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ARCHIV

Nr.3/2020, S.03

Aktuell aus Politik und Wirtschaft

Urteil zur Geldpolitik der EU: Das Ei des Voßkuhle – im Spiegel der europäischen Medien „Ultra vires“ – Kompetenzüberschreitung durch Kompetenzüberschreitungskritik

Urteil zur Geldpolitik der EU: Das Ei des Voßkuhle

01 Einleitung

Urteil im Spiegel der europäischen Medien:

02 Italien

03 Finnland

04 Polen

05 Schweiz

06 Österreich

07 Großbritannien

08 Türkei

09 Frankreich

10 Niederlande

01


Eva Detscher, Karlsruhe

Der Ton wird wieder schärfer im Streit um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung einer Klage von Bürgern Deutschlands gegen die Anleihenkaufprogramme des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) (Einzelheiten, worum es dabei geht, im Artikel auf den Seiten 5 und 6).

Die Sache ist unter anderem kompliziert, weil hier Rechtssystem, ökonomisches System und politisches System auf fatale Weise in eine Auseinandersetzung um gegenseitige Kompetenzzu- und abschreibung gebracht werden. „Da es sich bei der streitigen Unterscheidung von Währungs- und Wirtschaftspolitik um eine im europäischen Primärrecht verankerte, also in rechtliche Form gegossene Differenz handelt, muss die Justiz mit dieser arbeiten und nach ihrer eigenen Logik urteilen“ , so Olaf Kowalski , wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn (https://verfassungsblog.de/juristen-die-mit-oekonomen-streiten/). Dieser Rechtsgrundlage war der Europäische Gerichtshof gefolgt, der – bei Beantwortung von früheren Anfragen des Bundesverfassungsgerichts – das Anleihekaufprogramm geprüft und für konform mit EU-Recht erkannt hat.

Dass der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz des Präsidenten Voßkuhle jetzt die Bundesbank auffordert, eine Erläuterung von der EZB einfordern und wenn diese nicht zufriedenstellend erfolgt, dann die Zahlungen einzustellen, stellt durch die Hintertür die rechtlichen Grundlagen der EU in Frage. Auf diesen Zug springen Gegner der EU nur allzu gerne auf. Gegenwärtig ist noch nicht abzusehen, wie dieser Konflikt beigelegt werden kann. Die EU-Kommission wird nach Prüfung des Urteils über ein Verfahren gegen Deutschland in dieser Sache entscheiden.

Im Folgenden haben wir eine Auswahl von Stimmen, wie in den Mitgliedsstaaten der EU und angrenzenden Ländern über diesen Streit geschrieben wird, zusammengestellt.

Die Entscheidung der EU-Kommission für das Corona-Hilfsprogramm hat dabei inzwischen zur Revidierung von geäußerter Zustimmung und/oder Ablehnung des Bundesverfassungsgerichtsurteils geführt – dass dieses Urteil zu diesem Zeitpunkt in die Welt gesetzt wurde, ist eine eigene, vielleicht nur durch das Ende der Voßkuhle-Dienstzeit zu erhellende, Geschichte.

Urteil im Spiegel der europäischen Medien

An der Zusammenstellung wirkten mit: Paola Giaculli, Rolf Gehring, Jakub Kus, Alfred Küstler, August Kargl, Eva Detscher, Cem Rifat Sey, Matthias Paykowski, Amieke Bouma

02

Italien| Die Finanz- und Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore veröffentlichte am 8. Juni einen Beitrag vom Präsidenten des EuGHs, Marc van der Woude. Darin warnt dieser vor der Gefahr einer Stärkung der autokratischen Tendenzen in der EU, zu der das BVerfG-Urteil aufgrund einer Delegitimierung des EuGHs beitragen mag. Die Kommentatorin Adriana Cerretelli (7. Mai) spricht von einer gefährlichen Infragestellung der Unabhängigkeit der EZB, indem das BVerfG das Prinzip der nationalen Souveränität durchgesetzt hätte, und die Souveränisten Europas (z.B. Polen und Ungarn) dadurch unterstützt hätte. Das sei ein gefährlicher Präzedenzfall. Die Autorin scheint auf die ausgleichenden Fähigkeiten der Bundeskanzlerin zu setzen und hofft, dass der „Unfall“ bald vergessen sei, und nicht der Anfang eines „Dexit“. Laut Corriere della Sera fordert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die EZB heraus. In einem Artikel der Wochenzeitschrift Internazionale fasst der Autor die Kommentare in der ausländischen Presse zusammen: „Dieses Urteil könnte die Zukunft der Eurozone verändern“. Es hebe die Schwäche dieser hervor, die darin besteht, dass sie nur eine Währungsunion und keine politische Union sei. Il Fatto Quotidiano veröffentlicht einen Blog des Rechtsanwalts und Schriftstellers Francesco Carraro, nach dem das Urteil zwar korrekt, aber ungerecht sei. Korrekt, denn es hebe die Widersprüche der Europäischen Verträge hervor, und dass die EZB die Mängel des fehlkonstruierten Systems wiedergutmachen muss. Zu sagen, dass die Richter aus Karlsruhe Recht hätten, heiße nicht, dass das (formell legale) Rechtssystem, worüber sie geurteilt hätten, richtig sei.

03

Finnland| Die größte finnische Zeitung Helsingin Sanomat schrieb, das deutsche Verfassungsgericht habe der Europäischen Zentralbank ein Ultimatum gestellt. Die Zeitung Bu meint, die Europäische Zentralbank werde noch nicht einmal einen Diskurs mit dem Verfassungsgericht beginnen. Richtig hart wäre, wenn die EZB als Recht anerkennen würde, dass eine Einzelperson etwas von der EZB einfordern dürfe. Kurz und bündig: Der EU-Bürger wäre hier Subjekt, nicht das deutsche Volk. Das Urteil des BVerfG wird ein Bumerang werden: Die deutsche Zentralbank, die sich gegen Kaufprogramme gewehrt hat, wird dazu verpflichtet werden, die Kaufprogramme zu verteidigen, und anbieten, Deutschland zu verklagen, weil es sich dem EU-Willen widersetzt hat. Das linke Parteiblatt: Jussi Ahokas, Chefökonom der finnischen Sozial- und Gesundheitspartei (SOSTE): „Natürlich war das Verhältnis zwischen Deutschland und der EZB lange Zeit angespannt, aber jetzt würde die Spannung auf ein völlig neues Niveau gehoben. Im Allgemeinen scheint dies den grundlegenden Widerspruch zwischen der deutschen ordoliberalen Denktradition und der Idee einer europäischen Einheitswährung widerzuspiegeln. Dies ist wahrscheinlich eher ein Hinweis mit dem Zaunpfahl in Richtung EZB, als der Wunsch, das gesamte Projekt der Einheitswährung zu leiten. Deutschland ist möglicherweise sogar der größte Nutznießer dieses Projekts gewesen. Aber es sagt natürlich viel über die Zerbrechlichkeit der Eurozone aus, dass mitten in der Corona-Krise so fundamentale Fragen diskutiert werden.

04

Polen| Regierungsquellen reagierten sofort. Paweł Jabłoński, Unterstaatssekretär im Außenministerium betonte auf Twitter, dass „die Mitgliedstaaten das Recht haben, die Organe der EU (einschließlich des EuGHs) zu kontrollieren, und der Verzicht auf diese Kontrollmacht würde zu einer unkontrollierten Ausweitung deren Befugnisse führen – und de facto die Verträge ändern“. „Wenn die EU-Organe ihre Befugnisse überschreiten, treten die Verfassungsgerichte der einzelnen Mitgliedstaaten ein, und damit verlieren diese Urteile des EuGHs ihre demokratische Legitimität“ – so der stellvertretende Justizminister Sebastian Kaleta in einer Erklärung gegenüber der Polnischen Presseagentur. „Der Verfassungsgerichtshof (gemeint ist der polnische) ist das Gericht des letzten Wortes in Polen auch gegen die Urteile des EuGHs“ – unterstrich der stellvertretende Justizminister Marcin Warchoł in einem Interview mit der PAP (Polska Agencja Prasowa, polnische Presseagentur). Für Premierminister Morawiecki ist die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts vom 5. Mai (…) „eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“ (Interview für die FAZ vom 10. Mai 2020). Eine Parteisprecherin der SLD (Bündnis der Demokratischen Linken) kritisierte das Urteil des Gerichts in Karrlsruhe und forderte Kommissarin Vera Jourova und die EU-Kommission auf, entschlossen zu reagieren und alle europäischen Länder gleich zu behandeln.

05

Schweiz| NZZ vom 26.5.: Der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hallstein, formulierte prägnant, die Europäische Union sei eine „Rechtsgemeinschaft“. Gemeint war (und ist) damit, dass sie auf rechtlichen Grundlagen beruht, mit rechtlichen Instrumenten handelt und für die Einhaltung des Rechts geeignete (gerichtliche) Verfahren vorgesehen sind. So obliegt dem schon 1957 geschaffenen Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Sicherstellung der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts, dies in Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten. (…) Kein gangbarer Weg ist es jedoch, dass nationale (Verfassungs-)Gerichte jeweils individuell entscheiden, ob ein bestimmtes Urteil des Gerichtshofs offensichtlich unhaltbar und damit nicht zu beachten ist. Infrage gestellt werden können damit auch die Grundwerte der Union wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. So gesehen gehen die Implikationen des Urteils des BVerfG weit über die Ankaufpolitik der EZB hinaus, und es birgt Sprengstoff für den Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft – eine angesichts der befriedenden und stabilisierenden Rolle des Rechts gerade in der Europäischen Union höchst beunruhigende Entwicklung, auch für die Schweiz. (Gastkommentar von Astrid Epiney, Professorin und Direktorin am Institut für Europarecht der Universität Freiburg i.Ü. sowie Rektorin der Universität)

06

Österreich| Gastkommentar im österreichischen Standard. Werner Schroeder, 11. Mai 2020, Innsbrucker Europa- und Völkerrechtler: Die Folgen für die europäische Rechtsgemeinschaft könnten dramatisch sein. Muss eine Zentralbank aber wirklich erklären, warum sie welche Staatsanleihen kauft und warum dies aus wirtschaftspolitischer Sicht vertretbar ist? Hätte das Bundesverfassungsgericht eine solche Forderung auch gegenüber einem Anleihekaufprogramm der Bundesbank erhoben? Wohl kaum. Zentralbanken sind unabhängige Verfassungsorgane, die währungspolitische Entscheidungen mit Prognosecharakter treffen, deren Effekte nur eingeschränkt vorhersehbar sind. Die EZB ist aus gutem Grund unabhängig – was übrigens auf eine deutsche Forderung bei der Aushandlung des Vertrages von Maastricht zurückgeht. Sie soll ihr Ziel, die Preisstabilität zu gewährleisten, auch gegen den Willen der Politik verfolgen können. Zu welchen Verwerfungen es führen kann, wenn in diese Gewaltenteilung eingegriffen wird, sieht man in den USA, wo ein populistischer Präsident die Federal Reserve Bank dazu nötigen will, die Zinsen zu senken, um seine Wirtschaftspolitik zu unterstützen. Die Richter des EuGHs müssen sich von ihren deutschen Kollegen anhören, eine Art von Rechtsbeugung begangen zu haben. Das ist nicht nur schlechter Stil, sondern auch abwegig, weil sich der EuGH mit der EZB-Entscheidung sachlich auseinandergesetzt hat. Die negativen Folgen des Urteils reichen damit weit über die Ankaufspolitik der EZB hinaus.

07

Großbritannien| Nachdem der britische Guardian am 5. Mai getitelt hat: Schock für die Eurozone, weil ein deutsches Gericht vor Zentralbankanreizen warnt – Furchteinflößendes Urteil könnte die Autorität der EZB zur Abwehr der Finanzkrise untergraben und das Ende der quantitativen Lockerung bedeuten“ wird am 11. Mai näher darauf eingegangen: „Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts hat zum ersten Mal ein nationales Gericht ein EuGH-Urteil für ungültig erklärt, was eine direkte Bedrohung für die einheitliche Anwendung des EU-Rechts darstellt.“ …Von offizielle EU-Seite wird zitiert: „Dies wirft ein paar grundsätzliche Fragen auf … zum einen die Autorität eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs, der definitiv über die Gültigkeit der Entscheidungen der EZB zu entschieden hat. Dies geht bis zur eigentlichen Grundlage der Europäischen Union. Die Europäische Union beruht auf Recht, auf Übereinkunft, auf den gemeinsamen Regeln, die wir haben.“

08

Türkei| Die säkular-nationalistische (kemalistische) Sözcü und die der Kommunistischen Partei der Türkei nahestehende SoL: „Kritisches Urteil des deutschen Verfassungsgerichtes“. Die dem Regime nahestehende Haber7 hingegen: „Die EU ist durcheinander! Schockierendes Urteil aus Deutschland! Außerordentliche Sitzung“ (Ausrufezeichen im Original.) Die fundamental-islamistische Milli Gazete titelte: „Es kracht in der Europäischen Union! Warnung an Deutschland“. Die Online-Wirtschaftszeitung Ekotürk: „Die Europäische Union gegen Deutschland“. Am 13. Mai gab es einen Artikel des bekannten Journalisten, Murat Yetkin. Seitdem er im Zuge der Gleichschaltung der Medien von Hürriyet entlassen wurde, betreibt er einen Blog, in dem er u.a. äußert, dieser Streit könne am Rande auch die Türkei treffen. Diese Entwicklungen können dazu führen, dass das Einstimmigkeitsprinzip geändert werde. Er spielt darauf an, dass die EU-Mitgliedschaft der Türkei vor allem durch Zypern blockiert werde.

09

Frankreich| Le Monde (6.-13.5.2020) befürchtet tiefgreifende rechtliche, wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Das Urteil stelle eine Bedrohung für den Zusammenhalt der EU dar und für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sowie die Vorrangstellung des EU-Gerichtshofs. Es sei aber auch eine Chance: „Das Bundesverfassungsgericht hat in Deutschland eine immense moralische Autorität. Das Urteil vom 5. Mai, das nach einer Berufung notorischer Euroskeptiker erging, könnte paradoxerweise die letzten verbliebenen Mitglieder des deutschen konservativen Lagers dazu bringen, sich der Idee eines großen europäischen Sanierungsplans zu beugen. Politisch akzeptiert, kann die demokratische Legitimität eines solchen Plans nicht in Frage gestellt werden“. Le Monde befürchtet auch, die AfD könnte durch das Urteil Aufwind bekommen als „Anti-Euro-Partei, die gegen die Haushaltsrettung bankrotter Staaten ist, vor allem besessen davon, die deutsche liberale Orthodoxie zu verteidigen“.

10

Niederlande| Wichtige Nachrichtensender haben in kurzen, sachlichen Beiträgen über das Gerichtsurteil berichtet; sie beschreiben, wie sich das Gerichtsurteil auf die Frage auswirkt, ob es sich beim Public Sector Purchase Programme (PSPP) („Ankaufprogramm für den öffentlichen Sektor“) um eine geldpolitische (EZB) oder fiskalische (Mitgliedstaaten) Politik handelt (ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen), und beschreiben das Spannungsverhältnis zwischen EU- und nationalem Recht im Allgemeinen. Einzelne Experten: René Smits (Prof. Recht der Wirtschafts- und Währungsunion, Universität von Amsterdam) bezeichnet die Entscheidung des BVerfG als „eine Bombe unter der Unabhängigkeit und der Funktionsweise der EZB, ein Schlag ins Gesicht des Europäischen Gerichtshofs und auf die Wurzeln der europäischen Integration zielend“. Ton Nijhuis (Prof. Geschichte, Duitsland Instituut) sieht die Entscheidung als notwendige Korrektur der Überdehnung der EU, das BVerfG wache mit dieser Entscheidung „über die demokratischen Praktiken der EU“. Insgesamt deuten die Medien darauf hin, dass die Auswirkungen der Entscheidung des BVerfG als nicht allzu groß eingeschätzt werden. Es wird viel mehr über die aktuellen deutsch-französischen Pläne zur Unterstützung der europäischen Volkswirtschaften in der Corona-Krise und über die Entscheidung, Geld zu leihen oder zu spenden, gesprochen.