Politische Berichte Nr. 3/2021 (PDF)27
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Wer den Schaden hat?

Zur vorübergehenden Blockade des Suezkanals und den Folgen

Am 23. März 2021 war die „Ever Given“ auf dem Weg von Yangshan nach Rotterdam im Suezkanal zwischen der Kanaleinfahrt bei Suez und den Bitterseen unterwegs, als sie um 7.40 Uhr Ortszeit auf Grund lief.

Georg Leimig, Bremerhaven

Der internationale Seetransport hat viele Nadelöhre und der Seeverkehr hat gewaltig zugenommen, viele Schiffsgrößen sind geradezu explodiert. Ein Vorfall wie die Blockade des Suez-Kanals durch ein Mega-Containerschiff wie „Ever Given“ kann fast jederzeit und fast überall passieren. Die Folgen wären dann für die Weltwirtschaft ähnlich. Der weltweite Warenverkehr gerät in einen Stau. Viele andere Schiffe sind bei der Weiterfahrt blockiert oder müssen Umwege steuern, die Rohstoff- und Brennstoffpreise steigen; abgesehen davon, dass eine Bergung ansteht mit unabsehbaren Kosten und das dazu notwendige Gerät ebenso wie die Spezialisten nicht gerade jeweils vor Ort verfügbar sind.

Jede Revierfahrt (Kanäle, Flüsse, Hafenansteuerungen) sind eine Herausforderung für jede Schiffsführung so wie die Besatzungen. Man muss sich rechtzeitig mit den Gegebenheiten vertraut machen, die jeweiligen Seekarten und Bestimmungen studieren sowie die Kommunikation mit den zuständigen Behörden und Stellen angehen. Bei einer Ansteuerung und anschließenden Revierfahrt muss jeder seine Aufgaben kennen, die auf See sonst wachfreie Maschinenanlage wird besetzt, die Ruderwachen eingeteilt. Denn es wird nun von Hand gesteuert, und das sollte ein erfahrener Seemann tun, der es kann und die Kommandosprache versteht. An Bord eines Schiffes sind also alle etwas angespannter als an normalen Seetagen, wo um das Schiff viel mehr freier Raum ist, um auch bei Systemversagen nicht gleich irgendwo dagegen zu fahren oder andere zu behindern. Auf Revierfahrt wird es viel enger, es gibt mehr Schiffsverkehr, jedes menschliche Vertun oder Ausfall eines Systems hat viel weniger Zeit, um es, wenn überhaupt möglich, zu korrigieren.

Zur Passage des Suezkanals

Ein Ansteuern des Suezkanals aus dem Indischen Ozean ist anspruchsvoller als vom Mittelmeer aus. Das beginnt schon mit der Bab-el-Mandeb-Passage ins Rote Meer. Die Distanz von 27 Kilometern zwischen Dschibuti und dem Jemen klingt weit. Aber etwas näher zum Jemen liegt die Insel Mayyun, und es ist zu entscheiden, an welcher Seite man diese besser passieren sollte. Die konzentrierte Wachsamkeit richtet sich weiter auf einigen Untiefen, Inseln oder Felsen, die eventuell auf Kurslinie liegen. Wie bei allen Meerengen konzentriert sich auch der Schiffsverkehr. Es wird also viel enger.

Der Schiffverkehr im Roten Meer geht hauptsächlich Nord-Süd, vom oder zum Suezkanal, ähnlich einer Autobahn. Danach wird es vorübergehend etwas ruhiger bis zum Erreichen der Südspitze Sinai und Ägyptens. Dann gibt es ein Verkehrstrennungsgebiet, das den Nord-Süd-Verkehr klar bestimmt. In der internationalen Seefahrt gelten das Rechtsfahrgebot und dementsprechend die Vorfahrts- und Ausweichregeln. Allerdings stehen dort auch einige Bohranlagen im Weg, und es gibt Versorgungsverkehr. Es wird spannender.

Da ist der Standard einer GPS-gestützten elektronischen Seekarte ein gewaltiger Fortschritt, da man in Jetzt-Zeit immer sieht, wo man ist, und die Informationen über alle anderen Verkehrsteilnehmer über das vorgeschriebene AIS Signal (Automatic Identification System) empfängt. Man weiß die Schiffsnamen und was sie vorhaben. Das vereinfacht auch eine gezielte Kommunikation. Bei Annäherung an Port Said kommen zunehmend die Suezkanalbehörden ins Spiel und vergeben erst mal genau bezeichnete Ankerplätze auf Außenreede oder Innenreede. Ohne Wartezeiten vor Anker geht es nicht ab, nur sind die für bevorzugte Kunden kürzer.

Die Passage erfolgt in beiden Richtungen in Konvois, die von der Kanalbehörde entsprechend zusammengestellt werden. Da haben Großkunden wie die entsprechenden Seetransportmonopole natürlich Vorteile. Aber ohne Wartezeiten geht es nicht, denn der Kanal ist bisher nur an wenigen Stellen gleichzeitig in beiden Richtungen passierbar und nicht für alle Schiffsgrößen. So kommt es meist auch im Großen Bittersee zu neuen Ankerwartezeiten, bis der eine oder andere Konvoi durchgezogen ist. In Port Said gibt es schon länger einen Bypass für ins Mittelmeer auslaufende Schiffe an dem Hauptkanal vorbei. Seit der Wiedereröffnung nach dem Jom-Kippur-Krieg hat sich viel getan und die Wasserstraße hat sich gewaltig verändert, auch bei der Auswahl und Ausbildung der Kanallotsen. Waren das bis in die 1980er-Jahre eher weggelobte arrogante Ex-Marineoffiziere, die mehr als Dekoration und fachlich wenig brauchbar mitgenommen werden mussten, sind es heute durchaus nautische Profis, die ihr Handwerk verstehen. Entsprechend wurde die Kommunikation, Verkehrsüberwachung und -regelung neuesten Standards angepasst.

Sandstürme, speziell im Bereich des Suezkanals oder andere widrige Herausforderungen aller Art bietet jedes Revier.

Es hat wahrscheinlich wenig Sinn vor einer offiziellen Unfalluntersuchung zu spekulieren. Aber es gibt ein gefürchtetes Strömungsphänomen: Das Gesetz von Bernoulli. Wenn Wasser schnell zwischen zwei Flächen fließt, senkt sich der Druck. Im Kanal heißt das: Der Rumpf wird zum Ufer hingezogen: der „Bank Effect“. Die Gesetze der Strömungsmechanik ziehen Schiffe ans Ufer. Die Kräfte bei diesem „Ufer-Effekt“ sind ungleich über die Länge des Schiffs verteilt und können es praktisch herumreißen. Je größer das Schiff, desto größer dieses Problem. Und die „Ever Given“ ist sehr groß.

Havarie grosse

Die Große (gemeinschaftliche) Haverei (auch Havarie grosse, engl. general average, franz. averie grosse oder averie commune, skandinav. haveri, holl. Avarij, ital. u. portug. avaria) regelt im Grundsatz die Verteilung von außergewöhnlichen Kosten zwischen Schiff und Ladung, die durch eine Rettung aus gemeinsamer Gefahr anfallen. Diese Kosten entstehen entweder direkt durch Aufwendungen (z.B. Schlepplohn) oder anlässlich bewusst mit Rettungsmaßnahmen durch die Schiffsführung herbeigeführter oder geduldeter Schäden am Schiff und/oder seiner Ladung (z.B. Seewurf von Decksladung). Der Havarie-grosse liegt der in seinen Grundzügen bis in die Antike zurückreichende Rechtsgedanke der Gefahrengemeinschaft zugrunde, bei der außergewöhnliche Aufwendungen und Opfer zur Abwendung einer allen Beteiligten einer Seereise drohenden Gefahr auch von allen gemeinsam getragen werden müssen und nicht nur vom zufällig unmittelbar Betroffenen allein. Da könnte es für manchen Ladungsbeteiligten sehr unangenehm werden. Denn wer liest schon bei einem Frachtvertrag alles Kleingeduckte oder kann sich unter bestimmten Fachbegriffen was vorstellen. Im Fall der „Ever Given“ könnte es davon leicht über zehntausend Betroffene geben. Aber die weitgehend unbekannte Regel gab es schon in der Antike.

Antikes Seerecht

Die Solidarbestimmung stammte vermutlich aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. und war nach dem griechischen Seeschifffahrtsbrauch der Insel Rhodos benannt. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. fand diese Regelung ihren Eingang in das römische ius gentium, um dort als eine verbindliche Norm im privaten Vertragsrecht dauerhaft Aufnahme zu finden. In den spätklassischen Digesten findet sich ein Fragment unter dem Titel „de lege Rhodia de iactu“, das aus dem Reskript „ex lege Rhodia“ stammt, welches vom Juristen Lucius Volusius Maecianus aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. als kaiserliches Antwortschreiben auf eine seerechtliche Rechtsanfrage bezüglich der Eigentumsverhältnisse an schiffbrüchiger Ladung verfasst wurde. Hier wurde bestimmt, dass die durch Seenot verlorene Ladung im Eigentum des Befrachters bleibt. Besitz und tatsächlicher Gewahrsam an der Sache gingen zwar durch höhere Gewalt (vis maior) unter, nicht so das Eigentum an der Sache.

Die lex Rhodia definierte eine Gefahrengemeinschaft, die sich aus Schiffseigner und den Wareneignern (Befrachter) zusammensetzte. Die finanziellen Risiken, welche sich naturgemäß aus dem Seehandelsverkehr ergaben, sollten damit minimiert und gerecht verteilt werden. Der für die Rettung des Schiffs vorgenommene Seewurf und dadurch entstandene Verlust der Ladung oder die vorgenommene Beschädigung des Schiffs für den Erhalt der Ladung wurden anteilmäßig unter den betroffenen Parteien aufgeteilt. Um die Schadenshöhe beziffern zu können, wurde der Wert der geretteten Ware im Bestimmungshafen veranschlagt, die verlorene oder aufgeopferte Ware hingegen zum Wert im Ausgangshafen. Die Auslösung eines durch Piraterie an Schiff und Ladung verlustig gegangenen Besitzverhältnisse wurden ebenso gemeinschaftlich getragen. Die Kosten für Bergungsmaßnahmen zur Wiedererlangung verlustiger Fracht wurden proportional aufgeteilt.

Neuzeitliches Seerecht

Der solidarische Aspekt der lex Rhodia de iactu bildet bis heute das Grundprinzip einer solidarischen seerechtlichen Risikogemeinschaft. Der Schadensersatz im Rahmen der Haverei wird in der Regel jedoch nicht mehr anteilmäßig reguliert, sondern nach (gutachterlich festgestellten) versicherungsinternen Maßstäben ermittelt.

Der Abschluss einer Havarie grosse ist viel Rechnen und kann leicht ein Jahrzehnt dauern. In jedem Fall ein lohnendes Geschäft für die bestellten Dispacheure, das sind öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige – wie bei jedem, der eine Firmeninsolvenz abwickeln darf.

Der tendenzielle Fall der Profitrate im Seetransport

Größere Schiffstonnagen benötigen für das Aufrechthalten eines 24-Stunden-Betriebes genau so viel seemännisches Minimum-Personal wie viel kleinere Einheiten. Das wird in der Regel auf Vorschlag der Reederei bei dem Flaggenstaat beantragt und heißt dann auch im wahrsten Sinn: Minimum Safe Manning Certificate! Das rechnet sich ganz einfach, wenn man für den Transport von 2500 Containern genau so viel seemännisches Personal benötigt wie bei über zwanzigtausend. Bei einer globalen Ökonomie gibt es einen größeren Zusammenhang beim tendenziellen Verfall der Transportkosten wie der Ausbeutung von Billiglohnländern. Zwar wurde in vielen Ländern schon immer zu Billiglöhnen produziert. Aber bis zu Einführung des Containertransport-Systems waren Transport und Umschlag wesentlich teurer, um das wirklich auszunutzen.

Macht der zunehmende Seetransport Sinn, oder was wird überhaupt alles über die Weltmeere verschifft, befindet sich in diesen ganzen bunten Containern? Gewiss gibt es einen sinnvollen Warenaustausch, von Gütern und Rohstoffen, die nicht in jedem Land verfügbar sind. Aber bei der fortschrittlichen Entwicklung der Produktionskapazitäten, macht es kaum Sinn, z.B. Autos von Fernost nach Europa und umgekehrt zu transportieren oder einen Generator von Siemens nach Indien, zumal dieser Hersteller unter anderem auch dort produziert oder hochsubventionierte EU-Agrarprodukte den afrikanischen Kontinent überschwemmen. Muss man in fernen Ländern ein Becks, Heineken, Warsteiner trinken, wo es durchaus sehr gute lokale Biersorten gibt oder in Hamburg ein Tsingtao? Es ist einfach zu billig geworden, einen Wackeldackel oder Korkenzieher aus Fernost in einen Ein-Euro-Laden zu transportieren, und man muss darin keinen höheren Sinn sehen.

Kleines Fazit und Risikoabwägungen

Größere Schifftonnagen gleich größeres Risiko und unabsehbare Folgekosten – bei den Profi-Bergern ist das schon Erkenntnis. Die Bergungskosten des Passagierdampfers „Costa Concordia“ überstieg um ein Vielfaches den Wert des Schiffes. Das war aber nur eine mittlere Größe, denn auch in dieser Branche wuchsen die Passagierkapazitäten und Schiffsgrößen unheimlich an, nach dem gleichen Prinzip, mehr Passagiere pro Schiffspersonal.

Andere vorstellbare Gefahren, zum Beispiel durch terroristische Anschläge beim Befahren der weltweiten Nadelöhre, kamen bisher kaum vor. Aber die Pandemie hat dazu geführt, das hunderttausende Seeleute entweder lange über ihre vertragliche Regelung an Bord verbleiben müssen, praktisch keinen Landgang mehr haben und andere in unabsehbaren Landurlaub und damit ohne Einkommen verbleiben müssen. Auch die Besatzung der arretierten „Ever Given“ hockt an Bord fest. Es gibt keinen Crewchange oder Landgang. Hinter den Kulissen wird um die Garantie gefeilscht, die Suezkanalbehörden verlangen nahezu eine Milliarde Dollar.

Der ISPS Code

(International Ship and Port Facility Security Code, Internationaler Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen)

Auslöser für die Schaffung des Regelwerks waren die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York sowie Anschläge auf Schiffe wie auf das Marineschiff „USS Cole“ im Jahre 2000 und den Öltanker „Limburg“ im Oktober 2002. Der ISPS-Code wurde am 12. Dezember 2002 unter der Federführung der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) vereinbart und als Ergänzung des Internationalen Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS-Übereinkommen) implementiert. In der Europäischen Union wurde der ISPS-Code durch eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates am 31. März 2004 umgesetzt. Dabei wurden die Regelungen, die eigentlich nur für internationale Schiffe gelten sollten, auch auf den Schiffsverkehr innerhalb der Europäischen Union und seiner Mitgliedsstaaten ausgeweitet.

Abb. (PDF): seerouten

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