Blechschmidt: „Ich glaube aber, dass das wirklich allen klar ist und deswegen alle darauf vorbereitet sind“.

Tatsächlich ermittelt die bereits im Juli 2017 noch in den rauchenden Ruinen der gebrandschatzten Hansestadt gebildete und 180 Beamte umfassende Sonderkommission Schwarzer Block weiterhin mit Hochdruck gegen G20-Protestierende. „Es ist zu befürchten, dass das staatliche Rachebedürfnis wegen des gescheiterten G20-Gipfels nicht gestillt ist“, so Emily Laquer. Zumal sich an der Stigmatisierung des auch militanten, radikalen G20-Protestes wenig geändert hat: „Es gibt einen öffentlichen Erwartungsdruck, an all jenen Menschen, die sich erfolgreich daran beteiligt haben, dass die Bilder zum G20 in Hamburg die der Proteste waren und nicht die der offiziellen Gipfelinszenierung, Rache zu üben“, analysiert Andreas Blechschmidt: „Das zeigen die aktuellen Prozesse gegen zum Beispiel Peike und Fabio, in denen jede Verhältnismäßigkeit von Tatvorwürfen und belastenden Zeugenaussagen außer kraft gesetzt wurde.“

Die Öffentlichkeitsfahndung der Soko Schwarzer Block nach angeblich straffällig gewordenen G20-Protestierenden geht derweil weiter. Von 107 unbekannten Verdächtigen, deren Fotos in einer beispiellosen Öffentlichkeitsfahndung im Dezember im Internet und den großen Hamburger Zeitungen veröffentlicht wurden, seien durch Hinweise bis jetzt 25 gesuchte Personen identifiziert worden, wie eine Polizeisprecherin erklärte. Eine von ihnen ist ein von der Bildzeitung auf der Titelseite als „Terror-Barbie“ mit Porträtfoto angeprangertes minderjähriges Mädchen. An den Jugendschutz hat bei ihr offensichtlich weder bei der Polizei noch seitens der Bild-Redaktion jemand gedacht. Und weil es so gut lief, plant Hamburgs Polizeiführung, nach weiteren rund 100 angeblichen Delinquenten öffentlich zu fahnden. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) erklärte die öffentliche Fahndung mit Porträtfotos für eine erfolgreiche Aktion, weil es gelungen sei, viele Täter zu identifizieren.

Auch das imaginäre Feindbild des umher reisenden ausländischen militanten Autonomen, welches nach dem Gipfel nach Polizeipressekonferenzen durch viele Medien gereicht wurde, hat Hamburgs Polizeiführung nicht vergessen. Unter den wegen angeblicher Fluchtgefahr lange in U-Haft einsitzenden verhafteten G20-Protestieren waren viele aus dem Ausland Angereiste: „Relativ neu ist das Vorgehen der Ausländerbehörde, die Angeklagte in G20-Verfahren nun unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens ausweist“, so Kim König, Pressesprecherin der Kampagne „United we stand“ zur Solidarität mit den nach dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 Verhafteten, im Gespräch mit dem Autor, „und mit einer fünfjährigen Einreisesperre ins Schengen-Gebiet belegt. Sollten die Betroffenen vor Ablauf der Einreisesperre nach Deutschland zurückkehren, müssen sie mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren rechnen. Die Ausländerbehörde übernimmt hier strafrechtliche Aufgaben und stellt sich über die Justiz.“

Die Polizei will demnächst im europäischen Ausland fahnden. Die Fotos der Gesuchten sollen demnächst in Spanien und Italien veröffentlicht werden. Das erklärte Andy Grote dem „Hamburger Abendblatt“: Aus diesen Ländern seien besonders viele militante Linksextremisten zum Gipfeltreffen nach Hamburg gereist. Auch nicht-militante wie Fabio, der im Interview mit der „taz“ erklärte, er bereue trotz fünf Monaten U-Haft nichts: „So habe ich diese sehr merkwürdige und vergessene Gefängniswelt kennengelernt, für die sich niemand interessiert. Und ich würde jederzeit wieder gegen den G20-Gipfel demonstrieren.“

Abb. (PDF): www.attac.de/kampagnen/g20-in-hamburg/impressionen/dienstag-47/