Aus Politische Berichte Nr. 01/2019, S.04 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Frankreich: Gilets Jaunes – Wege aus der Krise?

Matthias Paykowski, Karlsruhe

01 Dok [1] Aus der Internet-Petition der Gilets Jaunes – Auszüge

02 Dok [2] Aus dem Offenen Brief von Macron, 13.1.2019 – Auszüge

Anfang Dezember hat die französische Regierung aufgrund der heftigen Proteste bereits beschlossene Maßnahmen wieder zurückgenommen: die Steuererhöhungen auf Kraftstoffe wurden für 2019 ausgesetzt, ebenso die verschärften Regelungen für technische Untersuchungen bei Fahrzeugen. Preiserhöhungen bei Gas und Strom soll es in diesem Winter nicht geben. Der Mindestlohn (Smic) wird ab 2019 um monatlich hundert Euro erhöht. Für Rentner und Pensionäre, die zwischen 1200 und 2000 Euro Rente beziehen, wird 2019 die Erhöhung des Sozialbeitrags (CSG) ausgesetzt, und auf Überstunden müssen zukünftig keine Steuern und Beiträge abgeführt werden.

Die Teilnahme an den Demonstrationen der Gilets Jaunes ist zurückgegangen und die Unterstützung in den Umfragen sinkt. Aber die Rücknahme der Maßnahmen durch die Regierung hat die aufgeheizte gesellschaftliche Stimmung kaum beruhigt. Am 12. Januar kamen erneut einige Zehntausend zu den als „Acte IX“ angekündigten Demonstrationen in verschiedenen französischen Städten.

Die Bewegung der Gilets Jaunes sammelt sich aktuell inhaltlich um die Internet-Petition „Referendum Initiative der Bürger“ (RIC). Unter der Parole „Mehr direkte Demokratie“ wird ein plebiszitäres Modell in Gegensatz zur repräsentativen Demokratie gesetzt, mit dem Ziel Gesetze zu Fall zu bringen. (In Auszügen siehe [1]).

Dass der Front National diese Art von Ermächtigungsdemokratie schon seit den 80er Jahren fordert und auch La France Insoumise sich dafür stark macht, erzeugt eine nicht ungefährliche Situation der Umsturzschwärmerei. Bisher können solche Initiativen entweder nur auf Beschluss des Präsidenten, nach Vorschlag von Regierung oder Parlamentskammern stattfinden oder sie können begrenzt auf regionaler bzw. kommunaler Ebene initiiert werden – aber auch hier nur dann, wenn es von der Exekutive angestoßen wird.

Die Gilets Jaunes – oder wenigstens Teile davon – verstehen sich als Le Peuple, das Volk, und behaupten den Volonté générale der französischen Gesellschaft (Rousseau) zu verkörpern. Offensichtlich trifft die Kritik einen wunden Punkt des politischen Systems. Das thematisiert auch Macron, und dies bietet die Chance zu einem Dialog. Die Kritik der Gilets Jaunes formuliert, dass das parlamentarische System die Breite der verschiedenen Wählerschichten und -meinungen nicht repräsentiere, die Stellung des Präsidenten („Jupiter“!) – bei nahezu vollständig ausgeschaltetem parlamentarischen Geschehen – unangemessen stark sei. Die Krise der Parteien, bis hin zu En Marche (LREM), das nur als Anhängsel des Präsidenten wahrgenommen wird, lässt den Diskurs und damit die Äußerung von Interessen im Parlament als fast aussichtlos erscheinen.

Macron hat zur Lösung der schweren Krise eine „große Debatte“ zur Zukunft der französischen Gesellschaft angekündigt, zum Dialog aufgerufen und dazu eingeladen (in Auszügen siehe [2]). Diesen Dialog organisieren die Bürgermeister der Städte und Kommunen, er wird ab Mitte Januar landesweit stattfinden. Und das ist nicht ein Angebot nur an die Gilets Jaunes.

01

Dok [1] Aus der Internet-Petition der Gilets Jaunes – Auszüge

Wir schlagen vor, uns um eine einzige und einzigartige Forderung zu vereinen: das Referendum über eine „Initiative der Bürger“ …

• Durch ein legislatives Referendum sollen die Bürger über ein Gesetz entscheiden (das die Abgeordneten ablehnen) …

• Durch ein Aufhebungs-Referendum sollen die Bürger über die vollständige oder teilweise Aufhebung eines Vertrags, eines Gesetzes oder einer Handlung mit Rechtskraft abstimmen, beispielsweise um das Gesetz zum Arbeitsrecht, die „Macron-Verordnungen“, das Gesetz zur Erhöhung der CSG (die Sozialbeiträge; M.P.) oder die Gesetze zur Entindexierung von Löhnen und Renten aufzuheben (die Liste der Schurkengesetze ist lang, die das Volk dank des RIC zerstören kann).

• Durch ein verfassungsmäßiges Referendum könnten die Bürger ihre eigenen Verfassungen überarbeiten. Zum Beispiel: RIC, das die Änderung des Status von gewählten Vertretern, Ministern, die Regelung ihrer Gehälter, Abschaffung ihrer Privilegien, Festlegung ihrer wahren Verantwortung, die Gewährleistung ihrer Ehrlichkeit (z.B. durch die Auferlegung eines sauberen Strafregisters für Wahlkandidaten), die Streichung des Vertrags von Lissabon aus unserer Verfassung …

• Durch das widerrufliche Referendum können die Bürger jederzeit die Entlassung eines Vertreters, eines gewählten Beamten, eines Ministers, eines hohen Beamten erwirken.

Quelle: https://www.change.org/p/pour-un-référendum-d-initiative-citoyenne?recruiter =54863360&utm_source=share_petition&utm_medium=twitter&utm_campaign=psf_combo_share_abi.pacific_email_copy_en_gb_4.v1.pacific_email_copy_en_us_3.control.pacific_email_copy_en_us_5.v1.pacific_post_sap_share_gmail_abi.gmail_abi.lightning_2primary_share_options_more.control

02

Dok [2] Aus dem Offenen Brief von Macron, 13.1.2019 – Auszüge

„Diese Debatte wird einige Schlüsselfragen beantworten müssen, die sich in den letzten Wochen ergeben haben. Deshalb haben wir mit der Regierung vier Hauptthemen gewählt, die viele der größten Herausforderungen des Landes abdecken: Steuern und öffentliche Ausgaben, die Organisation des Staates und der öffentlichen Dienste, ökologischer Wandel, Demokratie und Bürgerschaft …

Das erste Thema betrifft unsere Steuern, Ausgaben und öffentlichen Maßnahmen. Die Besteuerung steht im Mittelpunkt unserer nationalen Solidarität. Sie ist es, die unsere öffentlichen Dienste finanziert … Sie ermöglicht es, soziale Dienstleistungen für die Schwächsten zu erbringen, aber auch bestimmte große zukünftige Projekte, unsere Forschung, unsere Kultur oder den Erhalt unserer Infrastrukturen zu finanzieren. Es sind auch die Steuern, die die Zinsen für die sehr hohe Verschuldung zahlen, die unser Land im Laufe der Zeit angehäuft hat …

Wir müssen uns jedoch weitergehende Fragen stellen. Wie könnten wir unsere Besteuerung gerechter und effizienter gestalten? Welche Steuern sollten Ihrer Meinung nach vorrangig gesenkt werden? Auf jeden Fall können wir die Steuern nicht weiter reduzieren, ohne das Gesamtniveau unserer öffentlichen Ausgaben zu senken. Welche Einsparungen sollten Ihrer Meinung nach im Vordergrund stehen?

Sollten bestimmte öffentliche Dienstleistungen, die veraltet oder in ihrem Nutzen zu teuer sind, abgeschafft werden? Sehen Sie andererseits einen neuen Bedarf an öffentlichen Dienstleistungen und wie sollen diese finanziert werden?

Auch unser Sozialmodell wird in Frage gestellt. Einige halten es für unzureichend, andere für zu teuer wegen der von Ihnen gezahlten Beiträge. Die Wirksamkeit sowohl der Ausbildungs- als auch der Arbeitsverwaltungen wird oft kritisiert. Die Regierung hat nach umfangreichen Konsultationen mit einer Strategie für unsere Gesundheit, zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit begonnen. Wie können wir unseren Sozialpakt besser organisieren? Welche Ziele sollten als Priorität definiert werden?

Das zweite Thema, zu dem wir Entscheidungen treffen müssen, ist die Organisation des Staates und der Behörden.

Öffentliche Dienstleistungen verursachen Kosten, aber sie sind lebenswichtig: Schulen, Polizei, Armee, Krankenhäuser, Gerichte sind für unseren sozialen Zusammenhalt unerlässlich.

Gibt es zu viele Verwaltungsebenen oder Ebenen von lokalen Behörden? Sollte die Dezentralisierung gestärkt und mehr Entscheidungsfindung und Handeln so bürgernah wie möglich stattfinden können? Auf welchen Ebenen und für welche Dienstleistungen?

Wie soll der Staat organisiert werden und wie kann er sein Handeln verbessern? Sollte das Funktionieren der Verwaltung überprüft werden und wie?

Wie können sich die staatlichen und lokalen Behörden verbessern, um besser auf die Herausforderungen in den schwierigsten Feldern reagieren zu können, und was schlagen Sie vor? …

Schließlich zeigt sich deutlich, dass wir mehr Kraft für Demokratie und Staatsbürgerschaft aufbringen müssen. Bürgersein bedeutet, bei der Entscheidung über die Zukunft des Landes mitzuwirken, indem man Vertreter auf lokaler, nationaler oder europäischer Ebene wählt. Dieses Repräsentationssystem ist das Fundament unserer Republik, aber es muss verbessert werden, da sich viele nach den Wahlen nicht vertreten fühlen.

Sollten wir den leeren Stimmzettel anerkennen? Sollte die Abstimmung obligatorisch gemacht werden? Was ist das richtige Maß an Verhältnismäßigkeit bei Parlamentswahlen für eine gerechtere Vertretung aller politischen Projekte? (In Frankreich gibt es heute ein striktes Mehrheitswahlrecht.) Sollte die Anzahl der Parlamentarier oder anderer Kategorien von gewählten Amtsträgern begrenzt werden und in welchem Umfang?

Welche Rolle sollten unsere Versammlungen, einschließlich des Senats und des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrates, bei der Vertretung unserer Territorien und der Zivilgesellschaft spielen? Sollten sie transformiert werden und wie?

Darüber hinaus muss eine große Demokratie wie Frankreich in der Lage sein, häufiger auf die Stimme ihrer Bürger zu hören. Welche Änderungen würden Sie sich wünschen, um die Bürgerbeteiligung aktiver und die Demokratie partizipativer zu gestalten? Sollten beispielsweise nicht gewählte Bürger, die durch das Los gezogen werden, direkter in die öffentliche Entscheidungsfindung einbezogen werden? Sollte der Einsatz von Referenden verstärkt werden, und wer sollte sie initiieren? …

Quelle: http://www.leparisien.fr/politique/grand-debat-national-la-lettre-d-emmanuel-macron-aux-francais-13-01-2019-7987896.php

Abb.(PDF): Aktionsbild Gelbwesten